Ecclesia quaerens paedagogiam Wege zur Semantik heiliger Räume

von Thomas Klie

 

Der Text ist entnommen:
Thomas Klie (Hg.), Der Religion Raum geben. Kirchenpädagogik und religiöses Leben. Mit Beiträgen von T. Klie, Ch. Grethlein, M. Josuttis, H.-G. Soeffner, A. Mertin, B. Dressler, G. M. Martin, K. Raschzok, Ch. Ricker, C. Kürschner, S. Macht. 170 Seiten, 17,90 Euro
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„Ob es nun bloß die gewohnte Verknüpfung heiliger Gedanken mit ihnen ist oder ob sie selber unmittelbar Hohes und Heiliges zum Ausdruck bringen, wir dürfen es nicht unterschätzen, was Kirche, Pfarrhaus und Gemeinde-haus bedeuten. Es macht doch auf jeden Eindruck, mag er auch noch so gleichgültig oder so geistig gerichtet sein, wenn diese drei Gebäude, etwas über oder etwas abseits von den anderen Häusern gelegen, dem nachdenken-den Blick oder auch schon dem halb unbewussten Gefühl zu sagen wissen, dass es auch noch etwas Höheres in der Welt gibt. (...) Wir sind da, sagen sie, und wir lassen uns so leicht nicht verdrängen, denn wir haben die Kraft des Alten und die Macht der Wahrheit für uns, und wir werden so leicht nicht aufhören etwas zu bedeuten. Im Bunde mit der Wirksamkeit von tüchtigen Pfarrern und regsamer Arbeit der andern Organe der Gemeinde gibt das eine gar nicht zu verachtende Potenz im Leben einer Stadt.“

Friedrich Niebergalls emphatisches, im liberal-theologischen Geiste Schleiermachers vorgetragenes Bekenntnis zur Notwendigkeit besonderer kirchlicher Räume kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kirchengebäude zu keiner Zeit ein prominentes Thema der Praktischen Theologie waren. Zugleich macht es deutlich, dass sich die Topographie des Heiligen keines-wegs in lediglich historischen Reminiszenzen erschöpft. Die Ästhetik kirch-licher Räume gibt zu denken und damit auch zu deuten und zu lernen. Verweisen doch Kir-chen allein schon durch die Tatsache, dass es sie gibt, auf die nicht zu verdrängende „Kraft des Alten“. Sie reklamieren für sich nichts weniger als die „Macht der Wahrheit“, die durch entsprechende Aktivitäten professioneller Ge-meindevertreter eine „nicht zu verachtende Potenz“ freizusetzen vermag.

Damit ist natürlich noch kein kirchenpädagogisches Programm ent-faltet, wohl aber ein erstaunlich aktuell anmutender Akzent gesetzt auf die archi-tektonischen Ausdrucksformen des Christlichen, lange bevor Ästhe-tik und Religionsphänomenologie in den praktisch-theologischen Refle-xionshorizont gerieten.

In Bezug auf die Darstellung des Glaubens hatte die protestantische Christenheit schon immer ein eher gebrochenes Verhältnis zu ihren Kir-chen. Obwohl sich das sonntägliche Gotteslob kaum andernorts vollzog bzw. vollzieht als in den eigens dafür erbauten Gotteshäusern, wird ihnen mit gewissem Recht keinerlei besondere religiöse Qualität zugemessen. Aus diesem Grunde sind sie - ganz im Gegenteil zu ihren katholischen Dependancen - in aller Regel außerhalb der Gottesdienstzeiten verschlossen. Im Alltag erscheinen Kirchengebäude weit-gehend als funktions- und bedeutungslose Räumlichkeiten.

Diese Funktionslosigkeit „extra usum“ versteht sich vor dem Hintergrund des für die protestantische Spielart der Religion schlechthin entscheidenden Verständnisses der Heilsvermittlung. Das Heil ereignet sich je aktuell in Gestalt öffentlicher Wortverkündigung und Sakramentsdarreichung. Dieses heilige Beziehungsgeschehen konstituiert also allererst einen spezifischen Glaubensraum; demgegenüber hat der Kirchenraum lediglich die Funktion, den liturgisch und homiletisch entfalteten Glaubens-raum formal zu gewährleisten bzw. ihm in seiner Gestaltung ästhetisch zu entsprechen. Insofern repräsentieren sakrale Räume - in evangelischem Sprachspiel - lediglich jenes bestimmte Heilige, dem sie sich verdanken. Nachdrücklich streitet Luther immer wieder gegen jede Form substanzon-tologischer, mutatis mutandis „katholischer“ Raumkonzepte.

„Ich acht aber, das man wol wisse, das des HERRN haus heisse, wo er wonet, wo sein wort ist, es sey denn auff dem felde, inn der Kirchen, odder auff dem meer. Widerumb, wo sein wort nicht ist, da wonet er nicht, ist auch sein haus nicht da, sonderen der teuffel wonet daselbs, wenns auch gleich eine gülden Kirche were, von allen Bischoven gesegnet.“

Nicht zuletzt aufgrund dieser, am ehesten wohl pragmatisch zu nen-nenden Raumtradition blieben sakrale Räume theologisch meist unbedacht.

Die gegenwärtig zu beobachtende neue Aufmerksamkeit in bezug auf Kirchengebäude sieht Christian Grethlein in erster Linie sozial-diakonisch und religionspädagogisch motiviert. Kirchen als qualifizierte Orte der Kontemplation bieten einen immer notwendiger werdenden Anlass für stille Einkehr und Innehalten. Unabhängig davon werden sie von Religionspäd-agogen, die nach einer die Praxis des Religionsunterrichts lange Zeit domi-nierenden Phase einer extensiven Problemorientierung über den Umweg vor allem symboldidaktischer Konzepte nun auch verstärkt als Orte gelebter Religion wahrgenommen. Der Religionsunterricht gewinnt also mit der zu-nächst überraschenden Wiederentdeckung der Religion bzw. des Religiösen seinen genuinen Ge-genstandsbereich zurück. Schule und Gemeinde erhalten dadurch ein eigenständiges Profil als unterschiedliche, wohl aber in Bezug auf religiöse Bildungsprozesse ele-mentar aufeinander verwiesene Lernorte: Wenn aus dem ‘Kulturgeschichtslehrer’ im Zusammenhang mit kirchenpädagogischen Übungen ein ‘Religionslehrer’ wird, dann wird analog dazu aus dem pastoralen ‘Sozialtherapeuten’ im Konfirmandenunterricht der Mystagoge, der in die „verborgene und verbotene Zone des Heiligen“ einführt. Dabei er-scheint auch und gerade in reformatorischer Perspektive das Interesse an Kirchenpädagogik durchaus plausibel. Droht doch christlicher Glaube, „inmitten einer lauten, schnellen Gesellschaft und einer Kirche mit einer so für Lu-ther unvorstellbaren Armut an gestalteter Frömmigkeit zu verdunsten. Des-halb bekommen heute, gerade wenn man Luthers Konzentration auf die Verkündigung des Evangeliums ernst nimmt, Gestaltungsformen christli-chen Glaubens neues Gewicht, eben auch der Umgang mit den Kirchen.“

Wie auch andere Krisenphänomene so birgt die Kirchenpädagogik eine ganze Reihe von Ansatzpunkten für den produktiven Umgang mit dem An-wachsen informeller Kontakte zu Religion und Kirche. In kybernetischem Zusammenhang verhindern methodisch reflektierte Kirchenführungen und bedachte Anleitungen für eine stille Einkehr aus Anlass eines Kirchenbesuchs, „dass Kirchen zu Museen verkommen und letzt-lich kunsthistorisch verdinglicht werden. (...) Die Beschäftigung mit der Kirche bietet einer Gemeinde die Möglichkeit, in einer gegenwartsfixierten Zeit ihrer Vergangenheit und damit der Grundlage von Gegenwart und Zu-kunft zu begegnen. Dabei kann die Gemeinde viel für die Bestimmung eige-ner Identität, vielleicht des gegenwärtigen kybernetischen Schlüsselpro-blems, gewinnen.“

In religionspädagogischer Perspektive schlägt Grethlein als „leitendes kirchenpädagogisches Lernziel“ vor, die Jugendlichen „zu befähigen, eine Kirche in der der Besonderheit des Bauwerks angemessenen Weise besichti-gen zu können“ . Dabei bieten sich Kirchenräume für Projektwochen, Freiarbeit und Exkursionen als ein noch weitgehend unerschlossenes Ter-rain an.

Aber ist hier nicht vor einer zu schnellen Indienstnahme eines sich gerade eben abzeichnenden, noch äußerst heterogenen, notabene, noch kaum hinlänglich präzise reflektierten Methodenensembles zu warnen? Muss nicht zunächst und viel elementarer nach dem besonderen „Umgang mit heiligen Räumen“ gefragt werden? Manfred Josuttis stellt sich dieser grundsätzlichen Problematik und schlägt dabei einen phänomenolo-gisch-ethologischen Weg ein. Er fragt: „Was ist ein Raum? Wie entsteht ein Raum? Wer darf einen Raum betreten? Wie wird ein Raum konserviert?“

Soll es zu einer „Syntopie“ bzw. zu einer „Synchronie“ zwischen Göttlichem und Menschlichem kommen, dann bedarf es in besonderer Weise ge-stalteter Räume. Dabei bedingt jedwede Vorstellung von Räumlichkeit im-mer zugleich die Innen- und die Außenperspektive - eine hilfreiche Diffe-renzierung, wenn in den folgenden Beiträgen von Verortungen und Interaktio-nen innerhalb sakraler Gebäude gehandelt wird. „Jeder Raum ist eine be-grenzte, gestaltete, lebenssteuernde Welt, die ich bin und in der ich bin. Raum gibt es für menschliche Wahrnehmung also immer nur in dieser Doppelausgabe: Ich als Raum bin in einem Raum. Deshalb gehört zur Iden-titätsdefinition immer auch eine Ortsangabe.“ Diese spannungsgeladene Korrelation vermag unter bestimmten Umständen Räume zu lebenssteuernden Kraftfeldern und wirkungs-trächtigen Machtbereichen zu transformieren. „Handlungsfähig sind Menschen (...) nur dann, wenn sie sich auf Anmutungen, die von Räumen ausgehen, einzustellen vermögen.“

In Bezug auf die Rekonstruktion ihrer Entstehung gelten sowohl für profane als auch für sakrale Räume grundsätzlich dieselben Kriterien, näm-lich „die Auswahl, die Installation, die Einweihung und die Eigentum-s-problematik“. Methodologisch vorausgesetzt ist hier, dass religiöse Phäno-mene prinzipiell den Sachlogiken von Alltagsphänomenen unterliegen und sich insofern auch von daher erschließen lassen. Die Plazierung eines heili-gen Raumes entspricht somit der „Installation eines symbolischen Kraftfel-des, das für die Rezeption göttlicher Gegenwart wie für zwischenmenschli-che Kommunikation gleichermaßen geeignet ist. Altar, Kanzel und Tauf-stein repräsentieren jene Mysterien anfänglicher Existenz, die jedes Men-schenwesen nach seiner Geburt in Form von Fütterung, Anrede und Kör-perpflege erfährt. Das heilige Kreuz und die Heilige Schrift verknüpfen den Ort mit dem Kraftstrom der Heilsgeschichte. Und die Aufladung mit einem machtvollen Namen spezifiziert die Segensmacht, die von hier ausgehen soll.“

Räume sind umgrenzte Lebenswelten, sie zu betreten bedarf es in der Regel bestimmter Konventionen, wie z.B. des Eingeladenseins. „Ohne Einla-dung ist man Eindringling, durch die Einladung wird man zum Gast.“ Je nach Motivation der Eingeladenen und nach Anlass oder Wahrscheinlichkeit ihres Besuchs kann es im heiligen Raum bzw. im gottesdienstlichen Kontext durchaus auch zu Indifferenzen, Überlagerungen von Kraftfeldern und nicht zuletzt zu einer Verwirrung von Rezipienten kommen. Die jüngste Diskussion um Techno-Partys in verschiedenen City-Kirchen gibt dafür ein beredtes Beispiel. Jeder methodischen Entscheidung im Rahmen einer kirchenpädagogischen Übung wird also eine Reflexion über Einladungsmodus und Inszenierungsmoda-litäten vorausgehen müssen. Eine bibliodramatische Performance mit Men-schen, die sich zur Kerngemeinde zählen, impliziert bspw. andere Aneig-nungsformen und Darstellungsoptionen als eine Kirchenführung mit einer touristischen Reisegruppe. Die Akzeptanz verschiedener gestalterischer Ele-mente hängt also wesentlich an den je aktuellen Korrespondenzen zwischen „geheiligtem Leibraum des Individuums“ und den Atmosphären des äußer-lich wahrnehmbaren Raumes.

Auch Räume unterliegen den Bedingungen von Zeit und Vergänglich-keit. Darum gehört zur Bewahrung eines heiligen Raumes seine Reini-gung und Erneuerung. „Beim Stichwort ‘Reinigung’ assoziiert man Putzak-tionen, beim Stichwort ‘Erneuerung’ Baumaßnahmen. Weil die religiöse Dimension von Purifikation vollkommen aus dem Wahrnehmungsfeld ver-schwunden ist, ist ein altes kirchliches Fest, die ‘Kirmes’, in den kommuna-len Raum ausgewandert. Volkstümliche Pastor/innen müssen nun im Festzelt begehen, was ursprünglich für das Gotteshaus wichtig war.“ Eine religiöse Raumpädagogik kann also durchaus auch die Rekonstruktion kirchenhistorischer Depravationen einschließen. Als pädagogischer „Ort religiöser Deutungs-kultur“ gewönne sie damit die geschichtliche Dimen-sion von Syntax und Pragmatik liturgischer Vollzüge in den Blick.

Einen anderen Akzent setzt Hans-Georg Soeffner mit seinem Beitrag. Kirchliche Gebäude sind für ihn weniger Manifestationen symbolischer Kraft- und Machtfelder, sondern vielmehr Repräsentationen einer gestalte-ten „Wiedererkennbaren Ordnung“. Als herausragende „Orte der christli-chen Religion in der pluralistischen Kultur“ verweisen sie auf ein rituelles Gemeinschaftshandeln, das sich vornehmlich in ihnen vollzieht. „In ihm wachsen ‘Kirche’ als Gemeinschaft, Kirchenraum und rituell ausgestalteter Bewegungsraum der Gläubigen zur erlebbaren Gestalt eines belebten, sich selbst sakralisierenden sozialen Gebildes zusammen: zur Gemeinde.“ In der Semantik des Wortes Kirche hat sich dieses Zusammenspiel sprachlich erhalten.

Gegenüber anderen „‘pragmatisch’ orientierten Funktionsräumen“ können Gotteshäuser gerade auch auf Grund ihrer „Besonderheit“ und „Andersartigkeit“ eine gesellschaftlich weitgehend anerkannte Sphäre ‘außerweltlichen’ Rechts gewährleisten (Kirchenasyl). Zudem dienen Kirchen einer multireligiö-sen, pluralistischen Kultur räumlich (mittelalterliche Stadt-kerne) sowie zeitlich (Turmuhr, Glockenschlag) nach wie vor noch als „Orientierungsmarken“. Analog zu modernen „Kultorten der Lebensstile“ (Theater, Kino, Disco) bilden sie einen „Erinnerungs-, Rückfindungs- und Selbstbestimmungsraum“, der auf bestimmte Zeit von alltagsweltlichen Zwängen zu entbinden vermag.

Darüber hinaus lassen Kirchen das Spezifikum des christlichen Glau-bens in Geschichte und Gegenwart identifizieren, indem sie eine ganz besondere Tradition in gleichsam phänotypischer Abgrenzung zu anderen Religionen bzw. im Konzert anderer, säkularer Traditionen repräsentieren. In Raum und Form dokumentieren sie die Spiritualität vorangegangener Christlichkeit. Die Rekonstruktion eines Kirchenraumes rekonstruiert darum immer auch einen „Teil der Erfahrungs- und Vorstellungsgeschichte des christlichen Glaubens“. Nicht nur Texte, Lieder und Bilder sind konsti-tutive Signaturen eines kulturellen (religiösen) Gedächtnisses, sondern auch „die Gehäuse der Überlieferung: die Gebäude“. Selbst leerstehende Kirchen und Kirchenruinen setzen der Gegenwart durchaus Denkmäler einer Erfah-rungsgeschichte.

Kirchen vermögen auch heute noch durch die „Erinnerungszeichen“ ‘Kreuz’, ‘Altar’, ‘Taufe’ und nicht zuletzt ‘Kanzel’ Gegenwärtiges zu transzen-dieren - sie sind nach wie vor architektonische Signifikanten “einer erhofften oder imagi-nierten Zukunft“. Für den Umgang mit christlichen Gotteshäusern in einer nachchristlichen Umwelt eröffnen sich demnach grundsätzlich zwei Möglichkeiten: „entweder zu Museen und Dauerausstellungen christlicher Architektur-, Bild- und Musikgeschichte oder zu Erfahrungs- und Handlungsräumen eines nach wir vor existenten Glaubensentwurfes zu werden“ .

Sich zu Religion zu verhalten, bedingt heute einen individuel-len Wahlvorgang bzw. eine subjektive Kompositionsleistung. Unter den Bedingungen der Moderne ist Religion also lediglich noch als Deutungsperspek-tive zugänglich - genauer: als eine unter vielen anderen. Der „Zwang zur Häresie“ transformiert somit grundlegend auch die Raumrezeption des homo optionis: Die großen Raum-Mythen werden zu individuellen Raummythologien. Reli-giösen Räumen gegenwärtig eine ontologische Realität zuzusprechen, ver-kennt, dass Raum in jedweder Gestalt vor allem anderen durch religiöse Subjekte kon-stituiert wird.

Welche Relevanz hat dann aber ein Programm pädagogisch motivier-ter Kirchenraumerkundung? Degenerieren in ihrer traditionellen Be-Deu-tung nicht mehr rezipierbare religiöse Zeicheninventare dann nicht zu äs-thetisch allenfalls reizvollen Stimuli für eine zutiefst menschliche sym-bolische Sinngebung? Hat allein schon das „Raunen“ eines auratischen Ortes religiöse Qualität? In welchem Verhältnis stehen diffuse Raumaffekte zum Wissen um die kon-krete Struktur und Genese eines sakralen Ambiente? Und ist Kirchenpäd-agogik als Konglomerat „theoästhetischer Rezepte“ nicht eher ein Symptom für das schlichte Nichtvorhandensein eines spezifisch protestantischen „raumbezogenen Mythos“?

Ein an dieser Stelle notwendiges subjekttheoretisches Monitum trägt Andreas Mertin in die Diskussion ein.

Offenbar führt hinter die Zerstörung heiliger Orte (Lorenzer) kein gangbarer Weg zurück, und ebensowenig scheint die Unmittelbarkeit einer räumlich verdichteten Erfahrung des Heiligen (Eliade) noch bruchlos resti-tuierbar. Trotzdem sind damit noch nicht alle Chancen auf einen soliden Begründungshorizont zur Erschließung religiöser Räume verspielt. Unter Bezugnahmne auf Foucaults These von der „fortdauernden stummen Sakra-lisierung des Raumes“ unterläuft Mertin die Notwendigkeit anthropologi-scher Vorannahmen und dogmatischer Konzepte. Solange dichothome Raumkonzepte empirisch nachweisbar sind, ist die Entsakralisierung des Raumes noch nicht vollends zum Abschluss gekommen. Denn jede „polare Struktur“, jede „räumliche Heteregonität“ hat „in einem elementaren Sinne etwas mit ‘Religion’ zu tun“. Dies spiegelt sich paradigmatisch in den soge-nannten „Heterotopien“, die im Gegensatz zu den Utopien“ („Nicht-Orten“) alle anderen Orte innerhalb einer Kultur gleichzeitig repräsentieren, de-mentieren und konterkarrieren. Typische Heterotopien - Foucault nennt Bordelle, Kolonien, Friedhöfe aber auch Kirchen - bilden eine Art Wider-lager oder Gegenplazierung zum sie umgebenden gesellschaftlichen Kon-text. Ein kirchenpädagogisches Programm hätte also die kompetente Lek-türe dieser Heterotopien zu ermöglichen. Die zu leistende Aufgabe wäre somit als „Heterotopologie“ beschreibbar.

Wie jede Form des Lesens ist auch die Lektüre einer Kirche vorab eingelagert in einen je spezifischen kulturellen Erfahrungszusammenhang. Verstehen beginnt immer da, wo Raumwahrnehmungen zugeordnet werden können, z.B. in einer Kirche zum tradierten Symbolsystem christlicher Spiritualität. Semiotisch ausgedrückt geht es darum, Signifikanten auf Signi-fikate zu beziehen, also Zeichen zu dekodieren und ihren funktionalen Zu-sammenhang zu erkennen. „Erarbeitet werden muss im Rahmen eines päd-agogisch-religiösen Prozesses eine Annäherung an religiösen Raum, die von der intuitiven zur reflektierten Raumwahrnehmung, von der Aisthesis zur Ästhetik führt. (...) Soll das Raumgefühl aber nicht diffus bleiben, muss es konsolidiert werden durch die Raum-Lektüre und Lektüre der Überlegun-gen aus der Tradition.“

Was nun trägt ein solches Lernkonzept für die religionspädagogische (Bernhard Dressler), gemeindepädagogische (Thomas Klie) und liturgische Praxis (Gerhard Marcel Martin) aus?

Wie alles schulische Handeln so ist auch der Religionsunterricht ge-kennzeichnet durch strukturierte Anlässe für uneigentliches Probehandeln und -denken. Gerät nun als Reaktion auf eine fast flächendeckende Re-duktion des Religiösen auf ein System von Satzwahrheiten ohne wahrnehm-bare Signifikate (Hermeneutischer RU) bzw. auf ein Reservoir lebensprakti-scher Problemlösungen (Problemorientierter RU) mit „Kirche“ ein Unterrichtsgegenstand in Blick, in dem sich Religion „eigentlich“ vollzieht, dann gilt es, religionsdidaktisch in erster Linie auf das Verhältnis von Binnen- und Außenper-spektive systematisch in den Blick zu reflektieren. Zugespitzt formu-liert hat Schule eher eine Erschließung von christlicher Religion zu leisten, auch gerade in ihren Gestaltwerdungen und liturgischen Darstellungsformen, ohne dabei jedoch in einen unkritischen Verkündigungsgestus abzugleiten. „Die Unterrichtenden dürfen dabei nicht das Ziel haben, dass die Lernenden Gott in ihr Herz nehmen, aber dass die Gestaltungsmittel zur Verfügung stehen, mit denen die Gegenwart Gottes erfahrbar werden kann.“ Der Religionsunterricht hat „Lernchancen als Möglichkeiten der Ingebrauchnahme von Religion zu er-öffnen - freilich so, dass reflexive Distanznahme systematisch in die Unter-richtsvorgänge eingebaut bleibt, weil anders nicht gelernt, sondern nur eingeübt wird.“

Im katechetischen Kontext der Gemeinde ließe sich Kirchenpädagogik als eine „religiös bildende Bemühung“ um die, die Luther als „junges Volk“ bzw. „einfältige Laien“ bezeichnet, fassen. Dabei liegt der Akzent auf der Einübung von christlicher Reli-gion. Die Differenz zu gottesdienstli-chen Vollzügen besteht vor allem „im Verweis auf das Glaubensgeschehen und die Differenz zur Museumspädagogik im Verweis auf das Glaubensgesche-hen.“

Sowohl in Schule wie auch in Gemeinde stellt sich der Religionspädagogik die „gewissermaßen ‘deiktische’“ Aufgabe, „die Religion als Zeichensy-stem so darzustellen, dass dessen besondere ‘Grammatik’ erlernt werden kann und darüber die Möglichkeit eröffnet wird, Religion in Gebrauch zu nehmen.“ Für beide Bildungsinstanzen gilt ebenfalls in gleicher Weise, dass der Lernort „Kirchengebäude“ ein im Vergleich zum Klassenzimmer bzw. zum Konfirmandenraum ein dem Unterrichtsgegenstand „Religion“ in einzig-artiger Weise angemessenes Repertoire an Lernchancen und Lernwegen be-reithält. Denn religiöses Lernen bzw. christliche Sozialisation ereignet sich immer von „außen“ nach „innen“. Weder intellektuelle Einsicht noch fromme In-nerlichkeit generieren aus sich heraus spezifisch christliche Artikulations-formen, sondern umgekehrt: „Vielmehr verschränkt die lernende Aneig-nung eines religiösen Raumes im Prozess individueller Aneignung dessen Zeichenrepertoire immer zugleich mit je eigener Lebens- und Lernge-schichte. Sie läßt also die lernenden Subjekte sich im Sakralraum vorfinden und verorten.“ „Durch den Gebrauch religiöser Zeichen und Formen wird man, zumindest der Möglichkeiten nach, religiös.“

Die Ingebrauchnahme christlicher Zeichen im Rahmen einer kirchen-pädagogischen Begehung bindet die Teilnehmenden, seien es nun Schüler, Konfirmanden oder Kirchentouristen, zurück an die christliche Erzähl- und Erinnerungskultur, in der die Zeugnisse des Christusereignisses als Meta-phern zur Mitteilung und Darstellung gelangen. Ob es nun in diesem Vor-gang zu einer gottoffenen Semiose kommt, der Herr also „in die Wirklich-keit eintritt“ (Bizer), ist pädagogisch weder operationalisierbar noch grundsätzlich auszu-schließen.

Einen in diesem Zusammenhang ebenso unerwarteten wie produktiven Perspektivwechsel voll-zieht Gerhard Marcel Martin. Ging es im Rahmen religionspädagogischer und katechetischer Reflexionen um die Bedingungen der Möglichkeit für eine kirchenpädagogische Adaption liturgischer Formen, wird in seinem Beitrag die Notwendigkeit einer kirchenpädagogisch ausgewiesenen Liturgie und Homeletik betont. Kirchenpädagogik übernimmt für eine formal erstarrte liturgische Praxis die Funktion eines kritischen Korrektivs, erscheint sie doch als der „mehr oder weniger bewusste und gestaltete Normalfall von Gottes-dienst. Deutlich das ‘Normale’ überschreitend ist aber die Beteiligungsdy-namik. Werden Texte bewusst zeitlich, räumlich und leiblich inszeniert, wird die Kirche aus einem Ort protestantisch und neuzeitlich wesentlich und weitgehend innerer Bewegung zu einem Ort auch äußerer Bewegung - und dies nicht nur für die Liturgen, sondern für die ganze Gemeinde und nicht nur in der Liturgie, sondern auch während und in der Predigt.“ Die Insze-nierung biblischer Texte im Kirchenraum findet gerade dadurch einen handwerklich, künstlerisch und theologisch „bestimmbaren Ort“. Sie macht dabei im Vollzug bewusst, dass die Möglichkeit einer „Nicht-Inszenierung“ gar nicht gegeben ist. Damit schärft sie die Wahrnehmung für liturgische Üblichkeiten und Routinen. „Wo das eher Überraschende mehr Achtsamkeit auf und Aufmerksamkeit für das Gewöhnliche zu schaffen vermag, mag dieses ‘Ordinäre’ hier und da die Qualität des ‘Extra-Ordinären’ zurückgewinnen - ein Extra-Ordinäres, an das man sich nur zu sehr ge-wöhnt, es in seiner Symbol-Wirklichkeit verloren und als Klischee oder Zeichen einseitig besetzt oder neutralisiert hatte.“

Nach dieser Maßgabe verschiebt sich aber auch das Proprium traditioneller Kirchenführungen. So lässt Klaus Raschzok seine „Hermeneutik des gottesdienstlichen Raumes“ in ein Programm „geistlicher Raumerschließung“ münden, das sich in erster Linie einem (kollektiv-)liturgischen Paradigma verpflichtet sieht. Akzentuieren herkömmliche Modelle eher die Rezeptions-modalitäten einer „Kommunikation mit dem Einzelnen“, so wird hier auf eine „theologisch unzulässige Trennung von Gottesdienstgemeinde und touristischen Kirchenbesuchern“ bewusst verzichtet. Raschzok versteht den Kirchenraum als eine Gottesdienst und Gebäude verbindende Erfahrungsdimension. Kirchen sind weniger Kulturdenkmäler, als „Spiegel ihrer vergangenen, gegenwärtigen und zu-künftigen gottesdienstlichen Nutzung“. Es stellt sich also bei einer Füh-rung die Aufgabe, den Raum in der „doppelten Bewegung“ einer Rekonstruktion (von Nutzungsspuren) und Vision (im Hinblick auf den „endzeitlichen Gottes-dienst“) zu vergegenwärtigen.

Voraussetzung hierfür ist die Freilegung lebensgeschichtlicher Reso-nanzen mit den Interieur des Raumes, denn die persönliche Glaubenserfah-rung korreliert oft eng mit einer biographisch in je perspektivischer Zuspit-zung wahrgenommenen, im wahrsten Sinne des Wortes „erlebten“ Kirche. In sakralen Gebäuden manifestiert immer auch ein virtuelles Netz aus Ver-knüpfungen von Lebens- und Christusspuren. Diese Erfahrungen gilt es nun in einem lebendigen und „offenen Interpretationsprozess“ zu reaktivieren.

Geistliche Raumerschließung versteht sich insofern als konstitutives Element im Rahmen eines Gemeindeaufbaukonzepts, als sie Gemeinden und ihre Leitungsgremien dazu motiviert, gestalterische und pädagogische Ver-antwortung für ihre Kirchenräume zu übernehmen und auszuüben.

Auf den Bedingungsrahmen einer spezifisch kirchenpädagogischen Didaktik und Methodik reflektieren die letzten drei Beiträge. Christoph Ricker stellt den Gedanken der Begehung ins Zentrum seiner Überlegungen. In der Begehung eines Kirchenraumes ergibt sich eine große relative Nähe zum „inszenierten Verlauf“ eines Gottesdienstes - so lassen sich die „Wechselbeziehungen von Raum und Gottesdienst“ selbst schon anhand von äußeren Gestaltungsmerkmalen entdecken. Dabei prädisponieren die besonderen Gegebenheiten des Kirchengebäudes gleichsam die didaktischen und methodischen Entscheidungen: Die sakrale Topographie veranlasst Prozessionen, Licht und Stille lancieren Wahrnehmungsübungen, figürliche Darstellungen laden zu mimetischem Nachvollzug ein.

Die kirchenpädagogische Exkursion im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts nimmt formal Züge eines Ausflugs in ein „religiöses Biotop“ an. Denn paart sich erst die evangelische Geringschätzung des Raumes mit der Erosion wichtiger Traditionsagenturen (wie z.B. kirchlicher Milieus mit ihren Frömmigkeitsstilen) und einem „Anschauungsverlust des Glaubens im Gottesdienst“, dann lässt sich evangelische Religion kaum noch auf anderem Wege rekonstruieren und unterrichtlich vermitteln als „am ureigensten Ort religiösen Lebens“: in der Kirche. „In der Kirchenpädagogik verschränken sich auf eigentümliche Weise Außen und Innen. Einerseits wird mit dem Gang in die Kirche selbst für dem Christentum völlig entfremdete Schülerinnen und Schüler das religiös hochsignifikante Innerste des Glaubens aufgesucht. Andererseits ist dieses Innerste nicht in einem personalen, sondern zunächst nur in einem äußerlich-räumlichen Sinne zugänglich.“

Einen Einblick in ihren reichen Fundus methodischer Übungen bietet die Kirchenpädagogin Christiane Kürschner. Ihr Repertoire beinhaltet „verschiedene Wahrnehmungsübungen, Methoden zur Vermittlung der Sachfragen“ und Anleitungen zur „schöpferischen Umsetzung des Erlebten mit Werkmaterialien“. Vorrangiges Lernziel ist dabei, die Teilnehmer eines „kirchenpädagogischen Praxistages“ für den sie umgebenden Raum zu sensibilisieren.

Siegfried Macht gibt mit seinem „musischen Klostergang“ ein Beispiel dafür, wie ein Kirchenraum zum Resonanzraum menschlicher Leiblichkeit bzw. Geschöpflichkeit werden kann. Klang (per-sonare - Person) und Tanz (Weg - Prozession) lassen die Teilnehmenden sich „ganz“ (engl.: whole - holy) in der architektonischen Raum-Theologie einer Klosterkirche verorten. „Dabei zu machende Erfahrungen sind nicht mehr (aber auch nicht weniger !) als heilendes Geschenk eines schöpfungskonformen Umgangs mit unserer Leiblichkeit, was nicht mit Inbesitznahme Gottes zu verwechseln ist.“ Die Dramaturgie wohlerwogener Bewegungsabläufe und die Inszenierung des gemeinsamen Gesangs vermittelt eine Vorstellung von der „Ergonomie des Heiligen“.

Die verschiedenen Wege zur Semantik kirchlicher Räume verweisen in je unterschiedlicher Perspektive auf die Möglichkeitsbedingungen, architektonische Zeichen als metaphorische Residuen des Heiligen lesen zu können. In diesem Sinne mag abschließend noch einmal der eingangs zitierte Friedrich Niebergall zu Wort kommen: „Ist vielen (...) schon das Pfarrhaus umwoben von dem Schimmer der Heiligkeit, trotz allem, so ist es die Kirche noch viel mehr. Die ganze so andersartige Bauweise drückt ihnen wirklich im Sinnbild die andere Welt aus, das hohe Gewölbe ist ihnen in ihrem ehrfurchtsvollen Aufblick wie der über die Erde erhabene Himmel, die Schmuck der Bogen, Fenster und Bilder Darstellung des Heiligen in der Form des Schönen.“