Muslimische Kinder und das "Recht auf Religion": Der lange Weg zu einem islamischen Religionsunterricht

von Friedhelm Kraft

 

Wer heute eine Schule in Hannover oder Berlin besucht, dem wird augenfällig, was Schule immer mehr kennzeichnet: Schülerinnen und Schüler mit sehr unterschiedlichen Migrationshintergründen bestimmen vielfach das Bild. Ethnische und religiöse Pluralität ist ein alltägliches Phänomen von Schule, wobei die Frage von Mehrheit und Minderheit sich je nach Quartier gegensätzlich gestalten kann. In den Grundschulen des Berliner Bezirks Kreuzberg sind deutschstämmige Kinder eine zahlenmäßige Minorität geworden.

Der Religionsunterricht ist von dieser Entwicklung nicht unberührt. Vielfach nehmen Kinder verschiedener ethnischer und religiöser Herkunft am Unterricht teil, muslimische Kinder bilden dabei die mit Abstand größte Gruppe.

Dass vielfach muslimische Kinder am evangelischen bzw. katholischen Religionsunterricht teilnehmen, ist weder bildungspolitisch gewollt, noch entspricht es dem Willen der Mütter und Väter des Grundgesetzes: Religionsunterricht ist nach Artikel 7.3 GG ein „ordentliches“ Lehrfach, das in „Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt werden muss. Religionsunterricht ist also kein Privileg der christlichen Kirchen. Der Religionsunterricht leitet sich von seinem Selbstverständnis vom Grundrecht der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) ab, indem Religionsfreiheit als „positives“ Entfaltungsrecht in der Schule verwirklicht wird. Ein Recht auf religiöse Bildung entsprechend der Religionszugehörigkeit haben demzufolge alle Schülerinnen und Schüler.

Mehr als 600 000 muslimische Schülerinnen und Schüler besuchen eine Schule in Deutschland. Ein Bildungsangebot im Sinne von Artikel 7.3 GG – einen islamischen Religionsunterricht als konfessionsgebundenes „ordentliches Lehrfach“ – gibt es bislang an keiner öffentlichen Schule. Die Begründung ist einfach und kompliziert zugleich: es fehlt der Ansprechpartner für die Kultusbehörden, der nach dem Wortlaut von Artikel 7.3 GG die „Grundsätze“ des Islams mit der Legitimation einer anerkannten Religionsgemeinschaft bestimmen und vertreten kann.

So unlösbar und verfahren die Situation erscheint: Die Debatte um einen Religionsunterricht für muslimische Kinder hat in Deutschland in den letzten Jahren eine neue Dynamik erfahren.

Und es ist nicht zu bezweifeln: politische Willensbekundungen zur Schaffung eines adäquaten Bildungsangebots für muslimische Schülerinnen und Schüler sind vorhanden. Zuletzt wurde auf einer Fachtagung der Kultusministerkonferenz im März 2003 in Weimar einvernehmlich formuliert:

„Alle Länder sind sich darüber einig, dass die schulische religiöse Bildung von Schülerinnen und Schülern muslimischen Glaubens zum Auftrag der Schule gehört.

Mehrere Länder haben einen religionskundlichen Islamunterricht eingerichtet oder planen ein Angebot. Wir halten es für erforderlich, ihn dort in deutscher Sprache zu erteilen. Muslime setze sich für islamischen Religionsunterricht in deutscher Sprache im Sinne des Grundgesetzes ein. Dieses Unterrichtsfach kann es aber nur geben, wenn Muslime in den Ländern Religionsgemeinschaften bilden, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen gerecht werden; hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Islam nicht amtskirchlich verfasst ist.“1

Der so genannte „Weimarer Aufruf“ spricht eine eindeutige und klare Sprache: solange die Muslime in Deutschland sich nicht zu Religionsgemeinschaften zusammengeschlossen haben, kann der bereits bestehende „religionskundliche Unterricht“ für muslimische Schülerinnen und Schüler nur ausgeweitet werden. Muslime müssen sich entscheiden zwischen einem „religionskundlichen“ Unterricht oder einem „islamischen“ Religionsunterricht im Sinne von Artikel 7.3 GG. Voraussetzung für einen islamischen Religionsunterricht ist der Zusammenschluss zu einer Religionsgemeinschaft. Die Erkenntnis, dass der Islam „nicht amtskirchlich“ verfasst ist, schließt erst einmal die Forderung nach einer „Verkirchlichung“ aus, wobei aber offen bleibt, welche dem Islam adäquaten Organisationsformen letztendlich gemeint sind.

Aber: die verfassungsrechtliche Eindeutigkeit der Formulierungen spiegelt die Realität bereits eingeleiteter Realisierungen nur zum Teil wider.

Es gibt eine Reihe von Bundesländern, die im Rahmen von Schulversuchen Wege und Formen erproben, islamischen Unterricht in der Schule anzubieten. Diese Versuche lassen sich aber nur bedingt den Kategorien „Religionskunde“ bzw. „Religionsunterricht“ eindeutig zuordnen. Allerdings könnte der Stand der Entwicklung in den einzelnen Bundesländern nicht unterschiedlicher sein: Während in Rheinlandpfalz (Ludwigshafen) und Bayern (Erlangen) Modellversuche an jeweils einem Schulstandort erprobt werden und in Niedersachsen bereits an 20 Schulstandorten islamischer Religionsunterrichts angeboten wird, plant Baden-Württemberg erstmalig für das Schuljahr 2006/2007 Modellversuche an 12 Grundschulen in Kooperation mit lokalen Elternverbänden und Moscheevereinen. Nordrhein-Westfalen, Bayern und Bremen sind in der Tat einen anderen Weg gegangen: seit dem Schuljahr 1999/2000 wird in Nordrhein-Westfalen ein eigenständiges Unterrichtsfach Islamische Unterweisung in deutscher Sprache an zurzeit 120 Schulen angeboten. In Bayern hat seit dem Schuljahr 2001/2002 ein Pilotprojekt „islamische Unterweisung in deutscher Sprache“ an inzwischen 21 Grundschulen begonnen und in Bremen findet seit dem Schuljahr 2002/2003 ein Modellprojekt Islamkunde statt. Und in Berlin ist wieder einmal alles anders: dort bietet die Islamische Föderation einen von ihr verantworteten islamischen Religionsunterricht an, der von ca. 4.500 Schülerinnen und Schülern besucht wird. 2

Im Folgenden möchte ich am Beispiel der Entwicklungen in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen Stand und Modelle eines Bildungsangebots für muslimische Schülerinnen und Schüler aufzeigen.

 

Islamischer Religionsunterricht in Berlin

In Berlin gilt - abweichend von den Regelungen des Grundgesetzes im Sinne von Artikel 7.3 GG – eine Regelung für den Religionsunterricht, die das Fach in die alleinige Verantwortung der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften stellt. Religionsunterricht ist ein Angebotsfach, das „Sache der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften“ (§13 Berliner Schulgesetz) ist. Eltern müssen ihre Kinder zum Religionsunterricht anmelden, ab dem 14. Lebensjahr entscheiden die Schülerinnen und Schüler über die Teilnahme. Die Entscheidungen über Grundsätze, Rahmenpläne und Lehrmittel obliegt allein den Anbietern des Faches, ebenso die Beauftragung der Lehrkräfte zur Erteilung des Unterrichts.3

Gegenwärtig wird in Berlin Religions- bzw. Weltanschauungsunterricht von der evangelischen und der katholischen Kirche, der jüdischen Gemeinde (an einem Schulstandort) und dem Humanistischen Verband, der humanistische „Lebenskunde“ anbietet, erteilt. Seit dem Schuljahr 2000/2001 ist ein neuer Anbieter auf dem Berliner „Markt“ der „Schulreligionen“ aktiv.4 Als Ergebnis eines langen Rechtsstreites wurde mit der letztinstanzlichen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Februar 2000 der Islamischen Föderation Berlin das Recht zugestanden, islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Berlin zu erteilen.

Dieses Urteil hat in der Öffentlichkeit heftige Diskussionen ausgelöst, da mit der Islamischen Föderation einem Träger Religionsunterricht zugestanden wird, der nachweislich eine Nähe zu der „Islamischen Gemeinschaft - Milli Görüs e.V.“ hat. Milli Görüs ist eine Gruppierung, die bundesweit vom Verfassungsschutz als islamistisch-extremistisch eingestuft wird.5 Insofern ist die Islamische Föderation auch innerhalb der muslimischen Community in Berlin äußerst umstritten. Anzumerken bleibt, dass die Anerkennung der Islamischen Föderation als Religionsgemeinschaft nur auf der Grundlage der Berliner Schulgesetzgebung erfolgt ist. Die Prüfung an eine der Rechtssprechung nach Artikel 7.3 GG angelehnte Definition von „Religionsgemeinschaft“ war aufgrund der besonderen Berliner Rechtslage nicht möglich.6

Die Islamische Föderation hat den Islamischen Religionsunterricht auf inzwischen 31 Schulen ausgeweitet und erreicht mit ihrem freiwilligen Angebot zurzeit 4.059 Schülerinnen und Schüler. Der Unterricht wird mit eigenen Lehrkräften in deutscher Sprache erteilt auf der Grundlage eines Curriculums – „Vorläufiger Rahmenplan für den islamischen Religionsunterricht im Lande Berlin“ (Klassenstufen 1 – 4) -, das mit Hilfe des muslimischen Instituts für Internationale Pädagogik und Didaktik in Köln erstellt worden ist. Deutlich wird im Blick auf die Leitideen des Unterrichts die Fokussierung auf pädagogische Zielbestimmungen: Erziehung zu „selbstverständlicher Toleranz“, Anregung zu „persönlichen Entscheidungsprozessen“, Distanzierung von „jedweden missionarischen Charakter“ werden als pädagogische Leitziele für einen Unterricht formuliert, der dialogisch und an den Erfahrungen muslimischer Schülerinnen und Schüler orientiert sein soll. Auffällig an dem Rahmenplan ist allerdings, dass durchgängig Koransuren zitiert bzw. auf einschlägige Stellen im Koran verwiesen wird. Bemerkungen zu einer Korandidaktik oder gar zu einer Koranhermeneutik werden nicht getroffen. Damit verbleibt der konkrete Umgang mit den Texten des Korans im Unterricht offen, der angestrebte Bezug auf die Erfahrungswelten der Kinder wird nicht ausgewiesen. Da die Berliner Schulbehörde keinen Einfluss auf die Inhalte des Religionsunterrichts hat - eine Aufsicht analog zu einem „ordentlichen Lehrfach“ darf nicht stattfinden - bleibt offen, welche pädagogischen und theologischen Standards tatsächlich für den Unterricht in Geltung sind. Die Lehrkräfte werden von der Islamischen Föderation bestimmt und intern fortgebildet. Die Schulbehörden überprüfen lediglich die verfassungsgemäße Eignung und den Nachweis einer pädagogischen Qualifikation.

 

„Islamische Unterweisung“ in Nordrhein-Westfalen

Die Bundesländer Bayern und Nordrhein-Westfalen haben bereits in den 80er Jahren „religiöse Unterweisung“ für muslimische Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Muttersprachlichen Unterrichts in einem weiten Umfang eingeführt. In Bayern wurde dabei nach Lehrplänen unterrichtet, die vom türkischen Unterrichtsministerium erstellt wurden, in Nordrhein-Westfalen wurden eigene Curricula erarbeitet. Beide Länder bieten nach diesen Konzepten Islamische Unterweisung nun in deutscher Sprache für muslimische Schülerinnen und Schüler an. In Nordrhein-Westfalen erfolgt dies seit dem Schuljahr 1999/2000, in Bayern mit dem Schuljahr 2001/2002. Mit dem Konzept der Islamischen Unterweisung gehen beide Bundesländer einen Weg, einen religionskundlichen, allein vom Staat verantworteten Unterricht anstelle von Religionsunterricht anzubieten. Damit soll ein Angebot für muslimische Schülerinnen und Schüler geschaffen werden, solange die Voraussetzungen für einen islamischen Religionsunterricht nicht gegeben sind. Aus Sicht der Landesregierungen fehlt der Partner auf muslimischer Seite für eine geregelte Kooperation nach Artikel 7.3 GG. Dies sehen die muslimischen Dachverbände in Nordrhein-Westfalen dezidiert anders, sie streiten vor Gericht um die fehlende Anerkennung als Religionsgemeinschaft.

In Nordrhein-Westfalen beruhen die Unterrichtsinhalte des neuen Faches auf der Arbeit von Curriculum-Kommissionen, deren Zusammensetzung und Arbeitsweise neue Maßstäbe gesetzt haben: Unter dem Vorsitz der Schulbehörde erarbeiteten türkische Lehrerinnen und Lehrer, Islamwissenschaftler und Religionspädagogen Entwürfe, die intensiv mit islamischen Gemeinden und Vereinen diskutiert wurden. Im weiteren Verfahren gab es Kontakte und Abstimmungen mit islamisch-theologischen Fakultäten sowie dem türkischen Amt für religiöse Angelegenheiten und der deutschen Vertretung des muslimischen Weltkongresses. Man kann sagen, dass das vorliegenden Curriculum - ausgearbeitet in Unterrichtseinheiten7- in der innerislamischen akademischen Theologie eine Zustimmung erfahren hat, wie sie für keinen der vorgelegten Entwürfe für einen islamischen Religionsunterricht von Seiten der großen Dachverbände8 in Anspruch genommen werden kann. Insofern ist die schulrechtliche Kennzeichnung „Religionskunde“ zwar formal richtig. Curricular und didaktisch wird jedoch ein Unterricht projektiert, der in Aufnahme des Prinzips der Korrelation Glaubenstradition und Lebenswirklichkeit muslimischer Schülerinnen und Schüler wechselseitig aufeinander bezieht und damit die Sichtweise einer „bloßen“ Religionskunde deutlich überschreitet.9

Die Kirchen in Nordrhein-Westfalen haben sich in ihren Stellungnahmen kritisch zu dem neuen Fach geäußert und sich für einen Religionsunterricht nach Artikel 7.3 GG ausgesprochen. Damit haben sie sich im Sinne der Stellungnahmen des Zentralrates der Muslime und des Islamrates geäußert. Beide Dachorganisationen haben Klage gegen das Ministerium auf Einführung eines Islamischen Religionsunterrichts erhoben.

Auf dem ersten Blick erweist sich der Schulversuch in Nordrhein-Westfalen als ein pragmatischer Versuch unter gegenwärtigen Bedingungen muslimischen Schülerinnen und Schülern ein Bildungsangebot zu gewährleisten, das dem Islam in den Schulen einen Platz einräumt und damit integrationspolitisch von großer Bedeutung ist. Allerdings hat sich im Laufe der Etablierung des neuen Schulfaches die Abgrenzung gegenüber dem konfessionellen Religionsunterricht und insbesondere der Ausschluss der islamischen Organisationen und Verbände bei der Gestaltung und Durchführung als immer problematischer erwiesen. So heißt es in einer Zwischenbilanz des Schulversuchs: „Sowohl die Frage der Mitwirkung der Verbände und Vereine als auch die klar zu definierende Zuordnung des Faches zur religiösen Bildung in der öffentlichen Schule sind dringlich zu regeln.“10

Mit dem Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Februar 2005 hat der Rechtsstreit der beiden Dachverbände Zentralrat und Islamrat mit dem Land Nordrhein-Westfalen auf Anerkennung als Religionsgemeinschaft eine neue Qualität erreicht. Das Gericht hat das Urteil des Oberveraltungsgerichtes vom 2. Dezember 2003 aufgehoben und zur Neuverhandlung zurückverwiesen. Bedeutsam an der Begründung des Gerichts ist der Hinweis, dass auch Dachverbände durchaus als Religionsgemeinschaft in Betracht kommen können, wenn sie die wesentlichen Aufgaben wahrnehmen, die eine Religionsgemeinschaft charakterisieren. Ob dies auf Zentralrat und Islamrat zutrifft, muss erneut ein Gericht entscheiden.11

 

„Islamischer Religionsunterricht“ – der niedersächsische Schulversuch

Seit Beginn des Schuljahres 2003/2004 wird in Niedersachsen ein – so die Vorgabe des Kultusministeriums – „staatlich verantworteter Religionsunterricht“12  für muslimische Kinder angeboten. Der Schulversuch hat eine große Akzeptanz erfahren, so dass er mit dem Schuljahr 2005/2006 auf weitere Schulstandorte ausgeweitet worden ist. An insgesamt 19 Grundschulen wird Islamischer Religionsunterricht in deutscher Sprache als unbenotetes Schulfach angeboten. Der Unterricht wird erteilt von Lehrkräften, die bereits im Rahmen des Muttersprachlichen Unterrichts Themen der religiösen Landeskunde unterrichtet haben und berufsbegleitend im Rahmen von Fortbildungsmaßnahmen eine zusätzliche Qualifikation erhalten. Grundlage des Unterrichts sind die vom Niedersächsischen Kultusministerium verantworteten „Rahmenrichtlinien für den Schulversuch ‚Islamischer Religionsunterricht’“, die jedoch von einem „Runden Tisch“ mit Beteilung der maßgeblichen Organisationen und Vereinen der Muslime in Niedersachsen erarbeitet worden sind. Das Kultusministerium hat mit der Einrichtung eines „Rundes Tisches islamischer Religionsunterricht“ ein Gremium geschaffen, das für die Dauer des Schulversuches als „Ansprechpartner des Landes in den zentralen Glaubensfragen des Islams“13 fungieren soll. Eine besondere Bedeutung und Akzeptanz hat der Schulversuch dadurch erhalten, dass neben der Schura Niedersachsen auch die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) den Schulversuch mit trägt. Der niedersächsische Schulversuch hat neben der uneingeschränkten Zustimmung der Kirchen in Niedersachsen bundesweit große Aufmerksamkeit erfahren, da hier ein Weg beschritten worden ist, der in größtmöglicher „Nähe“ zu den Vorgaben des Grundgesetzes im Sinne von Artikel 7.3 Islamischen Religionsunterricht realisiert. Das Kultusministerium sieht gegenwärtig nur die Möglichkeit eines Schulversuches, da eine Religionsgemeinschaft als Ansprechpartner und ein „formaler Nachweis“ über die Bekenntniszugehörigkeit der Kinder bislang fehlt. Während der Dauer des Schulversuchs wird die Anmeldung der Kinder durch die Erziehungsberechtigten als Nachweis der Zugehörigkeit zum Islam gewertet, der „Runde Tisch“ ersetzt den fehlenden „offiziellen“ Ansprechpartner einer anerkannten Religionsgemeinschaft.

Die Rahmenrichtlinien wurden in Anlehnung an den Lehrplanentwurf des Zentralrats der Muslime erarbeitet. Wie in Nordrhein-Westfalen werden die Inhalte in Aufnahme des didaktischen Prinzips der Korrelation bestimmt. Es wird als Aufgabe formuliert:

„Aufgabe des Schulversuchs „Islamischer Religionsunterricht“ ist es, Glauben und Glaubenspraxis mit der konkreten Lebenswirklichkeit und den Lebenserfahrungen der Schülerinnen und Schüler zusammenzuführen, sodass sie sich wechselseitig erschließen und erklären (Korrelationsprinzip); das schließt eine blinde Übernahme und unreflektierte Imitation traditioneller Formen der Glaubenspraxis ebenso aus, wie eine fraglose Auseinandersetzung mit den mündlichen und schriftlichen Überlieferungen."14

Allerdings grenzt das Kultusministerium den niedersächsischen Schulversuch strikt von einer „Islamischen Unterweisung“ im Sinne Bayerns und Nordrhein-Westfalens ab. Statt einer „objektiven Information über den Islam“ soll es um Religionsunterricht gehen, in dem „aus dem Glauben heraus“ religiöse Fragen erörtert werden: „Im Religionsunterricht ist der Islam sowohl Gegenstand der Auseinandersetzung als auch der subjektiven Erfahrung, informierende Elemente finden darin ebenso ihren Platz wie religiöse Werteerziehung.“15

Deutlich wird, wie Selbstverständnis und Didaktik des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts die Bestimmungen zum Islamischen Religionsunterricht bestimmen. Vor dem Hintergrund einer fehlenden islamischen Religionsdidaktik ist die Praxis des konkreten Unterrichts ein Experimentierfeld mit offenem Ausgang. Bis zur Entwicklung einer eigenständigen islamischen Religionsdidaktik gilt für die Praxis des Unterrichts: „Die Umsetzung der Rahmenrichtlinien gründet sich daher auf ein allgemein didaktisches Wissen und ein fachdidaktisches Wissen des evangelischen oder katholischen Religionsunterrichts.“16

Mit der Etablierung einer wissenschaftlichen Begleitung hat sich Niedersachsen ein Instrument geschaffen, sowohl Erfolge als auch ungelösten Problemstellungen einer interessierten Öffentlichkeit transparent aufzuzeigen.

 

Schlussfolgerungen

Mit Blick auf die aufgezeigten Modelle und Wege eines religiösen Bildungsangebots für muslimische Schülerinnen und Schüler kann thesenartig festgehalten werden:

  • Die konkreten Unterrichtsangebote lassen sich nur bedingt mit den Kategorien „Religionskunde“ bzw. „Religionsunterricht“ erfassen. Ein Unterricht der von muslimischen Lehrerinnen und Lehrern gegeben wird und sowohl eine integrierende als auch identitätsstiftende Wirkung haben soll, wird didaktisch immer mehr als „Kunde“ sein.
  • Angesichts der nichtkirchlichen Struktur des Islams bleibt die Frage der Beteiligung der Muslime an den Schulversuchen bzw. den Unterrichtsfächern die entscheidende Herausforderung. Da generelle Lösungen nicht in Sicht sind, können nur länderspezifische Wege beschritten werden. Eine Schlüsselstellung nimmt der mitgliederstärkste Verband der Muslime in Deutschland - die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB) - ein. Als türkische Auslandsorganisation hat sie eine Sonderstellung im Vergleich zu den übrigen Dachorganisationen. Zudem sind offizielle Stellungnahmen oftmals von einem Alleinvertretungsanspruch gekennzeichnet, eine Zusammenarbeit mit anderen islamischen Verbänden findet nur bedingt statt. Der niedersächsische Weg könnte auch in diesem Sinne als Modell für weitere Kooperationen fungieren. Gerade das Berliner Beispiel zeigt, dass die „Definitionsmacht“ über islamischen Religionsunterricht nicht einem islamischen Verband übertragen werden darf.
  • In Niedersachsen hat das Kultusministerium die Initiative ergriffen und pragmatisch, aber mit klarer Zielstellung einen Weg für Islamischen Religionsunterricht gewiesen. Bereits die ermutigenden Ergebnisse dieses Schulversuchs zeigen, dass Übergangslösungen gefragt sind, um muslimischen Schülerinnen und Schülern das „Recht auf Religion“ in der Schule zu gewährleisten. Die Frage dabei ist weniger, wie lange diese „Übergänge“ dauern werden. Es kommt vielmehr darauf an, Voraussetzungen zu schaffen, die islamischen Religionsunterricht im Sinne von Artikel 7.3 GG in Zukunft möglich machen werden. Dazu gehört ebenso die Frage einer islamischen Religionsdidaktik wie die einer universitären Ausbildung. Dass sich zurzeit muslimische Verbände neu formieren wollen, kann als Zeichen einer fortschreitenden Institutionalisierung des Islams in Deutschland gewertet werden. Dennoch gilt: die Frage eines islamischen Religionsunterrichts ist vorrangig eine schulpolitische, weniger eine verbandspolitische Frage.

 

 Anmerkungen

  1. Zit. n. Martin Stock: Islamunterricht: Religionskunde, Bekenntnisunterricht oder was sonst?, Münster 2003, 108
  2. In Hessen stellte die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen im Mai 1988 den Antrag auf Einführung eines islamischen Religionsunterrichts als „Religionsgemeinschaft“. Diesem Antrag hat das Hessische Kultusministerium nicht stattgegeben. Die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen ist als Partner für einen islamischen Religionsunterricht auch vor den Hessischen Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 14. September 2005 gescheitert. In den neuen Bundesländern gibt es keine Angebote für muslimische Schülerinnen und Schüler.
  3. Vgl. zur Geschichte und aktuellen Problematik Friedhelm Kraft: Religionsunterricht in Berlin - der öffentliche Streit um das von den Kirchen vorgeschlagene Konzept der Fächergruppe, in: Doyé, Götz/ Keßler, Hildrun (Hg.): Konfessionslos und religiös. Gemeindepädagogische Perspektiven, Leipzig 2002, S.159ff
  4. Zusätzlich wird an wenigen Schulen ein alevitscher Religionsunterricht erteilt, buddhistischen Religionsunterricht gibt es an einem Schulstandort.
  5. Vgl. die von der Friedrich-Ebert-Stiftung hrsg. Expertise von Thomas Lemmen: Islamische Vereine und Verbände in Deutschland, Bonn 2002, 40ff
  6. Daher hat der Berliner Senat in der Neufassung des Berliner Schulgesetzes vom 1.8.2005 im §13 Absatz 1 das Verständnis von Religionsgemeinschaft präzisiert.
  7. Das Landesinstitut für Schule und Weiterbildung in Soest hat die Ergebnisse für die Grundschule, Klassen 5 und 6 sowie für die Jahrgangsstufen 7 bis 10 gesondert veröffentlicht.
  8. Vgl. den vom Zentralrat der Muslime (ZMD) veröffentlichten „Lehrplan für den Islamischen Religionsunterricht (Grundschule)“ vom März 1999
  9. Vgl. Klaus Gebauer: Islamischer Religionsunterricht?, in: Pädagogik 10/98, 49ff
  10. Eckhart Gottwald/ Dirk Chr. Siedler (Hg.): „Islamische Unterweisung“ in deutscher Sprache. Eine erste Zwischenbilanz des Schulversuchs in Nordrhein-Westfalen, Neukirchen-Vluyn 2001, 13
  11. Vgl. Andreas Gorzewski: Mit einer Stimme sprechen. Islamische Verbände wollen als Religionsgemeinschaft anerkannt werden, in: zeitzeichen 11/2005, 12ff
  12. Rolf Bade/Edeltraud Windolph: „Islamischer Religionsunterricht“ – ein niedersächsischer Schulversuch, in: SVBl 12/2003, 389
  13. ebd., 390
  14. Rahmenrichtlinien für den Schulversuch „Islamischer Religionsunterricht“ hrsg. v. niedersächsischen Kultusministerium im Mai 2003, 4
  15. Heidemarie Ballasch: Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht. Der Schulversuch in Niedersachsen, in: Schulverwaltung NI SH 10/2005, 269
  16. ebd. 270