Spiritualität im Christentum

von Gerald Kruhöffer 

 

M. Künne, G. Kruhöffer, H. Schultze (Hg.): Spiritualität der Weltreligionen, Reihe Schwerpunkte, Loccum 1996, 8,00 €
Der nachstehende Beitrag ist ein Auszug aus:

Spiritualität der Weltreligionen
Andere Religionen zu verstehen, vorgefasste Meinungen zu überprüfen und wahrzunehmen, wie Gläubige ihre eigene Religion verstehen, wird eine zunehmend wichtige Aufgabe.
Im vorliegenden Band werden drei große Weltreligionen jeweils von einem prominenten Vertreter dargestellt. Zwei weitere Religionen werden durch fachkundige christliche Autoren beschrieben. Im Anschluss an die jeweilige Darstellung finden sich als Anregung für den Unterricht verschiedene Texte und Bilder sowie didaktische Überlegungen und methodische Vorschläge.”


Die geistliche Dimension des Christentums– Einheit und Vielfalt– Chance und Herausforderung der Christenheit

Der Glaube an den einen Gott

Das Christentum hat sein Wurzeln in der Religion Israels, für die der Glaube an den einen Gott charakteristisch ist. Dieser Glaube kommt bereits in den frühen Traditionen Israels zum Ausdruck, so z.B. in der Offenbarung des Jahwe-Namens bei der Berufung des Mose (vgl. 2. Mose 3, 1 3f), wie bei dem für die Glaubensgeschichte Israels grundlegenden Ereignis der Errettung am Meer (vgl. 2. Mose 13 und 14). Programmatisch formuliert das 1. Gebot im Dekalog: “Ich bin Jahwe, dein Gott, der ich dich aus Ägypten aus der Knechtschaft geführt habe, du sollst keine anderen Götter haben neben mir” (2. Mose 20, 2f). Im Vergleich zu anderen Religionen und Kulten stellt dieses Bekenntnis religionsgeschichtlich eine Besonderheit dar. Allerdings war während der Glaubensgeschichte Israels dieses Gebot immer wieder umstritten. So betonen vor allem die Propheten die Botschaft von dem einen Gott, z.B. der zur Zeit des Exils lebende Prophet Deuterojesaja: “So spricht der Herr: Ich bin der Erste und ich bin der Letzte, und außer mir ist kein Gott” (Jesaja 44,6).

Die Gotteserfahrungen der Gemeinde Israels werden von der neutestamentlichen Botschaft vorausgesetzt. So betonen die Evangelien, dass Jesus in einzigartiger Vollmacht die Nähe Gottes verkündigt und lebt: “Der Herr unser Gott ist der Herr allein” (Markus 12,29). Bei der Ausbreitung des Christentums vollzieht sich die Begegnung mit den polytheistischen Vorstellungen der hellenistischen Welt. Der Gedanke des Monotheismus war bereits durch das hellenistische Judentum verbreitet. Zugleich hatte sich im griechisch-hellenistischen Denken ein philosophisch reflektierter Monotheismus herausgebildet. An diese Vorstellungen konnten die christlichen Missionare anknüpfen. So geht Paulus davon aus, dass die Menschen die Möglichkeit haben, Gott aus der Welt zu erkennen. Faktisch aber kommen sie nicht zu dieser Erkenntnis, sondern verehren das Geschöpf anstelle des Schöpfers. Deshalb betont Paulus: “Wir wissen, es gibt keinerlei Götzen auf der Welt. Es gibt keinen Gott außer dem Einzigen” (1. Korinther 8,4).

 

Der Schöpfer und die Schöpfung

Der eine Gott wird in der Bibel als der Schöpfer der Welt bezeugt, als Ursprung alles Seins und Grund des Lebens. Davon sprechen die Schöpfungstexte der Genesis (1. Mose 1 u. 2); das Bekenntnis zum Schöpfer wird in vielen Psalmen besungen (z.B. Psalm 8, 19, 104), und es spielt eine wichtige Rolle beim Propheten Deuterojesaja (Jesaja 40-55). Für das Verständnis des Menschen als Geschöpf Gottes sind die Aussagen grundlegend: “Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau. Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und macht sie euch untertan..” (1. Mose 1, 27f). Die ihm gegebene Ebenbildlichkeit soll der Mensch in der Wahrnehmung des Herrschaftsauftrages zur Geltung bringen, das heißt in Verantwortung vor Gott dem Schöpfer und zum Wohl der Schöpfung.

 

Der Mensch im Widerspruch

Die Bibel beschreibt sehr realistisch die Situation des Menschen, der im Widerspruch zu seiner Bestimmung lebt (dies bringt der heute zumeist mißverständlich gewordene Begriff der “Sünde” zum Ausdruck). Gemeint ist die Abwendung der Menschen von Gott, die als Grund für alle Störung der menschlichen Gemeinschaft angesehen wird. Dabei widerspricht es dem biblischen Denken, dass von Anfang an ein gutes und ein böses Prinzip, etwa Gott und der Teufel nebeneinander bestehen. Dies wird auch in dem für diesen Zusammenhang grundlegenden Text 1. Mose 3 nicht ausgesagt. Vielmehr wird – mit der Gestalt der Schlange – lediglich zum Ausdruck gebracht, dass das Böse gleichsam von außen an den Menschen herantritt, der Mensch aber selbst es ist, der in das Böse einwilligt. Damit wird keine Erklärung des Bösen gegeben, keine Ursache genannt, auf die es sich zurückführen lässt. Das Geheimnis des Bösen bleibt vielmehr in seiner Unbegreiflichkeit stehen. Der Mensch hat Freiheit, er kann sich von Gott trennen und dem Bösen zuwenden.

In späterer Zeit bilden sich im Zusammenhang mit den Vorstellungen von Engeln und Dämonen die Anschauungen vom Teufel oder Satan weiter aus. Er gilt in manchen Traditionen als Gegner Gottes, der einst von Gott abgefallen ist. Das Neue Testament jedoch nimmt diese Lehre nicht auf. Für die neutestamentlichen Schriften ist wichtig: das Böse, das Menschen tun, ist durchaus eine überpersönliche Macht, die über Menschen herrscht. Die Macht des Bösen aber ist durch Jesus Christus bereits gebrochen. Sie ist allerdings noch nicht endgültig überwunden. Paulus hat die menschliche Situation in ihrer Widersprüchlichkeit besonders tief reflektiert, wie es etwa in dem Wort zum Ausdruck kommt: “Denn das Gute, das ich will,das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich” (Römer 7, 19). Eine Lehre von der – biologisch verstandenen – Erbsünde findet sich bei Paulus nicht. Er betont vielmehr ausdrücklich die Verantwortung eines jeden Menschen (vgl. Römer 5, 12). Allerdings findet sich der Mensch immer schon in einer Situation der Gottesferne vor, in der die Macht des Bösen herrscht.

Die Botschaft von dem einen Gott, der als der Schöpfer der Welt geglaubt wird, verbindet Judentum, Christentum und Islam. Diese Gemeinsamkeit der drei großen “prophetischen Religionen” gilt es zu beachten, ohne die jeweils besonderen Ausprägungen zu übersehen. Dabei stehen aufgrund der gemeinsamen biblischen Tradition Judentum und Christentum in einer besonderen Nähe zueinander.

 

Jesus Christus

Für das Christentum vollzieht sich die zentrale Offenbarung Gottes in einem geschichtlichen Ereignis, nämlich in dem Menschen Jesus von Nazareth, der als der Christus bezeugt und geglaubt wird. Die Gottesoffenbarung ist damit an einen konkreten Menschen gebunden, der zu einer bestimmten geschichtlichen Zeit gelebt und Anteil an den Realitäten des menschlichen Lebens hat. Das Wissen über Jesus von Nazareth hat damit zugleich Anteil an der Relativität aller historischen Erkenntnis. Dennoch lassen sich, wie eine verantwortungsbewußt gehandhabte Geschichtswissenschaft gezeigt hat, aus den Quellen, also aus den Evangelien, Grundzüge der Botschaft und des Wirkens Jesu erkennen. Im Mittelpunkt seiner Botschaft steht die Verkündigung von der Nähe der Herrschaft Gottes. Das Reich Gottes ist zukünftig. Sein Kommen steht nahe bevor. Zugleich aber ist es schon gegenwärtig: “Das Reich Gottes ist mitten unter euch” (Lukas 17, 21). In den Worten und Taten Jesu bricht das Reich Gottes schon jetzt an. In vielfältiger Form kommt die Botschaft von der Herrschaft oder dem Reich Gottes in den Gleichnissen zum Ausdruck. Im Horizont der Herrschaft Gottes sind auch die ethischen Weisungen Jesu zu verstehen. Die Intention aller Gebote kommt in dem Doppelgebot der Liebe zu Gott und zum Nächsten zum Ausdruck (Matth. 22, 37-39 par.). Die Worte der Bergpredigt machen darauf aufmerksam, dass das Böse nicht erst im Tun der Menschen wirksam wird, sondern bereits im Herzen des Menschen seinen Ursprung hat. Indem Menschen sich in ihrem Herzen von der Güte Gottes bestimmen lassen, verwirklicht sich die Liebe, die auch über Unterschiede und Gegensätze hinweg auf andere gerichtet ist (vgl. Matth. 5, 21-48).

Die Botschaft vom Reich Gottes wird durch das Verhalten Jesu bekräftigt, einmal durch die Heilungen, bei denen sich Jesus den leidenden Menschen in ihrer Not zuwendet. Zum anderen ist das Verhalten Jesu gegenüber ausgestoßenen und verachteten Menschen zu nennen, wie z.B. die Mahlgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern (z.B. Markus 2, 13-17 par.) Da die Gemeinschaft des Mahles Bild für das Freudenmahl im Reiches Gottes ist, wird in ihrem Vollzug deutlich, dass Gott den schuldigen und ausgestoßenen Menschen nahekommt, und sie seine vorbehaltlos vergebende Liebe erfahren.

In seiner Verkündigung und in seinem Verhalten erschließt Jesus die Nähe Gottes und führt Menschen auch über Unterschiede hinweg zusammen. Mit alledem verkündigt er nicht eine Lehre, die von seiner Person ablösbar ist; die Nähe der Herrschaft Gottes ist vielmehr an seine Person gebunden, so dass er selbst “das Gleichnis Gottes” genannt werden kann (E. Schweizer). Die Bedeutung der Person Jesu bringen die Evangelien in verschiedener Form zum Ausdruck: Jesus ist vom Geist Gottes bestimmt (Markus 1, 10 par.). In den Geburtsgeschichten des Matthäus- und Lukasevangeliums (vgl. Matth. 1-2, Lukas 1-2). wird darüber hinaus deutlich: Bereits mit der Geburt Jesu wird die rettende Zuwendung Gottes zur Welt offenbar. Im Prolog des Johannesevangeliums heißt es: “Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit” (Joh. 1,14). Auf dem Konzil von Chalkedon im Jahre 451 wird das Geheimnis der Person Jesu in den Worten umschrieben “Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch.” In den Sprach- und Denkformen der damaligen Zeit wird damit die Besonderheit der Person Jesu ausgesagt: Er steht ganz auf seiten der Menschen und er steht zugleich ganz auf seiten Gottes. Dieses christologische Bekenntnis wurde zur Grundlage der Kirchenlehre und der theologischen Interpretation. Das Weihnachtsfest vergegenwärtigt – seiner Intention nach – das Geheimnis der Menschwerdung Gottes sowie die Bedeutung der Person Jesu für seine Botschaft und sein Verhalten insgesamt.

 

Kreuz und Auferstehung

Besondere Bedeutung für die Offenbarung Gottes in der Geschichte Jesu hat das Ziel dieser Geschichte, nämlich sein Tod am Kreuz und seine Auferweckung (Ostern). In den Überlieferungen von der Passion kommt in eindringlicher Weise die Tiefe des Leidens Jesu zum Ausdruck. Er ist von den Menschen, sogar von den ihm vertrauten Freunden verlassen und erfährt in einer besonderen Tiefe die Ferne und Verborgenheit Gottes. Zugleich aber hält er im Vertrauen an Gott fest (vgl. Markus 15,34). Für den Evangelisten Markus ist dabei deutlich: Der einzigartige Auftrag Gottes, den Jesus an der Welt wahrnimmt, wird durch seinen Tod nicht widerlegt, vielmehr wird er gerade am Kreuz als der Sohn Gottes offenbar (vgl. Markus 15,39).

Die früheste Überlieferung von der Auferstehung Jesu findet sich 1. Korinther 15, 3-5, wo Paulus eine frühchristliche Bekenntnisformel wiedergibt und seinerseits interpretiert: Christus ist gestorben und begraben. Er ist auferweckt und erschienen. Diese Botschaft der Jünger gründet sich auf ein unerwartetes Geschehen, in dem sie zu der Gewissheit kommen: Der Gekreuzigte ist der lebendige Herr; er ist “auferweckt”. In dieser passivischen Formulierung wird das schöpferische Tun Gottes betont und zugleich das Mißverständnis abgewehrt, als wäre Jesus ins irdische Leben zurückgekehrt. Er ist auferweckt, d.h. in die Herrlichkeit Gottes aufgenommen. Dieses Geschehen entzieht sich der Beobachtung der Menschen. Das Erscheinen des lebendigen Christus vollzieht sich deshalb nicht vor neutralen Beobachtern; der Auferweckte begegnet vielmehr denen, die bereits von seiner Botschaft angesprochen waren, oder denen, die in dieser Begegnung zum Glauben kommen (Paulus). Diese Begegnung erschließt die grundlegende Gewissheit, dass Gott sich zu dem gekreuzigten Jesus bekannt und damit die Wahrheit seiner Botschaft wie seines gesamten Wirkens bestätigt hat.

 

Gerechtigkeit – Versöhnung

In vielfältiger Weise wird das Geschehen von Kreuz und Auferstehung im Neuen Testament ausgelegt. Grundlegend für Paulus ist die Aussage: Gott will “seine Gerechtigkeit erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus” (Röm. 3, 26). Gerechtigkeit – in der biblischen Sprache ein gemeinschaftsbezogener Begriff – bedeutet, dass Gott sich dem Menschen zuwendet. Er sucht Gemeinschaft auch mit dem, der sich von ihm getrennt hat. Und diese Zuwendung zum Menschen wird in Jesus Christus offenbar. Die “Gerechtigkeit Gottes” ist also seine Treue und Barmherzigkeit gegenüber den Menschen, die in Jesus Christus, und zwar gerade in seinem Kreuz und seiner Auferweckung wirksam wird. Paulus kann dies auch mit dem Wort von der Versöhnung zum Ausdruck bringen: “Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber” (2. Korinther 5,19). Anders als es oft in der späteren Überlieferung behauptet wird, muss Gott nicht versöhnt werden, um vergeben zu können. Vielmehr geht die versöhnende Liebe von ihm aus. Seine versöhnende Liebe stellt die zerbrochene Gemeinschaft wieder her. Die Botschaft vom Kreuz kann als Ärgernis und Torheit erscheinen, weil sie die Maßstäbe der Welt infrage stellt. Demgegenüber betont Paulus: Wir predigen “Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit” (1. Kor. 1,24). Das Geschehen von Kreuz und Auferweckung Jesu verweist somit auf die Erfahrung der Krise, der Gottesferne und Gottesfeindschaft. Zugleich aber geht es um die Überwindung der Macht des Bösen durch die Versöhnung und Vergebung der Schuld. Es geht um die Überwindung der Macht des Todes, den Sieg des Lebens und die begründete Hoffnung. Das Ziel der Geschichte Jesu wird im Begehen der Passion vor allem des Karfreitags und in der Feier von Ostern vergegenwärtigt. Kreuz und Auferweckung Jesu sind nicht voneinander zu trennen und bilden für christliches Verständnis die Grundlage der Gotteserfahrung.

Der in den letzten Jahren intensiver gewordene jüdisch-christliche Dialog hat sich der Bedeutung Jesu zugewandt und damit auch der Messiasfrage. Gläubige Juden erwarten das Kommen des Messias am Ende der Zeiten. Christen bekennen Jesus von Nazareth als den Messias, den Christus. Ihr Glaube gründet sich auf Jesus den Gekreuzigten und Auferweckten, und zugleich erwarten sie die endgültige Erfüllung des Reiches Gottes in der Zukunft. Die Bedeutung Jesu und die Messiasfrage werden für den weiteren jüdisch-christlichen Dialog von großer Bedeutung sein.

Im Koran sind verschiedene Traditionen über Jesus aufgenommen. Zugleich gibt es eine kritische Auseinandersetzung über die Bedeutung Jesu für den Glauben. Vor allem die Aussage von Jesus dem Sohn Gottes wird kritisiert (vgl. Sure 4, 171; 19, 35). Für das gegenseitige Verständnis zwischen Christentum und Islam ist es wichtig darauf zu achten, dass diese biologische Auffassung ein Mißverständnis darstellt. “Sohn Gottes” im biblischen Verständnis bedeutet, dass Jesus in einer einzigartigen Verbundenheit mit Gott lebt und einen einzigartigen Auftrag an die Menschen wahrnimmt.

 

Die Gegenwart des göttlichen Geistes

Schon das Alte Testament bezeugt, dass Gott mit seiner schöpferischen Kraft die ganze Welt erfüllt, anders gesagt: dass sein Geist in der Welt wirksam ist. Das zugrundeliegende hebräische Wort ruah bedeutet ursprünglich Atem, Hauch, Wind. Geist bezeichnet also die lebendige göttliche Kraft, die alle Geschöpfe erfüllt. In besonderer Weise sprechen die biblischen Schriften vom Wirken des göttlichen Geistes in der Geschichte. Von seinem Wirken erwarten die Propheten die Erneuerung des menschlichen Lebens und Tuns: “Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben” (Hes. 36, 26). An diese Verheißungen knüpft die urchristliche Botschaft an, wenn sie das Wirken Jesu mit dem Kommen des Geistes verbindet. So betont Paulus den Zusammenhang zwischen Jesus Christus und dem Geist: “Denn das Gesetz des Geistes, der lebendig macht in Jesus Christus hat dich freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes” (Römer 8, 2). Dieser Geist befreit aus der Situation der Gottesferne und Selbstsucht und will so das Leben der Gemeinde wie der einzelnen Christen bestimmen. Nach der Überlieferung der Apostelgeschichte des Lukas wird das Kommen des Geistes mit einem besonderen Ereignis, nämlich dem Pfingstfest verbunden. In Apostelgeschichte 2 wird erzählt, wie in dem Geschehen von Pfingsten sich die Verheißung der Propheten Israels erfüllt. Dieses Wirken des Geistes ist auf das Christusgeschehen bezogen, da seit Pfingsten die Botschaft von Jesus Christus öffentlich verkündigt wird. Diese Botschaft will Menschen überzeugen, und indem ihr Wort Glauben weckt, wird die Kraft des göttlichen Geistes wirksam.

In einigen Bekenntnisaussagen des Neuen Testamentes finden sich trinitarische Formeln. So soll die Taufe “im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes” vollzogen werden (Matth. 28,19; vgl. außerdem 1. Kor. 12, 4-6; 2. Kor. 13,13). Im 4. Jahrhundert wurde dann das trinitarische Dogma formuliert. Zunächst erklärt die Synode von Nicäa im Jahre 325: Jesus ist ”wesenseins” mit dem Vater. Dieses Bekenntnis wurde dann durch das Konzil von Konstantinopel im Jahre 381 ergänzt, das u.a. folgende Aussagen über den Heiligen Geist enthält: “Und an den Heiligen Geist, den Herrn und Lebensspender, der vom Vater (und vom Sohn) ausgeht. Er wird mit dem Vater und dem Sohn zugleich angebetet und verherrlicht. Er hat gesprochen durch die Propheten”. Damit ist das Bekenntnis zur Dreieinigkeit Gottes ausgesprochen: Das eine göttliche Wesen existiert in drei Personen. Dabei handelt es sich nicht um drei Götter, vielmehr wird der Glaube an den einen Gott nachdrücklich festgehalten und ausgesagt, dass er sich als der Vater, der Sohn und der Heilige Geist offenbart, und so sich selbst, das Geheimnis seines göttlichen Wesens erschließt. In der Auseinandersetzung mit dem neuzeitlichen Denken wie im Dialog mit dem Judentum und dem Islam ist zu beachten, dass die Trinitätslehre nicht mit dem Monotheismus widerspricht. Ihr Anliegen besteht vielmehr darin, die Einheit Gottes in seiner Vielfalt zum Ausdruck zu bringen.

 

Gemeinde, Wort und Sakrament

Indem die Botschaft von Jesus Christus verkündigt und die Wirksamkeit des göttlichen Geistes als gegenwärtig erfahren wird, konstituiert sich die christliche Gemeinde. Die Gemeinde lebt nicht aus sich selbst, sondern sie ist auf die Botschaft von Jesus Christus gegründet. Sehr deutlich formuliert das Paulus: “Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber..und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt. Denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lassteuch versöhnen mit Gott!” (2. Kor. 5,19f). Gott hat die Welt mit sich versöhnt. In diesem Geschehen hat die Verkündigung ihren Ursprung. Sie vergegenwärtigt das Christusgeschehen und in diesem Sinne kann der Apostel die Bitte aussprechen: “Lassteuch versöhnen mit Gott”.

Dieses Geschehen bildet die Mitte der gottesdienstlichen Versammlungen. Es ist zugleich die Grundlage der Taufe und der Feier des Abendmahls. Nach Ostern und Pfingsten wird die Taufe als Aufnahme in die christliche Gemeinde praktiziert (vgl. Apostelgeschichte 2, 38). Im weiteren Zusammenhang nennt Lukas die Elemente, die das Leben der christlichen Gemeinde charakterisieren: die Lehre der Apostel (Verkündigung), die Gemeinschaft, das “Brot-brechen” (= Abendmahl) und das Gebet (vgl. Apostelgeschichte 2, 42). Taufe und Abendmahl sind konstitutiv für die Praxis der urchristlichen Gemeinde. Die Taufe wird dabei auf den Auftrag des auferstandenen Christus zurückgeführt, in der liturgischen Praxis an dem Text Matthäus 28, 18-20 verdeutlicht. Für die Tradition des Abendmahls zitiert Paulus eine frühe Bekenntnisformulierung, die er bereits in der Gemeinde empfangen hat und nun den Gemeindegliedern in Korinth weitergibt – 1. Korinther 11, 23-26, vgl. auch die Überlieferung in den synoptischen Evangelien (Markus 14, 22-25 par.). Da sich die Gemeinde von der Gegenwart des Heiligen Geistes bestimmt weiß, werden auf ihn auch die verschiedenen Gaben zurückgeführt, mit denen die einzelnen Christen in der Gemeinde wirken: “Es sind verschiedene Gaben, aber es ist ein Geist” (1. Korinther 12,4). Die Einzelnen nehmen mit ihren Gaben einen Dienst wahr, der für die Gemeinde insgesamt wichtig ist (vgl. auch Römer 12,3-8; 1. Korinther 12, 12-27).

 

Gebet

In den Psalmen finden sich die Grundformen menschlichen Redens zu Gott – die Klage und das Lob. Die christliche Gemeinde hat sich schon früh die Tradition der Psalmen zu eigen gemacht, ihre Worte aufgegriffen, ihre Sprache in den Gottesdienst übernommen und vor allem auch zur Deutung der Christusgeschichte herangezogen. So vollzieht sich auch im christlichen Sinne das Beten als Klage und Lob, als Dank oder Bitte. Im Neuen Testament nimmt das Vaterunser als das Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte, eine besondere Bedeutung ein (vgl. Matth. 6, 9-13, Lukas 11, 2-4). Dieses Gebet enthält wesentliche Inhalte der Botschaft Jesu, so die ersten drei Bitten mit der Erwartung des kommenden Reiches Gottes. Die übrigen Bitten sprechen die Situation der Menschen direkt an – die Notwendigkeit des “täglichen Brotes”, die Schuld oder die Versuchung. Das Gebet als Hinwendung der Menschen zu Gott kann als die Antwort auf die erfahrene Gegenwart Gottes verstanden werden. In ihm spricht der Mensch vor Gott aus, was ihn bewegt, und bittet zugleich um die Gegenwart Gottes in der konkreten Situation seines Lebens. In einer besonderen Weise hat Paulus diese Zusammenhänge zum Ausdruck gebracht, zumal er um die menschliche Anfechtung weiß: “Desgleichen hilft auch der Geist unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich’s gebührt; sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen” (Römer 8, 26).

 

Ethik

Die 10 Gebote haben die christliche Ethik nachhaltig geprägt und im Laufe der Geschichte bestimmt. Bei den Geboten der “Zweiten Tafel”, die das Verhalten zwischen den Menschen regeln, gibt es eine Reihe von Übereinstimmungen und Entsprechungen mit anderen Religionen und Kulturen. Für das biblische Verständnis ist allerdings charakteristisch, dass alle Gebote begründet sind in dem 1. Gebot, das von der Gottesbeziehung der Menschen spricht. Schon im Alten Testament wird der Versuch unternommen, das Wesentliche der Gebote in kurzer Form zusammenzufassen. An diese Versuche knüpft das Neue Testament an, etwa wenn Jesus auf die Frage, welches das höchste Gebot im Gesetz sei, antwortet: “Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot, das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst” (Matth. 22, 37-39 par.). Diese Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe ist charakteristisch für die Botschaft Jesu. In diesem Doppelgebot kommt die Intention aller Gebote zum Ausdruck. In den Worten, die in der Bergpredigt zusammengestellt sind, verschärft Jesus die überlieferten Gebote. Er macht deutlich, dass das Böse nicht seinen Ursprung im Tun, sondern bereits im Herzen der Menschen hat. Wenn der Mensch sich in seinem Herzen von der Güte Gottes bestimmen lässt, verwirklicht sich die Liebe, die auch über Unterschiede und Gegensätze hinweg auf den anderen gerichtet ist (vgl. die sogen. Antithesen der Bergpredigt Matth. 5, 21-48). Für die urchristliche Verkündigung ist nun wesentlich, wie die ethischen Weisungen in dem Christusgeschehen und in der Christusbotschaft begründet werden. So kann Paulus formulieren: in Jesus Christus gilt allein “der Glaube, der in der Liebe tätig ist” (Gal. 5,6). Und der Apostel warnt: “Ihr seid ja doch zur Freiheit berufen, Brüder, nur: sorgt dafür, dass die Freiheit nicht eurer Selbstsucht die Bahn freigibt, sondern dienet einander in der Liebe” (Gal. 5,13). Die Freiheit der Christen ist in Jesus Christus begründet. Sie verwirklicht sich im Glauben, also im Vertrauen zu Gott. Der Glaube aber wird in der Liebe tätig. Denn die Freiheit darf nicht mit Willkür verwechselt werden. Auf diesem Hintergrund bekommt das Gebot seine Bedeutung, nämlich als Maßstab für das Zusammenleben der Menschen. Die Gegenwart des göttlichen Geistes will die Glaubenden gerade dazu befreien, im Geist der Liebe zu leben. Es geht darum, dass Wollen und Tun vom Geist Jesu Christi bestimmt werden. Der Zusammenhang von Christusverkündigung und Gebot macht deutlich, dass Christsein mehr ist als Ethik, dass aber in diesem Zusammenhang die ethischen Maßstäbe aber gerade in ihrer befreienden und wahrhaft humanen Dimension deutlich werden.

 

Eschatologie

Jesus verkündigte das Reich Gottes, das nahe herbeigekommen ist, und das zugleich in seinem Wirken bereits anbricht. Schon im Alten Testament wurde Gottes Wirken als Verheißung erfahren, als eine Verheißung, die die gegenwärtige Situation übersteigt und die Hoffnung auf die Zukunft freisetzt. Jesus wie auch Paulus rechneten mit dem baldigen Kommen des Reiches Gottes. Wie spätere Schriften des Neuen Testamentes zeigen (z.B. das Lukas-Evangelium, das Johannes-Evangelium oder einige der späteren Briefe) trat diese Erwartung im Laufe der Zeit allmählich zurück. Die christliche Zukunftserwartung wurde damit aber nicht grundsätzlich infrage gestellt. Denn nach der Verkündigung Jesu war die Frage nach dem Zeitpunkt für das endgültige Kommen des Reiches bereits überholt, da die Gegenwart des Reiches Gottes schon in seinem Wirken erfahren wurde. So betont auch Paulus, dass das qualitativ Neue, die Wirklichkeit Gottes, schon inmitten der alten Welt von den Glaubenden erfahren wird. “Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden” (2. Kor. 5,17). Zugleich verkündigt Paulus, dass die Geschichte auf ein Ziel zugeht, auf die endgültige Herrschaft Gottes, in der alle Gott-feindlichen Mächte überwunden sein werden (vgl. 1. Kor. 15). Noch deutlicher akzentuiert das Johannes-Evangelium die Gegenwart des Heils. Jesus sagt: “Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen” (Joh. 5, 24). Grundlegend für die neutestamentliche Botschaft ist die Gewissheit von der Auferweckung Jesu. In diesem Geschehen ist die lebensschaffende Kraft Gottes offenbar geworden und damit die Hoffnung auf die Auferweckung der Toten begründet – verstanden als die Schöpfung neuen Lebens, das die Macht des Todes endgültig überwunden hat.

Die Vielfalt geschichtlicher Entwicklungen und konfessioneller Ausprägungen des Christentums ist in angemessener Form schwer zu beschreiben. Hans Martin Barth hat im Blick auf Geschichte und Gegenwart sechs verschiedene Formen christlicher Spiritualität unterschieden, die im folgenden kurz skizziert werden sollen:

  1. Orthodoxe Spiritualität
  2. Sie hat ihre Grundlage in den altkirchlichen Dogmen. Gerade das, was für die Kirche der ersten Jahrhunderte zentral war, gewinnt in der gesamten Kirche wie im Leben der einzelnen Gläubigen seine Bedeutung. Besondere Relevanz haben dabei der Vollzug der Liturgie und die Sakramente, die “Mysterien” genannt werden.1
    Römische-katholische SpiritualitätZentrale Bedeutung haben die Sakramente, insbesondere die Eucharistie. Die Wortverkündigung, die in früherer Zeit oft zurücktrat, hat in den letzten Jahrzehnten in verstärkten Maße an Bedeutung gewonnen. Die Sakramente markieren “die Grundform christlicher Existenz: Gemeinschaft, Empfangen und Sich-Hingeben, eschatologische Erwartung”. Auf diesem Hintergrund wird die Bedeutung der Ethik und der Sendung der Christen in die Welt nachhaltig betont. Eine große Bedeutung kommt dem kirchlichen Amt zu (Papst, Bischöfe, Priester). Die Marienverehrung hat in den einzelnen Traditionen unterschiedliches Gewicht.
  3. Evangelische Spiritualität

Sie umfasst eine große Bandbreite: Vom hochkirchlichen Flügel der anglikanischen Kirche bis hin zu den Freikirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind. Als gemeinsame Momente können die Bedeutung der Christusverkündigung – der Zusammenhang von Wort und Glaube – angesehen werden, wie die Verbindung von Freiheit und Dienst im Blick auf den Gottesdienst im Alltag der Welt.
 

Vor allem im Blick auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnten lassen sich weiterhin folgende Formen unterscheiden:

  1. Charismatische Spiritualität
    Hinter ihr steht die Erfahrung der Pfingstkirchen und zugleich die Bewegung, die in den letzten Jahrzehnten auf die ihrem Verständnis nach vernachlässigten Dimensionen des Heiligen Geistes verweist, zum Beispiel die “charismatische Gemeinde – Erneuerung”.
  2. Spiritualität der Befreiung
    Hier geht es um Erfahrungen aus Lateinamerika, begründet in der Tiefe des sozialen und psychischen Elends der Armen und dem Verlangen nach Befreiung.
  3. Weibliche Spiritualität
  4. Sie umfasst eine unterschiedliche Vielfalt von Strömungen. Wesentlich ist die Erfahrung von Frauen von “dem Bewusstsein ihrer Entfremdung und dem entschlossenen Protest dagegen” 2.

Für die Begegnung zwischen den verschiedenen konfessionellen Traditionen wie insbesondere für den Dialog zwischen verschiedenen Religionen ist ein hohes Maß an Bereitschaft zum Verstehen der Anderen und zu gegenseitiger Offenheit notwendig. Zugleich kommt es in einem solchen Dialog und den damit verbundenen Begegnungen darauf an, die in der eigenen Tradition begründete Überzeugung zu vertreten und im Gespräch zur Geltung zu bringen. Für ein evangelisches Verständnis mögen dafür die Grunderfahrungen stehen, die der Apostel Paulus zum Ausdruck bringt, die in der Reformation eine besondere Bedeutung gewonnen haben und die heute gerade im Blick auf den ökumenischen und den interreligiösen Dialog von besonderer Wichtigkeit sind: “Zu Freiheit hat uns Christus befreit, so steht nun fest und Lassteuch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!” “Denn in Jesus Christus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist” (Gal. 5, 1.6).


Anmerkungen

  1. H.-M. Barth, Spiritualität; Ökumenische Studienhefte 2, Göttingen 1993, S. 33
  2. a.a.O., S. 79