Konfirmandinnen und Konfirmanden mit geistiger Behinderung oder - Die radikale Verstörung eigener Erfahrung

von Dietmar Peter 

 

Gedanken um den Konfirmandenunterricht und die Konfirmation von Menschen mit geistiger Behinderung sind in unserer Kirche relativ neu. Die Ursachen dafür sind vielfältig. In der Hauptsache gründen sie sich in einem fragwürdigen Konfirmationsverständnis wie in der Angst, sich auf Menschen mit geistiger Behinderung einzulassen. Dabei ist diese Angst nicht verwunderlich, sind es doch gerade Menschen mit geistiger Behinderung, die uns unerbittlich daran erinnern, wie wir niemals sein möchten. Aus dieser Perspektive kommen sie über den Status bemitleidenswerter Wesen, deren Menschsein uns fremd und unzugänglich scheint, nicht hinaus. Geläufige Vorstellungen über das Wesen des Menschen werden durch sie in Frage gestellt. Entspricht der Verkrüppelte und Entstellte noch dem Ebenbild Gottes? Inwieweit ist der Vernunft- und Sprachlose noch Mensch, wenn Vernunft und Sprache zum Bestimmungsmerkmal des Menschen gemacht werden? Hat der Bewegungsbeeinträchtigte, der den aufrechten Gang nie gehen können wird, noch einen Anteil am Menschsein? Wie steht es um den Autisten, dem die Möglichkeit zur sozialen Existenz fehlt?

Solche Fragen führen dazu, dass uns die Vorstellung, die Obengenannten möchten an den Selbstverständlichkeiten des Lebens der anderen teilhaben (zu ihnen zähle ich auch die Möglichkeit der Teilnahme am Konfirmandenunterricht und die folgende Konfirmation), eine nicht unerhebliche Denkanstrengung abfordert.

Denjenigen, die bereit sind, sich dieser auszusetzen und Schritte zu einer Öffnung kirchengemeindlicher Arbeit für Menschen mit geistiger Behinderung zu wagen, müssen sich klar darüber sein, dass sie eine Lebenswirklichkeit anstreben, die noch nicht zum kulturellen Gut kirchlichen Handelns gehört. Das bedeutet, dass Versuche in diese Richtung zu einem Angriff auf das Selbstverständliche, zu einem Kontrapunkt des bis dahin Normalen werden. Die Abkehr vom Üblichen und das Überdenken des Gängigen wird in der Regel nicht ohne Widerstände auch aus den eigenen Reihen zu vollziehen sein.

Darüber hinaus drängt sich die Frage auf, wie eine wirkliche Begegnung mit Menschen mit geistiger Behinderung und damit mit den ganz Anderen möglich werden kann. Hier wird die Frage nach dem dem eigenen Selbstverständnis bzw. nach dem Verhältnis und dem Umgang mit Fremdem berührt. Beides findet in der Praxis seinen Ausdruck in kommunikativen Prozessen, und so soll in den weiteren Ausführungen an dieser Stelle ein Schwerpunkt gesetzt werden.

Um einen Ausweg aus dieser Situation aufzuzeigen ist es unumgänglich, sich mit dem Fremden, dem Anderen auseinanderzusetzen. Die grundsätzlichsten Gedanken über die Bedeutung des Anderen für das menschliche Sein haben sich in diesem Jahrhundert J.-P. Sartre und E. Levinas gemacht.



Die Hölle, das sind die Anderen

Bei Sartre wird der Andere deshalb als Anderer wahrgenommen, weil er als Wahrnehmender die Welt in einem anderen Mikrokosmos anordnet und interpretiert als man dazu als Wahrnehmender in der Lage ist. Sartre verweist dabei auf das Phänomen der Scham, ein Phänomen, das dem Menschen eigen ist. Im Blick des Anderen empfinde ich Scham. Zu Ende gedacht ist dies die Scham, so zu sein, wie man ist - als verfügbares Objekt der Freiheit des Anderen. So entsteht Scham letztlich dadurch, dass die Freiheiten zweier Menschen gegenwärtig sind und kollidieren. Der Erblickte ist der Beurteilung durch den Anderen wehrlos ausgeliefert. Der heimliche Tod meiner Möglichkeiten, die Ausfluß meiner Freiheit und eigentlich grenzenlos sind , liegt im Anderen. So lässt Sartre Garcin, die Hauptperson in seinem Drama "Geschlossene Gesellschaft", sagen: "Wißt ihr noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost ... Was für Albernheiten. Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die Anderen." So wird der Mensch zum Erblickten und zum Erblickenden. Der Blick schränkt die radikale Freiheit der Subjekte ein. Das Wesen der Beziehung zum Anderen ist somit immer vom Konflikt geprägt. In einer solchen Konstellation kann Kommunikation nicht gelingen. Die wechselseitigen Objektivierungen, als Voraussetzung des eigenen Subjektseins, führen zu einem Kreislauf, der auch den ansatzweisen Versuch von Gemeinsamkeit und Gegenseitigkeit als Voraussetzung kommunikativer Prozesse scheitern lässt. Diese ohnehin ausweglose Situation lässt die Vorstellung gelungener Kommunikation mit Menschen mit geistigen Behinderungen gänzlich außer Reichweite aller Denkbemühungen geraten. Eine Annäherung an die hier diskutierte Problemstellung ist - folgt man Sartre - nicht möglich.



Der Andere als Infragestellung des Ich

Levinas scheint der hier diskutierten Problemstellung mit dem in seiner Sozialphilosophie verankerten Kommunikationsbegriff eher gerecht zu werden. Das offenbart sich allerdings erst, nachdem man sich auf die Radikalität eingelassen hat, mit der Levinas vom Anderen spricht. Der Andere ist für Levinas jeder andere Mensch jenseits seiner sozialen, historischen und religiösen Bestimmungen. Der universalisierende Fokus entfällt, der Rekurs auf ein gemeinsames Maß wird überflüssig. Das Ich als Zentrum aller Dinge verliert seinen Absolutheitsanspruch, denn der Andere hat mit ihm nichts gemein. Er ist absolut anders. Das bedeutet für mich anzuerkennen, dass es zwischen mir und dem Anderen keinen gemeinsamen Begriff gibt, dass die "Gemeinsamkeit in der ich 'Du' oder 'Wir' sage, nicht ein Plural von 'Ich' ist" (Levinas, 1987, S. 44). Weder durch den Austausch der Beteiligten, noch durch eine noch so ideale Kommunikation oder den Vergleich mit anderen Situationen kann die Einzigartigkeit des Anderen aufgehoben werden.

So wird die Begegnung mit ihm zu einer radikalen Infragestellung meiner Ordnung. Der Andere befindet sich schon immer außerhalb derselben. Die Achtung der metaphysischen Exteriorität wird zu einer von mir in jede Kommunikation einzubringende Grundschuld.

Ein solches Denken ist uns abendländischen Denkern fremd. Wir neigen im allgemeinen dazu, die Andersheit in ihrer Eigenart zu übersehen, sie zu negieren. Was fremd ist, muss identifiziert und damit als solches ausgelöscht werden. Was erklärbar ist, wird integriert. Entzieht sich ein Mensch diesem Verstehen, und dieses trifft in massivster Form auf Menschen mit geistiger Behinderung zu, wirkt es besonders bedrohlich. Sind alle Bemächtigungsmöglichkeiten des Anderen erschöpft, bleibt in letzter Konsequenz nur noch, ihn umzubringen. Eine solche Praxis postuliert Peter Singer, wenn er in seiner "Neuen Ethik" Positionen wie die folgende vertritt: "Sofern der Tod eines geschädigten Säuglings zur Geburt eines anderen Kindes mit besseren Aussichten auf ein glückliches Leben führt, dann ist die Gesamtsumme des Glücks größer, wenn der behinderte Säugling getötet wird."(Singer, 1984, S. 183)

Ein Außerhalb der Totalität solcher Gewaltakte gibt es nur, wenn die ontologische Gewalt des Ich oder Selbst gebrochen wird durch Gegebenheiten, die sich einem Identifikationsakt absolut widersetzen. Exemplarisch dafür steht der andere Mensch. Die Begegnung mit ihm zeigt, dass der "Widerstand der Andersheit selbst nicht von der Art Gewalt ist, sondern gerade in der Ohnmacht und Verwundbarkeit des Anderen besteht" (Nida-Rümelin, 1991, S. 326). In dieser gewaltlosen Widerständigkeit offenbart sich eine Bitte allererster ethischer Qualität. "Du wirst mich nicht töten." Positiv ausgedrückt: "Du wirst mich so lassen, wie ich bin."

Die Beziehung, die vom Anderen ausgeht und eine Antwort von mir fordert, qualifiziert sich als ethisches Verhältnis. Die Verwundbarkeit des Anderen verlangt eine Antwort - sie verlangt Ver-Antwortung. "Die ethische Beziehung der Verantwortung als Grundlage aller anderen Beziehungen stellt eine Beziehung dar, die weder Unterwerfung des Einen unter die Totalität von Sein und Geschichte, noch Aufhebung des Anderen und damit dessen Vernichtung ist." (Nida-Rümelin, 1991, S. 327) Vielmehr verwirklicht sich die Trennung in der Verbindung und Nähe in der Abwesenheit. Dieses Verhältnis von Antworten und Sprechen macht mich erst zum Subjekt, denn weil niemand an meiner Stelle antworten kann, werde ich als solches erst eingesetzt. Dieser Akt vollzieht sich in der Nähe, welche "ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation" (Levinas, 1983, S. 280) ist. "Es gibt keine Begrifflichkeit der Begegnung: sie wird durch den Anderen, durch das Unvorhersehbare ermöglicht, das sich keiner Kategorie fügt."(Derrida, 1976, S. 146)

Die Nähe des Anderen bedeutet nicht, dass seine Stimme, sein Körper, sein Gesicht zu Lieferanten für Daten werden. Es geht gerade nicht darum, vom Anderen etwas zu erfahren. Sprechen ist hier als Berührtwerden gemeint. Diesem Berührtwerden liegen Akte jeglichen Verstehens und jeglicher Vernunft voraus. Dabei ist es gleichgültig, wie der Andere zu mir spricht - im Wort, im Blick, in der Berührung. Zentral ist, dass ich gemeint bin. Dieses vom Anderen ausgehende Gemeintsein bahnt sich allein in der Kommunikation seinen Weg. Kommunikation wird damit zur Grundlage menschlicher Beziehung und damit zugleich zur Bedingung der Möglichkeit sozialer Erfahrung und zur Zurückweisung aller ichbezogenen Konstitutionsmerkmale.



Konsequenzen für die Konfirmandenarbeit mit geistig behinderten Menschen

Folgt man dem Verständnis von Kommunikation wie Levinas es vertritt, so ist das für den Konfirmandenunterricht mit Menschen mit geistiger Behinderung in vielerlei Hinsicht folgenreich. Zunächst einmal bedeutet es, sich auf ein ganz anderes Abenteuer der Subjektivität einzulassen als das, welches von der Sorge, sich wiederzufinden, beherrscht wird. Die Aktionen des geistig behinderten Konfirmanden können von mir nicht mehr als Re-Aktionen innerhalb eines gemeinsamen Deutungshorizontes interpretiert werden. Die immer wieder problemschaffenden unverstandenen und scheinbar unsinnigen Lebensäußerungen entziehen sich in diesem Gebäude meinem Urteil. Sie gehen vielmehr noch weit darüber hinaus. Die geistig behinderte Konfirmandin bzw. der geistig behinderte Konfirmand treten derart verstörend in meine Erfahrung, dass sie sich selbst fremd wird. Die erhebliche Tragweite einer solchen Feststellung im Kontext des Themas wird deutlich, wenn man sich bewußt macht, mit welcher überzogenen Selbstgewißheit manche Unterrichtende im Konfirmandenunterricht agieren. Wird diese Selbstgewißheit vom Sockel gestoßen, wird sich meine Erfahrung fremd, werden Urteile wesentlich vorsichtiger formuliert. So werde ich der Verletzbarkeit des Anderen und seiner Andersheit wesentlich eher gerecht.

Im Lichte dieses sich relativierenden Urteils wird eine Nähe ermöglicht, die von anderer Qualität ist als jene, die ich jemals durch Aneignung und Bemächtigung, also durch Einverleibung zu erreichen vermag. Damit kann es im Konfirmandenunterricht mit Menschen mit geistiger Behinderung nicht primär um "Herstellung", "Umsetzung", "Erreichung" umfangreicher Zielkataloge auf der Folie umfangreicher Beschreibungen verschiedener Behinderungsarten und ihrer individuellen Ausprägung sehen. Das Leben transparent zu machen für Gottes Handeln an uns Menschen und in der Welt (vgl.: Schneider, 1982) wird in einem so angelegten Konfirmandenunterricht scheitern, da er den Konfirmandinnen und Konfirmanden mit geistiger Behinderung eine Existenzform zumißt, die eine vom Sinnhorizont der 'Geistreichen' her zugebilligte bleibt. Eine solche Zuschreibung steht der christlichen Botschaft massiv entgegen.

Im Konfirmandenunterricht mit Menschen mit geistiger Behinderung geht es vor allem anderen um die Erfahrung der bedingungslosen Annahme des Menschen durch den Menschen. Das bedeutet, es geht um die Herstellung einer Basis, die Erfahrungen von Sicherheit, Geborgenheit und Vertrauen d.h. menschliche und religiöse Grunderfahrungen ermöglicht. Die von Levinas gemeinte Ver-Antwortung für den Anderen als Sagen vor allem Gesagten findet so ihren Ausdruck. Dieses Sagen ist Unterbrechung des Seinsvollzuges. Es steht dafür, dass der geistig behinderte Konfirmand in seiner Alltagswelt mit den widersprüchlichen eigenen und fremden Intentionen in der Taufe von Christus angenommen ist und ein für alle Mal Anteil an seiner Gnade hat. Die Konfirmation wird in diesem Licht zu einem "Fest des Angenommenseins" (vgl.: Abel, 1993). Ins Zentrum der Konfirmandenzeit und der Konfirmation rückt für die Konfirmandinnen und Konfirmanden das Erlebnis, das sie, so wie sie sind, in der Familie, von Freunden, von der Gemeinde und vor allem von Gott angenommen sind. Diese Grundlage bestimmt das unterrichtliche Handeln und verpflichtet uns, Konfirmandinnen und Konfirmanden mit geistiger Behinderung, Räume zur Initiierung von Beteiligung an Gemeinde einzuräumen.  Gelingt dieses, so bin ich sicher, dass von hier Anstöße aber auch Anfragen in Richtung Theologie, Religionspädagogik und Pädagogik ausgehen. Das bisher Selbstverständliche am Gemeindeleben wird angefragt, bisher gültige Erfahrungen werden verstört und bisher Alltägliches wird bereichert. Konfirmandinnen und Konfirmanden mit geistiger Behinderung werden zu Initiatorinnen und Initiatoren neuer Erfahrungen und nehmen so wesentliche Funktionen in einer von fast schon zu viel Selbstverständlichkeiten geprägten Kirche wahr.



Literatur:

  • Abel, I.: Modelle der Konfirmandenarbeit mit geistig behinderten Jugendlichen. In: Adam, G. (Hg.): Religiöse Begleitung und Erziehung von Menschen mit geistiger Behinderung. Würzburg 1993
  • Adam, G.; Pithan, A.: Wege religiöser Kommunikation. Kreative Ansätze der Arbeit mit behinderten Menschen. Münster 1990
  • Derrida, J.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt 1976
  • Habermas, J.: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas, J., Luhmann, N.: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt 1971
  • Kleinbach, K.-H.: Gegen die "Wut des Verstehens": der Andere. In: Sonderpädagogik 8/1990. S. 97 - 107
  • Kobi, E. E.: Vorstellungen und Modelle zur Wesenserfassung geistiger Behinderung und zum Umgang mit geistig Behinderten. In: Geistige Behinderung 22, 1983, S. 155 - 166
  • Levinas, E.: Die Spur des Anderen - Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg / München 1983
  • Levinas, E.: Humanismus des anderen Menschen. Hamburg 1989
  • Levinas, E.: Totalität und Unendlichkeit - Versuch über Exteriorität. Freiburg / München 1987
  • Meyer-Blanck, M.: Wort und Antwort. Berlin / New York 1992
  • Nida-Rümelin, J.: Philosophie der Gegenwart. 1991
  • Pfeffer, W.: Leibhaftes Lernen bei geistig Behinderten. In: Geistige Behinderung, 25, 1986
  • Schönberger, F.; Jetter, K.; Praschak, W.: Bausteine der kooperativen Pädagogik. Stadthagen 1987
  • Schneider, H.-D.: Konfirmandenarbeit mit geistig schwer behinderten Jugendlichen. In: Die Christenlehre, 35. Jahrg., 1982, Heft 8/9, S. 243 - 271
  • Singer, P.: Praktische Ethik. Stuttgart 1984
  • Watzlawick, P. u.a.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern / Stuttgart 1974