Kirchenpädagogik – eine moderne Form der Mission?*

von Maren Lehmann

 

(* gekürzte Fassung des Hauptreferats auf dem 5. Treffpunkt Kirchenpädagogik im RPI Loccum, 17. September 2005; der Vortragsstil wurde beibehalten)

Ich könnte angesichts des Themas einer Didaktik folgen, die in der Kybernetik entwickelt worden ist, mich nämlich ausschließlich auf Gespräche einlassen und auf meinen Vortragsmonolog zu verzichten - große Kybernetiker wie Ranulph Glanville jedenfalls eröffnen ihre Workshops mit Fragen. Auf diese Weise nehmen sie ein Problem ernst, das sich für Kirchenpädagogen als Kirchenführer immer stellt: dass nämlich die Belehrten die Lehrenden belehren, dass die Geführten die Führer führen. Die wichtigsten, ja: die einzigen Kirchenführer in diesem Sinne wären die Besucher, die Klientel, das Publikum der Kirchenführungen. Denn an ihrem Zugang zur Kirche und zum Kirchenraum muss eine Kirchenführung sich ja orientieren, wenn sie verstanden werden will, und das in der Regel ohne diesen Zugang zu kennen.

Sie werden bemerkt haben, dass ich dieser Möglichkeit viel abgewinnen kann, und sie wird tatsächlich heute Abend eine wichtige Rolle spielen. Das trifft auch zu für eine weitere Möglichkeit, mich dem Thema zu nähern: die Thematisierung von Pädagogik als Mission nämlich. Gerade dies hat ja eine lange und keineswegs nur heitere Tradition, seit es im 19. Jahrhundert entworfen wurde. Sicherlich konnten und sollten die pädagogischen Bemühungen die gewaltsamen Eroberungen ersetzen (so sehr sie zugleich in deren Windschatten geschahen). Aber aus soziologischer Sicht ist das unmittelbare Verhältnis zwischen Erziehung und Religion, zwischen Lernen und Glauben prekär. Ich selbst erwarte, kurz gesagt, eher nicht, dass man durch Lernen direkt zum Glauben kommt (und vice versa auch nicht). Vor allem aber bereiten mir Thematisierungen der Form "etwas (Pädagogik) als etwas (Mission)" immer Schwierigkeiten. Das liegt nicht nur daran, dass man auf diese Weise in ein Metapherngestrick gerät, das mehr als verfänglich ist. Es liegt auch nicht nur daran, dass es zu Analogieschlüssen verführt, die wissenschaftlich leicht zu Handicaps werden. Vor allem liegt es daran, dass man einerseits einen problematischen, nicht-selbstverständlichen Begriff (hier: Pädagogik) durch einen gut eingeführten, vermeintlich unproblematischen, selbstverständlichen Begriff (hier: Mission) ersetzt und auf diese Weise zu verdeutlichen meint. Dann bemerkt man in der Regel, dass man sich durch diesen Trick eine ganze Reihe an Hypotheken einhandelt, die man dann wieder loszuwerden versucht, indem man die Richtung wechselt; jetzt wird also in unserem Falle Mission als Pädagogik verstanden (und die Hypothek bleibt im Dunkeln).

Der gangbarste Weg in solchen Fällen scheint mir immer, mit eingeführten Begriffen souverän zu arbeiten - das heißt: ihre Hypotheken auf sich zu nehmen. Denn die Breite an Verständnismöglichkeiten solcher Begriffe wie Kirche oder Mission erlaubt schließlich auch eine große Breite an Assoziations- und damit Anknüpfungschancen. Ich würde also am Begriff der Mission (bzw. der missionarischen Kirche) festhalten und sagen: Kirchenpädagogik ist (eine Form von) Kirche, und daher ist sie auch immer (eine Form von) Mission. Denn jede Form von Kirche ist in diesem Sinne missionarisch. Die Frage wäre dann, wie sich die einzelnen Formen unterscheiden. Und eine weitere Frage wäre, ob Kirchengebäude, wenn sie als Räume der Kirche verstanden werden, nicht immer auch Missionsräume sind - so dass jede Form von Begegnung und Bewegung in solchen Gebäuden als missionarische Kommunikation verstanden werden kann: nicht nur Gottesdienste, sondern auch Konzerte, auch touristische Führungen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Kirchenpädagogik auf unmittelbare Erziehung zum Glauben ja tatsächlich verzichtet. Sie setzt der Religion die Kunst gegenüber und vermittelt dieses Verhältnis durch Lehre und Erziehung. Immerhin kennt die Kunst Evidenzen und Räusche, und sie teilt das mit dem Glauben. Immerhin erlaubt die Kunst höchstindividuelle, sehr persönliche Rezeptionen, und auch das teilt sie (zumindest im evangelisch-reformatorischen Verständnis) mit dem Glauben. Immerhin fordert die Kunst in ihren verschiedenen Epochen und in ihren verschiedenen Genres, die ja in Kirchenräumen immer simultan zu erleben sind - Malerei, Plastik, angewandte (Handwerks-)Kunst im Bereich von Textil, Glas, Metall, Holz, Musik, Literatur, manchmal auch Sprechtheater und Tanz -, zum Vergleich auf, und das teilt sie wiederum mit der Religion, denn ein ‚religiöses Gefühl' verweist ja zunächst nicht auf ein bestimmtes Bekenntnis, sondern öffnet das individuelle Erleben in alle religiösen Richtungen. (Zahlreiche empirische Forschungen, die oft gar nicht wissen, dass sie an Schleiermacher anschließen, haben das erwiesen; und mehr noch: sie haben auch gezeigt, dass das gerade für konfessionell Gebundene gilt.) Sicherlich ließen sich noch sehr viel mehr solcher Parallelen finden; wir können das vielleicht in der Diskussion nachher noch einmal ansprechen.

Interessant ist aber auch, dass die Pädagogik mit diesen Exaltationen, diesen Höchstpersönlichkeiten, diesen bunten Gleichzeitigkeiten traditionell eher schlecht umgehen kann. Man kann das dramatisch formulieren und sagen: ein Pädagoge nimmt (in unserem Fall:) den Orientierungslosen an die Hand und führt ihn durch unbekanntes Gebiet; er nimmt damit die Angst, er nimmt aber vielleicht auch die Möglichkeit, sich selbst zu orientieren. Das ist die große Schwierigkeit jeder Erziehung und jeder Lehre. Hinzu kommt, dass zwar Neugier geweckt und Kenntnis erfragt werden soll, dass aber gerade die Neugierigen und Kenntnisreichen auch als störend empfunden werden können, weil sie die Führung als Gängelung empfinden könnten, der sie durch Unterbrechungen (Fragen, Provokationen, auch Spott) zu entkommen versuchen - und eben diese Kundgabe von Individualität wird dann zur Störung. Das ist in der Erziehungswissenschaft gut erforscht, und es wird - soweit ich sehe - als unvermeidliches Dilemma aller pädagogischen Bemühungen anerkannt. Exakt dieses Dilemma belastet auch missionarische Bemühungen.

Vor allem aber ist die Pädagogik auf deutliche Rollenasymmetrien angewiesen (am bekanntesten ist das Gegenüber von Lehrer und Schüler). Das teilt sie mit der Kirche, die sich ja gerade hinsichtlich dieser unverzichtbaren Asymmetrien von der allgemeinen Religion unterscheidet und die schließlich auch nur dann von Mission spricht, wenn diese Zuspitzung all-gemeiner religiöser Ergriffenheit zu einem bindenden Bekenntnis beabsichtigt ist. Insofern jede Kommunikation nicht nur einfach ins Allgemeine läuft, sondern zugleich immer auch spezifische Erwartungen bildet, fordert Kommunikation immer zur Anerkenntnis solcher Asymmetrien auf. Die alltäglich überall erfahrbare Auswirkung dieses Umstandes ist, dass das Publikum in allen gesellschaftlichen Bereichen auf professionelle Experten trifft, die einerseits den so wichtigen individuellen Zugang oft überhaupt erst möglich machen, die aber andererseits mit ihren eigenen Interpretationsroutinen diesen Zugang auch formen und regeln - und damit sicherlich häufig verstellen. Wie auch immer: der Begriff Kirchenpädagogik, gerade im Unterschied zu Religionspädagogik, reflektiert diesen Asymmetrieaspekt deutlich, denn er hält am erziehenden, lehrenden, womöglich sogar ‚führenden' und damit auch am missionarischen Anspruch fest. Sie bildet und beschäftigt Experten der lehrenden Verknüpfung von Kunst und Religion. Deshalb würde ich, alles in allem, hinsichtlich des Missionsproblems den Ausdruck ‚Kirchenführung' auch eher vermeiden. Er bezeichnet eine museal-kommerzielle Praxis, die in den touristischen Bereich gehört.

Indem sie die Kunst als Zeichen für Religion, als Hinweis auf kirchliches Leben, als Zeugnis des Glaubens vorstellt, praktiziert Kirchenpädagogik eine Art mittelbare Mission - und diese Mittelbarkeit, dieses Vermitteln von in sich unüberwindlichen Differenzen, ist in der Tat etwas ‚Modernes'. Ich würde, glaube ich, sogar so weit gehen zu behaupten, dass solcherart Mission das Gebäude Kirche als kulturelles Artefakt des Sozialsystems Kirche beschreibt; sie stellt gewissermaßen Immobilie und Interieur als Stigma der Kirche vor: jeder Raum ein "Leibeshöhlchen" Christi, jede Kirche ein Zeugnis des Glaubens vor Gott und den Menschen. Gerade dass die meisten Kirchen heute allenthalben Wunden aufweisen, macht sie in diesem Sinne als Räume der einen Kirche glaubhaft. Wie auch immer: wenn Kirchenpädagogik missionarisch tätig ist, dann geht sie davon aus und vermittelt auch, dass man zwar nicht an dieses Artefakt, aber doch (nur?) durch dieses Artefakt glauben kann - gerade so, wie Mission generell davon ausgeht, dass man zwar nicht an die Kirche, aber doch (nur?) durch die Kirche glauben kann. Dabei kann dann jeder strenge Begriff von Kirche akademischen Debatten vor-behalten bleiben.

In der Gesellschaftstheorie ist solches Darstellen ein Problem des Wahrnehmens, des Verstehens und des Annehmens; daher werde ich im nächsten Abschnitt über Kommunikationsprobleme der modernen Gesellschaft sprechen. Auch der Schritt von der Erfahrung der Kirche als gebautem Raum und Kunst-Container zu der Erfahrung von Kirche als geglaubtem, das heißt: als sozialem Raum ist sozialwissenschaftlich hochinteressant; daher möchte ich anschließend einige Überlegungen zum Raumbegriffs anstellen; besonders interessant scheint mir hier, dass die Verknüpfung von Lokalität und Sozialität im Raum und seinen Artefakten ein Problem des kulturellen Gedächtnisses ist.

Die Verknüpfung von Lokalität und Sozialität, von Raum und Kommunikation macht zu-nächst, so scheint es, gar keine Schwierigkeiten. Denn in der alltäglichen Kommunikation benutzen wir ständig Raummetaphern: wir sprechen etwa von Erfahrungsräumen oder von Spielräumen oder nennen Fristen Zeiträume, wir benutzen aber auch vollkommen selbstverständlich den Ausdruck ‚Inhalt' (gehen also davon aus, dass unsere Mitteilungen Behälter sind) oder den Ausdruck ‚Standpunkt' oder ‚Platz' oder ‚Stelle', und entsprechend gehen wir eben auch ‚in Gespräche hinein' oder ‚aus Stunden heraus' usw. Wir ‚verschieben' den Sinn von etwas, wir ‚werfen etwas ein', wir ‚bewegen etwas', wir beschreiben unser Leben als ‚Laufbahn' oder als Stufenleitern, wir bezeichnen Strategien als ‚Wege', und wir ‚begehen' Feiertage und Feste.

Deshalb meine ich, dass es niemanden überrascht, dass auch Kirchen in diesem Sinne metaphorische Räume sind, die man begehen kann. Wir werden das nachher vielleicht in der Diskussion zur möglichen Parallele von Gottesdienst und Kirchenpädagogik nochmals besprechen können; denn ganz sicher ist, dass das heute alltägliche einstündige Festsitzen eine ziemlich neue - und keine sehr glückliche - Entwicklung in dieser Hinsicht ist. In der Kirche muss man sich bewegen, so wie die Kirche selbst immer in Bewegung ist. Auch dies soll vermutlich der Ausdruck Kirchenführung im Rahmen von Kirchenpädagogik besagen: ‚Setzen Sie sich nicht, folgen Sie mir.'

Die Gedächtnistheorie arbeitet seit der Antike mit solchen metaphorischen Räumen. Sich erinnernd, heißt es, möge man durch ein vorgestelltes Gebäude gehen. Kirchen sind in diesem Sinne geradezu als Lehrstücke gebaut, man möchte fast sagen: in pädagogischer Absicht. Sie sind als Lebensläufe gebaut: die einzelnen Teilräume wie Krypta, Taufkapelle, Chor sind nicht nur mit chronologischen Berichten des Lebens Christi dekoriert, sie sind auch selbst Zeichen dieses Lebenslaufes - und, auch das ist noch immer jedermanns Erfahrung, dieser Lebenslauf ist Grundlage des Kirchenjahres, so dass auch höchstpersönliche, private Erfahrungen mit den einzelnen Räumen verbunden sind. Mir scheint, dass solche Verbindungen auf vergleichsweise unproblematische Weise deutlich machen können, was ich mit der Verknüpfung von Kunst und Glauben meine: die Kirchenpädagogik bietet in der aktuellen Interaktion eine Möglichkeit dieser Verknüpfung, die von jedem Einzelnen außerhalb dieser professionell geleiteten Interaktion nachvollzogen werden kann; denn stets ist es in irgendeiner Hinsicht jedermanns Lebenslauf, der in den christlichen Kirchen dargestellt wird. Im Begehen und Besehen der Kirche kann man vieles vergessen, man ist damit beschäftigt, sich seiner selbst zu erinnern. Wenn das gelingt, dann ist zugleich klar, dass ein Kirchenraum kein Museum ist - und dass man sich auch nicht wie im Museum benehmen muss - und dass die Kunstwerke in Kirchen kein bloßer Schmuck sind - dass also ihre Nichtbeachtung wie erst recht ihre Beschädigung und Zerstörung tatsächlich ein Sakrileg ist, das jedermann aus der Nichtbeachtung und Verletzung seiner selbst kennt.

Darüber hinaus erinnern Kirchen immer an die Kirche. Wahrscheinlich ist das auch das den Besuchern von Kirchen Nächstliegende, und sicherlich begründet sich daraus ein Großteil der Reserven gegenüber dem Besuch von Kirchen. Die Befürchtung, vereinnahmt zu werden, ist in der Regel übermächtig. Das liegt zum einen natürlich daran, dass Kirchen Rührung, Ergriffenheit, manchmal sogar rauschähnliche Gemütszustände provozieren. Das passt nicht zum Alltagsleben, und deshalb ruft es Abwehr hervor: man möchte sich nicht ertappen lassen. Diese Abwehr kann leicht vermieden werden einfach dadurch, dass die Rührung nicht - ich würde raten: niemals! - zum Thema gemacht wird.

Eine andere, schwierigere Form von Abwehr kann aber entstehen aus dem Eindruck, nicht dazuzugehören; da die Gemeinden häufig sehr klein geworden sind, wirken sie und benehmen sie sich wie Familien, für die es eben Zugehörige und Fremde gibt. Plätze könnten mit Kissen und Taschen markiert und blockiert sein; Besucher könnten sich für irgendetwas angefaucht sehen, was einfach bloß ‚hier nicht so ist', usw. Sie werden dann den Eindruck haben - und dieser Eindruck ist kulturgeschichtlich nicht falsch! -, dass das Kirchenschiff so heißt, wie es heißt, weil die Kirche eine Angelegenheit des Heuerns und Feuerns von Leuten ist. (Sie bemerken: eine weitere Raum- und Containermetapher!) Sie könnten aus der Schließungsneigung der Gemeinde folgern, dass im Kirchenschiff eben die Laien sitzen, während im Chor der geistliche Adel und auf den Emporen der weltliche Adel sitzt. Sie werden sich also im Raum vom Raum ausgeschlossen fühlen, und das - im Unterschied zu den religiösen Gefühlen der Anwesenden - kann, denke ich, Kirchenpädagogik sehr wohl zum Thema machen. Wie kommt es, dass der Raum sich verschließt, sobald man ihn betreten hat? Die Zeit, die ein Kirchenpädagoge dann mit den Anwesenden hat, wäre die Zeit, in der versucht wird, den zugleich offenen und verschlossenen Raum Schritt für Schritt - und ich betone nochmals: eher sinnlich wahrnehmend als rational verstehend - jedem Einzelnen zu öffnen, zu erschließen. Im Grunde wäre eine solche Zeit erfolgreich genutzt, wenn sich der Besucher als Grenzgänger der Kirche beobachten kann: als ein Individuum, als jemand, der zugleich drinnen und draußen ist - also nicht als jemand, der drinnen ist (geheuert) oder draußen (gefeuert). Zu dieser Gleichzeitigkeit von drinnen und draußen, zu dieser verunsicherten Lage einer Grenzsituation passt, scheint mir, die Ergriffenheit durch den sinnlichen Eindruck der Kirchenräume sehr gut. Die Abwehr, die so zwingend erforderlich schien, wäre überflüssig geworden - das kann Kirchenpädagogik schaffen (ich hatte vorhin von mittelbarer Mission gesprochen), und das ist nicht wenig.