Der Buß- und Bettag in theologischer und religionspädagogischer Perspektive

von Michael Wermke

 

A. Zur Tradition von Buß- und Bettagen im Alten Testament und im Judentum

Der Versöhnungstag (Jom Kippur) am 10. Tischri ist als einer der wichtigsten Bußtage des Judentums im Alten Testament ausführlich beschrieben: 'An diesem Tag entsühnt man euch, um euch zu reinigen. Vor dem Herrn werdet ihr von allen euren Sünden wieder rein. Dieser Tag ist für euch ein vollständiger Ruhetag, und ihr sollt euch Enthaltung auferlegen' (Lev 16, 30f.). An diesem Tag wurden der Tempel, die Priester und das Volk entsühnt; es war der feierlichste Gottesdienst des Jahres, vom Hohenpriester selbst zelebriert, der nur an diesem Tag das Allerheiligste des Tempels betreten durfte.

Wo der Bibeltext das Ritual in den Mittelpunkt stellt, betonen die Rabbinen nach Zerstörung des Tempels die innere Umkehr des Menschen: 'Wer sagt: Ich will sündigen und Buße tun, sündigen und Buße tun, wird keine Gelegenheit finden, Buße zu tun. (Wer sagt:) Ich will sündigen und der Versöhnungstag wird sühnen, da sühnt der Versöhnungstag nicht. Sünden zwischen Mensch und Gott sühnt der Versöhnungstag; (Sünden) zwischen dem Menschen und seinem Nächsten sühnt der Versöhnungstag erst, wenn einer seiner Nächsten besänftigt hat' (Mischna Joma 8,9). Somit wird erwartet, dass jeder Teilnehmer am Gottesdienst sich zuvor mit jedem, den er beleidigt oder mit dem er einen Streit gehabt hat, um Frieden bemüht.

Der Jom Kippur ist nicht nur ein Fastentag. Nach Auffassung der Rabbiner schließt die von der Bibel befohlene 'Enthaltung' auch den Verzicht auf Bad und ehelichen Verkehr, ja auch das Tragen von Lederschuhen ein. An diesem Tag, den man zum größten Teil in der Synagoge mit dem Gottesdienst verbringt, sind der Vorhang vor dem Toraschrein und die Decke auf dem Lesepult weiß; in vielen Gemeinden tragen auch die Betenden, zumindest jedoch der Vorbeter, den weißen 'Kitel', der auch das Sterbekleid sein wird.

Die Liturgie des Tages ist durch das mehrfach wiederholte Sündenbekenntnis geprägt, woraus ein Stück zitiert sei: 'Unser Gott und Gott unserer Väter. Es komme vor dich unser Gebet. Und verbirg dich nicht vor unserem Flehen; denn wir sind nicht so frech und hartnäckig, um vor dir zu sagen: Herr unser Gott und Gott unserer Väter, gerecht sind wir und haben nicht gesündigt. Ja, wir haben gesündigt. ... Es sei dein Wille, Herr unser Gott und Gott unserer Väter, unsere Sünden zu sühnen, unsere Übertretungen zu vergeben und alle unsere Vergehen zu verzeichnen: Die Sünde, die wir vor dir unter Druck oder willentlich begangen haben ... aus Herzlosigkeit ... in Gedankenlosigkeit ... durch leichtsinniges Reden ... öffentlich oder geheim...' (die Sünden sind alphabetisch, nicht thematisch geordnet).

Im Abendgottesdienst singt man ein aramäisches Gebet, das nach seinen Anfangsworten Kol Nidre heißt: 'Alle Gelübde, Entsagungen, Schwüre, Bannungen ... mit denen wir unsere Seelen von diesem Jom Kippur bis zum kommenden Jom Kippur binden ... seien alle aufgelöst ...' Von Anfang an war diese Formel innerjüdisch umstritten und von der nichtjüdischen Umwelt oft so mißverstanden, dass Juden damit jeden Eid von vornherein als ungültig erklären. Daher hat man oft versucht, den Text aus der Liturgie zu streichen; dennoch hat er sich bis heute allgemein gehalten. Richtig verstanden, meint der Text nur unbedachte, vielleicht auch schon wieder vergessene Äußerungen vor Gott, für die man sich entschuldigt; nicht dagegen befreit er von Verpflichtungen gegenüber Mitmenschen.

 

B. 'Kehret um und tut Buße' - zur Buße im Neuen Testament

Der vielfach im Neuen Testament erklingende Ruf zur Umkehr (Metanoia) meint die Abwendung von dem sündigen d.h. gottesfernen Dasein und die Hinwendung zur eschatologischen Heilsgemeinschaft der Gemeinde Christi.

Besonders deutlich kommt dies im Gleichniswort Matthäus 18, 1-3 zum Vorschein: 'In jener Stunde traten die Jünger an Jesus heran und sagten: Rabbi, wer ist der Größte im Himmelreich?

Da rief Jesus ein kleines Kind herbei, stellte es mitten unter sie und sagte:

Amen, ich sage euch: wenn ihr nicht umkehrt und seid wie ein solches Kind, werdet ihr das Himmelreich verfehlen...'

Jesus will mit diesem Gleichniswort nicht sagen, man müsse in die unverdorbene, d.h. unsündige kindlich-naive Bewusstseinshaltung eines Kindes zurückkehren. Vielmehr will Jesus mit seiner Zumutung, man möge so werden wie dieses Kind, eine Irritation auslösen in der Gestalt, "dass jemand merkt, wie das Kind ihn anrührt, ihn anrührt an einer Stelle, die er vielleicht ganz vergessen hatte, dass man denkt: Genau! Das ist es! Das habe ich bei all meinem Groß- und Größerwerden, bei all meiner Kompetenz und Klugheit inzwischen vergessen. Das Kind, das ich selber noch bin, habe ich ganz vernachlässigt, meine Kleinheit, meine Verletzlichkeit, meine Schutzbedürftigkeit, besonders dann, wenn es um Konkurrenz geht. Ich bin völlig besetzt von der Idee: Großsein zu müssen, den anderen übertrumpfen, mich durchsetzen, Ellbogen gebrauchen! Und nun stellt Jesus mitten in meinem Größengedanken dieses Kind vor mich hin, als wollte er fragen: Was machst du eigentlich mit deiner bedürftigen Seite? Hat sie eine Chance bei dir, einen Platz in deinem Leben? Was ist mit deinem Zärtlichkeitsbedürfnis? Was ist mit deinem Kleinheitsgefühl? Bist doch ein Menschen-Kind... Vielleicht lässt du dich durch dieses Kind bewegen zu spüren, dass du ein Menschenkind bist und bleibst, auch wenn du groß bist, klug, kompetent und erwachsen."

Buße tun, zur Umkehr bereit sein, heißt die Selbstrechtfertigung aufzugeben: Erkennt vor euch selbst und vor Gott, dass nichts so gut ist in eurem Leben, dass ihr vor Gott dastehen könnt als die, die etwas bringen, die eine Leistung haben.

Buße hat natürlich etwas mit Zerknirschung zu tun, mit dem Eingeständnis eigener Fehlbarkeit, aber Buße meint eben noch viel mehr: Buße ist die Anerkennung der lebenszerstörenden Gottesferne, also der Selbstrechtfertigung und Selbsterhöhung. Buße ist der Beginn eines neuen Weges, die Umkehr.

Heinz Otto Schaaf hat dies am Gleichnis in Lk 15 von den verlorenen Söhnen auf den Punkt gebracht:

"1. Aus der Erkenntnis der eigenen vertrackten Situation, aus der Anerkennung des Todesurteils des Gesetzes zu sagen, ich gehe nach Hause zurück. Ich will mich meinem Vater zuwenden. Ich will wenigstens sein Tagelöhner sein. Ich habe mehr nicht verdient. Ja, nicht einmal das verdient, aber um das will ich ihn bitten. Und daraus ergibt sich:

2. Buße tun heißt, sich mit dem Vater freuen, denn der Vater freut sich über dieses 'Sich-Ihm-Zuwenden' also den Vater Vater Vater- Gott Gott sein lassen. Er feiert ein Fest zu Gunsten des zurückkehrenden Sohnes. Er lädt den älteren Sohn zu diesem Fest mit ein. ‘Im Himmel wird mehr Freude sein über einen Sünder, der Buße tut, als über 99 Gerechte’ (Lk 15, 7). Gott freut sich, Gott freut sich der Buße, daraus ergibt sich Gott lädt ein zur Mitfreude.

Der Weg der Buße ist also die Umkehr zu Gott, zum Leben, zu dem, der den Menschen lebensfähig macht. Das Ziel der Buße aber ist die Freude, das Fest. Der Buß- und Bettag ist ein Tag, der aus der Beziehung von Gott her lebt. Das Gebet wendet sich zu Gott. Die Buße ist die Umkehr, also die Hinwendung zu Gott und zum Leben. Ziel von beidem aber ist der betende Lobgesang des aus der Buße und damit aus Gottes Handeln folgenden Lebens: Die Gottesfreude, die zur Mitfreude aufruft".

 

C. Bußzeiten in der reformatorischen Tradition

Die mittelalterliche Kirche kannte zwei Arten von Bußtagen: Besondere Bußtage, die kasuell und ohne Zusammenhang mit dem Kirchenjahr von der Obrigkeit, nicht von der Kirche, angeordnet wurden, und die kirchliche Ordnung entstammende Quatembertage, regelmäßige Fasttage mit Bußcharakter; die jeweils am Beginn der Vierjahreszeiten lagen. Die Bußtage der evangelischen Kirche, auch einfach Buß-, Bet- oder Fasttage genannt, führen beides fort. Sie stellen also keine Neuschöpfungen dar. Christoph Maaß schreibt:

"Als 1532 in Straßburg der erste evangelische Bußtag gefeiert wurde, geschah dies auf Anweisung eines Katholiken: Der Habsburger Kaiser Karl V. hatte für die Christenheit ein Gebet gegen die Türken geordnet, die bis vor die Tore Wiens vorgerückt waren. Die Protestanten schlossen sich Karls Gebetaufruf an, nachdem ihnen auf dem Reichstag zu Nürnberg vorläufig freie Religionsausübung (‘Nürnberger Religionsfriede’) zugestanden worden war. Aus demselben Anlass fanden wenig später evangelische Bußtage in Augsburg und Ulm statt. (...)

Obwohl die Reformation mit einer grundlegenden Kritik an der mittelalterlichen Bußlehre ihren Anfang nahm und das Bußwesen in den evangelischen Kirchen neu geordnet wurde, führten die Reformatoren sowohl die Tradition der kasuellen (außergewöhnlichen und angeordneten), als auch die dem Kirchenjahr eingeordneten Bußtage und -zeiten fort. Vor allem die Zahl der kasuellen Bußtage stieg in den folgenden beiden Jahrhunderten in den protestantischen Kirchen stark an. Gründe dafür waren der gestiegene fürstliche Einfluss auf die Kirchen in Deutschland und die schweren Notzeiten. Während des 30jährigen Krieges, der weite Teile Deutschlands verwüstete, wurden Buß- und Bettage sowie Bußstunden wöchentlich, häufig sogar täglich gehalten. (...)

Da jede Obrigkeit die Bußtage verschieden festsetzte, kam eine große Mannigfaltigkeit der Termine zu Stande. Noch 1878 gab es in 28 deutschen Ländern 47 verschiedene Bußtage an 24 Tagen. Doch war schon im 18. Jh. die Anzahl der Bußtage verringert und damit eine Entwicklung angebahnt worden, deren Ergebnis ein jährlicher Bußtag war. Ins 19. Jh. fallen die Bestrebungen, einen festen Termin eines solchen Bußtages für die evangelischen Kirchen Deutschlands zu finden. Die Eisenacher Konferenz schlug 1852 den Mittwoch vor dem letzten Sonntag des Kirchenjahres vor. Während sich die nord- und mitteldeutschen Landeskirchen 1893 dieser Regelung anschlossen, setzte sich in Süddeutschland dieser Termin erst im 20. Jh. durch. Bis 1994 war der Buß- und Bettag gesetzliche Feiertag, dann wurde er gegen den Widerstand der Kirchen im Zuge der Einführung der Pflegeversicherung in allen Bundesländern - außer Sachsen - gestrichen. Der zusätzliche Arbeitstag, so die Begründung für die Streichung, soll den Unternehmen als Ausgleich für ihren Beitragsanteil dienen.

Auch als mittlerweile rein kirchlicher Feiertag genießt der Buß- und Bettag gesetzlichen Schutz: Wenn Arbeitnehmer am Buß- und Bettag einen Gottesdienst besuchen wollen, brauchen sie darauf nicht zu verzichten - sofern nicht zwingende (betriebliche) Gründe dagegen sprechen.

Im Kirchenjahr festgelegte Bußtage sind in der Gegenwart neben dem Buß- und Bettag der Aschermittwoch und der Karfreitag. Jeder dieser drei Tage hat seinen eigenen Schwerpunkt: Der Karfreitag ist christusbezogen, der Aschermittwoch personenbezogen und der Buß- und Bettag gemeinschaftsbezogen. Generelle Bußzeiten im Kirchenjahr sind die Adventszeit und die Passionswochen."

Eine theologische Beurteilung des Bußtages darf nicht übersehen, dass der alte ‘Landesbußtag’ eine enge Verbindung von Staat und Kirche heraussetzte. Um die ‘Landeswohlfahrt’ besorgte weltliche Obrigkeiten ordneten Kraft der ihnen von Gott verliehenen Macht solche Staatsfeiertage an, die dann kirchlich zu begehen waren. Dieses Verständnis einer ‘christlichen Obrigkeit’ ist dem religiös-neutralen Staat fremd.

Wir haben heute davon auszugehen, dass der Bußtag ein rein kirchlicher Tag geworden ist. Dies bedeutet aber keineswegs einen Verzicht auf seine Öffentlicheitsbedeutung. Gerade der Bußtag hat die Kirche immer wieder an ihren Dienst gegenüber Gesellschaft und Staat zu erinnern, dass auch das gesellschaftliche und staatliche Leben in der Verantwortung vor Gott steht. Der Bußtag hat theologisch gesehen einen dreifachen Charakter:

'a) Er ist ein Tag fürbittenden Eintretens der Kirche für die Schuld unseres Volkes vor Gott.

b) Am Bußtag soll die Kirche in besonderer Weise ihr Wächteramt den öffentlichen Sünden unserer Zeit gegenüber ausüben.

c) Der Bußtag ist ein Teil der Gewissensprüfung für den einzelnen vor Gott; denn auch der einzelne Christ hat für den Willen Gottes in seinem Volk zu wirken.'

Gegenwärtig ist allerdings zu beobachten, dass der theologische Charakter des Buß- und Bettages sich verändert. Seine erinnernde und mahnende Bedeutung für die Geschichte und Gegenwart unseres Volkes und Staates droht verloren zu gehen. Gleichzeitig sind eindeutige Tendenzen zu einer individualisierenden ‚Gewissensprüfung‘ zu beobachten.

 

D. Terminologische Differenzierungen von Schuld, Sünde und Buße

Reinhold Mokrosch unterscheidet zwischen personaler und struktureller Schuld und Schuldverarbeitung. Personale Schuld liegt vor, wenn ein eindeutiger Schuldner bzw. Schädiger auftritt und wenn es einen Geschädigten bzw. Gläubiger gibt. Es existiert ein persönlicher Absender und ein persönlicher Adressat. Ebenso werden bestimmte Normen, Verbote und Werte übertreten bzw. nicht eingehalten. In den meisten Fällen hätte die schädigende Tat unterlassen werden können. Hier ist auch noch zu unterscheiden zwischen sogenannter ‘subjektiver’ und ‘objektiver’ Schuld. Subjektive Schuld liegt vor, wenn jemand aus niederen Gründen handelt (z.B. einbricht, um sich zu bereichern). Objektive Schuld besteht dann, wenn jemand ohne niedere Beweggründe einen anderen schädigt (z.B. aus Freude oder Depression ein Glas zu viel trinkt und jemanden anfährt).

Hiervon ist das Phänomen der strukturellen Schuld zu unterscheiden. Hier gibt es keinen eindeutigen Absender und keinen eindeutig Geschädigten. Der Schädiger ist ein strukturelles Gebilde wie z.B. Rüstung, Konsum, Werbung, evtl. auch Kultur oder Erziehung. Der Geschädigte ist zwar meistens eine Person oder eine Personengruppe, aber er bzw. sie lässt sich nicht eindeutig identifizieren. Ferner lässt sich oft schwer sagen, ob eine Norm, ein Gebot oder ein Wert übertreten worden ist. Oft ist es ja genau umgekehrt, dass Normen, Gebote und positive Werte eingehalten werden und dass gerade dadurch einen Schaden angerichtet wird.

Strukturelle Schuld ist eine Radikalisierung von kollektiver, d.h. Gruppenschuld.

Der Unterscheidung zwischen personaler und struktureller Schuld entspricht auch der Unterscheidung zwischen personaler und struktureller Schuldverarbeitung. Bei personaler Schuldverarbeitung gibt es verschiedene Formen: Entweder verarbeitet man Schuld durch Sühne, indem man eine Strafe übernimmt oder sich selbst bestraft. Auf diese Art möchte man sich mit dem Geschädigten bzw. der Gesellschaft wieder versühnen. Oder man verarbeitet sie durch Wiedergutmachung. Oder man bekennt durch Entschuldigungen seine Schuld und bittet um Vergebung, um so entschuldigt zu werden. Oder man bereut durch Reue und Buße die böse Tat und verbindet mit der Buße eine Wiedergutmachungs-Ersatzhandlung. Man nimmt freiwillig einen Schmerz auf sich.

Alle diese personalen Schuldverarbeitungen gelten bei struktureller Schuldentlastung nicht mehr. Sehr leicht schiebt man die Schuld hier auf Strukturen und empfindet keine persönliche Schuld oder Mitschuld. Häufig genug ist auch unklar, bei wem man sich zu entschuldigen habe. Nur wenige sind in der Lage, strukturelle wie personale Schuld zu verarbeiten.

Mit dem Auftreten struktureller Schuld und struktureller Schuldentlastung verändert sich auch das Phänomen Vergebung. Vergeben kann man nur Personen, nicht aber Strukturen. Vergebung ist in einer Gesellschaft struktureller Verschuldung kaum noch möglich.

Diagramm personaler und struktureller Schuld und Schuldentlastung


Personale Schuld, - meistens manifeste, intendierte Schuld

Strukturelle Schuld, -
meistens latente, nicht intendierte, indirekte Schuld

Unterscheidungen zwischen Versagen, Vergehen, Verschulden oder zwischen subjektiver und objektiver Schuld sind möglich.

Die traditionellen Unterscheidungen sind nicht mehr möglich.

Personale Schuldentlastung durch Sühne, Wiedergutmachung, Entschuldigung, Reue, Buße oder/und Vergebung

Strukturelle Schuldentlastung durch Schuldzuweisungen an die Strukturen.
Vergebung ist möglich, aber enorm schwierig.

 

 

 

Für die Wahrnehmung des Sündenverständnisses bei Jugendlichen unterscheidet M. Meyer-Blanck zwischen Übertretungs- und Unterlassungssünde:

'Wenn Beichte und Buße mit dem Ordnungsverständnis des Menschen entscheidend zusammenhängen, dann muss Sünde und Sündenvergebung heute anders verstanden und erklärt werden als vor 30-40 Jahren. Meine These ist, früher galt als Sünde das Übertreten einer Ordnung, heute gilt als Sünde zunehmend das Verpassen einer Chance zur Selbstwerdung und Qualifikation. Heute gilt alles als erlaubt, was einen selbst weiterbringt und damit den Grundkonsens dieser Gesellschaft nicht gefährdet. Eindeutiges Indiz für diesen Wandel ist die Auffassung von Ehe und Partnerschaft. Zunehmend gilt nicht derjenige als schuldig am Zerbrechen einer Ehe, welcher eine neue Verbindung eingeht, sondern der andere, welcher zurückbleibt. Der eine hat sich ‘neu orientiert’, sagt man, während der andere, so heißt es, ‘sich nicht weiterentwickelt’ hat. Der Heidelberger Theologe Gerd Theißen hat dazu geschrieben: (...) "in modernen, permissiven Gesellschaften gerät der ‘in normalen’ Bahnen lebende Mensch manchmal in Erklärungsnot: Warum ist der immer noch mit seiner ersten Ehefrau verheiratet? Ist da etwas schiefgelaufen - oder hat er irgendwelche Probleme unter den Teppich gekehrt?' (...)

Der Mensch leidet unter Leistungsdruck. Früher stand man unter Druck, Gebot und Ordnung zu erfüllen, heute mehr unter Druck, Anforderungen zur Selbstqualifikation zu erfüllen. Beide Male gibt es auch das daraus entstehende Gefühl, dem Druck nicht zu genügen, nicht in der Ordnung zu sein und damit: nicht in Ordnung zu sein, Sünder zu sein, wie wir es in biblischer Sprache sagen. Aber im zweiten, neueren Sündenverständnis wird Schuld nicht vor allem gegenüber dem anderen, sondern gegenüber sich selbst empfunden. Ich genüge nicht, ich verpasse mein Leben, ich bin nicht wertvoll, nicht in Ordnung. Dieses Erforschen des eigenen Inneren, diese Gewissensqual ist sicher urprotestantisch. Aber durch die Modernisierungsschübe der letzten Jahrzehnte haben wir doch eine neue Qualität. Die Soziologen nennen das ‘Individualisierung’, und der Begriff hat nicht umsonst bereits alltagssprachichen Charakter angenommen.(...)

Das Sündenerlebnis von Jugendlichen macht sich nur wenig am Übertreten von Ordnungen, Geboten und Verboten fest. Denn das jugendliche Übertreten ist eher mit Spaß an der Auseinandersetzung verbunden, weil es um die zu gewinnende Selbstständigkeit geht.

Aber gerade im Jugendalter kommt erstmals die Versäumnis-Sünde bedrängen zu Bewusstsein: Ich genüge nicht den Anforderungen, bin nicht schön, nicht liebenswert; ich müsste attraktiver sein, mehr leisten, mehr Freunde haben, kurz: mehr an mir arbeiten, um in Ordnung zu sein. So formuliert springt die Aktualität der Rechtfertigungslehre geradezu in die Augen, besagt diese doch, dass den Menschen nichts Äußerliches 'frei oder fromm machen kann, wie es auch immer genannt werden mag; denn seine Frommheit und Freiheit, wiederum seine Bosheit und sein Gefängnis sei weder leiblich noch äußerlich' (Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen).(...)

Der Versuch, vor den Augen der anderen in Ordnung zu sein, lässt sich mit dem Begriff der Selbstrechtfertigung beschreiben. Sünde heißt, ‘dass Menschen und ihre Mitwelt überfordert, überstrapaziert werden. Sündigen bedeutet stets eine Überanstrengung der Geschöpfe. (...) Im Vorgang der Selbstrechtfertigung missbrauche ich andere, weil ich sie so gebrauche, als wären sie Gott.’ (Christof Gestrich) Andere Menschen und Dinge sollen mich rechtfertigen. Wenn sie dabei vergötzt werden, wird ihnen nichts zu viel, sondern zu wenig Ehre zuteil. Denn sie werden als Instrumente missbraucht. (...)

Um mich dem Versuch der Vergötzung durch andere zu befreien, müsste die Feier der Buße dieses Wort unerhörbar von Gott her vernehmen lassen: 'Du bist würdig, zu existieren; dein Leben ist annehmbar für die anderen; in deiner Existenz liegt Sinn. Gut, dass es dich gibt.' (...)

Sünde ist theologisch - dies ist unbestritten - als Trennung von Gott zu verstehen. Ich meine Beschreibung von Sünde als Defiziterleben, als Versäumnis, als Existenzmangel. Richtig, so wird man sagen können: Gerade heute müssten Menschen besonders gut verstehen können, was Sünde ist. Ein Mangel an Leben, an Erfüllung, an Zufriedenheit mit sich selbst, und zwar verursacht durch den Versuch, diesen Mangel selbst abzuhelfen durch Betriebsamkeit und Vergötzung von Menschen, Dingen und Prinzipien. Jedes Scheitern an diesem Punkt bringt den Menschen seinen Mangel nur noch schmerzhafter vor Augen, und man wird hier von einer modernen Form der Werkgerechtigkeit sprechen können. (...) Vergebung müsste in diesem Falle heißen, sich der eigenen Überanstrengung und der falschen Beanspruchung anderer entgegenzuwirken."

 

E. Zum Verständnis von Schuld und Vergebung bei Jugendlichen

Der einst an der Universität Breslau lehrende katholische Theologe Josef Wittig gibt uns in dem autobiographischen Aufsatz 'Die Erlösten', 1922, einen interessanten Einblick in das Glaubensverständnis katholischer Jugendlicher vor über 100 Jahren. So schildert er folgendes Unterrichtsgespräch aus seiner Schulzeit:

Wir lernten die Geschichte von der Verkündigung Mariens und wie der Engel sprach: 'Er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden.' Glücklicherweise gab uns gerade der Lehrer die Bibelstunde, nicht der geistliche Herr, den wir nie fragen mochten, ja zu fragen ganz für ausgeschlossen, unnötig, lächerlich fanden, da er ja doch alles gut, alles vollständig, alles unfehlbar sagte. Den Lehrer hielten wir zwar auch für unfehlbar, aber er schnupfte, war also menschlichen Dingen zugänglich. Als er uns von dem großen Glück der Erlösung sprach und immer wieder das Wort des Engels einfließen ließ: 'Er wird sein Volk erlösen von seinen Sünden', hob mein 'Nebenmann', der kleine Roter Heinrich, die Hand und fragte: 'Da können wir also nicht mehr sündigen?' Er fragte beinahe im Tone des Bedauerns; denn er stellte sich das Sündigen nach der Schulzeit sehr schön vor. Der Lehrer war eine Zeit lang ganz still und dachte nach. Dann stellte er die Gegenfrage: 'Kann ich dich aus dem Gefängnis erlösen, wenn du nicht darin warst, Roter Heinrich?' Mein anderer Nachbar, der Beyer Paul, der mich unterdes angestoßen und mir mit einem Seitenblick auf den Lehrer zugeflüstert hatte: 'Du, da weß's ne!', sprang jetzt auf und rief: 'Der Roter Heinrich hat schon oft gesündigt, er tut bloß so.' Damit war leider der theologische Diskurs gestört; der Beyer Paul bekam erst zwei auf die Hände, und der Lehrer konnte uns nun ungestört das 'Resümee' der Verhandlungen mitteilen: 'Jesus hat uns von der Sünde erlöst, indem er uns die Möglichkeit gab, durch das Sakrament der Taufe und der Buße Verzeihung unserer begangenen Sünden zu erlangen.'

Besonders glücklich waren wir über diese Erklärung nicht. Beyer Paul, der sich noch die Hände rieb, murmelte: 'Hätte er uns lieber vom Beichten erlöst!'

Die kleine Episode besitzt für uns Unterrichtende etwas Tröstliches, weil es dem Vorurteil wehrt, dass früher alles besser und leichter gewesen sei: Weder sogen fromm erzogene Schülerinnen und Schüler die Weisheiten ihrer Lehrkräfte in voller Dankbarkeit nur so in sich auf, noch wussten die Lehrer jederzeit die Formeln theologischer Richtigkeiten mit eigenen Glaubenserfahrungen zu füllen.

Der entscheidende Unterschied zu unserer heutigen Situation dürfte trotz aller lebenspraktischer Ferne kirchlicher Lehre in der Selbstverständlichkeit einer durch christliche Tradition und Sprache geprägten Lebenswelt liegen, in der die damaligen Kinder und Jugendlichen aufwuchsen. Der Beyer Paul und seine Klassenkameraden waren sich darin einig, dass der Roter Heinrich schon häufiger 'gesündigt', nach ihrem Verständnis also etwas getan hat, was an sich angenehm und schön ist, aber leider durch Gott, oder besser durch die Kirche verboten wurde. Für den späteren Theologieprofessor Josef Wittig stellte sich angesichts der Beichtpraxis der katholischen Kirche die Frage, wie die in Jesus Christus erfüllte Verheißung von der Sündenvergebung im Leben des Christen existenziell erfahrbar werden kann. Für Paul Berger, Josef Wittig und die anderen bestand einer lebensweltlichen Relevanz der christlichen Überlegung kein Zweifel. Ihr Unmut richtete sich ja auch weniger gegen die 'Sache' - dass der Roter Heinrich erlösungsbedürftig ist, gilt als ausgemacht -, sondern in berechtigter Weise gegen die Art ihrer "unfehlbaren" Vermittlung: "Du, da weß's ne!"

Die zu Wittigs Zeiten noch zweifelsfrei religiös konnotierte Bedeutung des Wortes 'Sünde' als Verstoß gegen Gottes Gebot hat in der Gegenwart einen offenkundigen Wandel vollzogen. Seine zunehmende moralische Aufladung hat zu einem religiösen Bedeutungsschwundes des Sündenbegriffs geführt. Der Begriff leistet heute durch seine Ironisierung und Marginalisierung der an sich nicht normengerechten Verhaltensweisen Vorschub. Das leicht verzeihliche Kavaliersdelikt von einst, ist die 'Umwelt-' oder 'Verkehrssünde' von heute.

Zum einen besitzt der umgangssprachlich benutzte Sündenbegriffs eine verschleiernde Wirkung:

Der umgangssprachliche Sündenbegriff dient eher der Verschleierung von Sünde als ihrer wirksamen Entlarvung. Der Grund hierfür besteht in seiner zweifachen Bedeutung: Er enthüllt und verhüllt zugleich, er beschuldigt und entschuldigt in einem; er wird in doppelter Bedeutung eingesetzt. Besonders auffallend ist dies im Blick auf den Begriff der "Umweltsünde".

Einerseits kennzeichnet dieser Begriff die meist versteckte, jedoch verheerende Tragweite eines Fehlverhaltens gegenüber der Umwelt. Er legt offen, dass die Umweltzerstörung kein leicht verzeihliches Delikt darstellt, sondern, wenn auch unscheinbar und schleichend, zur Zerstörung der Umwelt beiträgt. Andererseits entschuldigt der Sündenbegriff dieses Verhalten zugleich.

Vermutlich tritt diese Wirkung ein, weil "Sünde" ein Begriff aus der religiösen Sprache ist und darum im Rahmen unserer säkularen, alltäglichen Sprache veraltet und deplaziert wirkt und damit die Beschuldigung wieder zurücknimmt.

Zwar dient der Sündenbegriff der Entdeckung, Benennung und Brandmarkung der Zerstörung von Lebenszusammenhängen, doch zugleich bezeichnet er sie als etwas, das nicht sonderlich ernst genommen zu werden verdient. Doppeldeutig, weil zugleich Fehlverhalten bloßlegend und verschleiernd, alarmierend und besänftigend, geistert der säkulare Sündenbegriff durch unsere Sprache.

Zum anderen wohnt in dem säkularen Sündenbegriff durchaus eine Ambivalenz inne:

Wird eine Diät wirklich nur ein einziges Mal durch den unerlaubten Genuss eines Stückchens Torte unterbrochen, so wird dieses Verhalten noch nicht gleich mit dem Wörtchen 'Sünde' bezeichnet. Hier gilt vielmehr: 'Einmal ist keinmal.' 'Ertappen' wir uns aber dabei, dass wir in größerem oder gar zunehmenden Maße die Ausnahme zur Regel werden lassen und immer häufiger gegen die Diätregeln verstoßen, so geben wir diese Erkenntnis mit den Worten preis: "Heute sündige ich mal wieder." Diese charmante Selbstbezichtigung ist jedoch mehr als bloße Spielerei. In ihr spricht sich das feine Gespür für die im Verborgenen lauernde Gefahr aus, die durch den Genuss der unerlaubten Tortenstückchen entsteht.

Das leicht dahingesprochene Wörtchen 'Sünde' bezeichnet nicht einen rasch wiedergutzumachenden, ignorierbaren Fehler bzw. die einmalige und darum unwesentliche Überschreitung. Es bezeichnet und enthüllt vielmehr die Tatsache, dass ein bestimmtes, meist unbewussten Verhaltens zu unabsehbaren, unkontrollierbaren, ja irreparablen Schäden führt oder führen kann.

Der Begriff 'Sünde' steht also für das Risiko oder die akute Gefahr, die mit dem durch ihn bezeichneten Handeln oder Verhalten verbunden ist. 'Sünden' im säkularen Sinne sind nicht einfach nur ein paar zerbrochene Fensterscheiben, reparable Schäden oder die unerhebliche Verletzung von Umgangsformen. Mit 'Sünde' etikettiert die Umgangssprache die im Verborgenen vorhandene mögliche oder aktuelle Verursachung weit reichender Schäden, welche mit ihren Folgen nur schwer oder gar nicht mehr wiedergutzumachen sind.

Die Werbung z.B. für Zigaretten oder für Kreditkarten versucht dem Unbehagen gegenüber den Folgen der 'kleinen Sünden' - mögliche körperliche Schädigungen oder unverhältnismäßig hohen Geldausgaben - vor allem mit bekenntnishaften Selbstaussagen etwas entgegenzusetzen:

Ich rauche gern.
Die Freiheit nehme ich mir...

Diese Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Interessant, da auch noch recht neu, ist der Werbeslogan für das neuartige alkoholische Mixgetränk 'Sin' (engl.: Sünde).
'Sin'. Lebe deine Sünden.

Die religiöse Konnotation dieses Satzes ist nicht zu übersehen. Jedoch drängt sich die Frage auf, warum der Slogan nicht 'Liebe deine Sünden' heißt - die Assoziationen zu dem jüdisch-christlichen Grundgebot 'Liebe deinen Nächsten' oder zu dem Schlager 'Kann denn Liebe Sünde sein?' würde sich unweigerlich einstellen und im kollektiven Konsumgedächtnis erinnert werden. Allerdings würde eine Formel wie 'Liebe deine...' das zu Liebenden als etwas Extraordinäres auszeichnen, das der Liebe Wert ist, und zum anderen wird das zu Liebende als etwas (noch) nicht eigenes qualifiziert, das durch den Akt des Liebens erst angeeignet wird. Der Slogan 'Lebe deine Sünden' erklärt hingegen die Sünde - theologisch durchaus zustimmungsfähig - als dem Menschen ureigenst zugehörig, verlangt aber, nicht nur zu seiner eigenen Sündhaftigkeit zu stehen, sondern ermutigt dazu, diese seine Sünde auszuleben: 'Stehe positiv dazu, dass du ein Sünder bist, und lebe dich aus!'. Das von Sigrid Brandt diagnostizierte Unbehagen an der Sünde wird nun als neue Chance der Selbstverwirklichung dargestellt. Die Verquickung einer vulgär-psychotherapeutischen 'Think positive!' - Ideologie mit der christlichen Anthropologie propagiert: Die Sündenvergebung erfolgt durch die Sündenerfahrung. Dieser Slogan rekurriert also nicht auf einen moralisierenden Sündenbegriff, so wenig er ein säkularisiertes Menschenbild voraussetzt: Homo peccator est! Die Rechtfertigung aus dem Sündersein geschieht freilich im Stil der Selbstrechtfertigung: 'Lebe deine Sünde.'

Konnten in den bisherigen sprachkritischen Überlegungen deutlich gemacht werden, dass das Wort 'Sünde' im alltäglichen Sprachgebrauch nicht ohne weiteres dem säkularen Wort 'Sünde' semantisch zu subsumieren ist, noch dass die religiöse Semantik des Wortes durch eine moralische substituiert ist, stellt sich nun die Frage, welche Bedeutung das Wort 'Sünde' im Verstehenshorizont Jugendlicher einnimmt.

Der Jugendsoziologe Heiner Barz hat im 2.Teil seines Forschungsberichtes 'Jugend und Religion' (1992) unter dem Begriff 'Semantische Erosion - Oder: Traditionsabbruch en détail' seine Beobachtungen zum semantischen Verlust religiös geprägter Sprache bei Jugendlichen am Beispiel des für das Christentum konstitutiven Begriffs 'Sünde' festgestellt, dass der Begriff 'Sünde' mit seiner religiös gefüllten Semantik, anders als der säkulare Begriff 'Schuld', nicht mehr zum aktiven Wortschatz Jugendlicher gehört - eine Feststellung, der sicherlich viele, die im Konfirmanden- oder Religionsunterricht mit Jugendlichen zu tun haben, zustimmen können. Jugendliche deuten, so Barz, den Begriff Schuld "in eher wertfreiem Sinne", während der Begriff Sünde sowohl die reale, 'sündhafte' Handlung als auch "die Absichten, die Gesinnung ('unreine Gedanken')" bewertet und damit eine "deutlich moralische Komponente" hat. Die Ablehnung des Begriffs Sünde durch die Jugendlichen sei "wegen seiner Antiquiertheit ('alt und schimmelig', 'Beichte', 'gegen die Zehn Gebote verstoßen') und den damit verbundenen, überholten, strengen Moralvorschriften ('kein Sex vor der Ehe')" zu erklären. Ob diese Ablehnung tatsächlich mit den 'religiösen Konnotationen' zu begründen ist, wäre nun zu fragen, zumindest verhält es sich so, dass offenbar ein inhaltlich sehr unscharf gefasster, moralisierender Sünden-Begriff bei Jugendlichen im Gebrauch ist. Dies bestätigt auch Barz Auswertung der Aussagen kirchennaher Jugendlicher, die den Begriff Sünde "bereits" kritisch reflektieren, "und z.T. als überholt und/oder unverständlich ('Urschuld?') ablehnen, und nur noch bei wenigen nicht-kirchennahen Jugendlichen deutet sich überhaupt noch "die Bereitschaft an, den Begriff Sünde zu akzeptieren".

Die Ablehnung des Begriffs Sünde bei Jugendlichen führt Barz darauf zurück, dass "die Bezugnahme auf religiöse Dogmen der Eigenverantwortlichkeit im Zeitalter des Individuums" widerstrebt. Auch wenn darauf hinzuweisen ist, dass das 'religiöse Dogma' eines moralisierenden Sündenbegriffs eine Projektion Jugendlicher ist, bzw. das Relikt einer bestimmten Erziehungsmaxime - vgl. Josef Wittig - widerspiegelt und mit dem christlichen Sündenbegriff nicht in Deckung zu bringen ist, muss dieses Selbstverständnis bei Jugendlichen zunächst einmal akzeptiert werden.

Barz begründet seine Beobachtung, dass der Begriff Schuld bei Jugendlichen gebräuchlicher als der Begriff Sünde sei und diesen ersetzt habe, mit der Vermutung, dass "hier die religiöse Dimension fehlt". Eher ist jedoch anzunehmen, dass der Begriff Schuld aus dem Grunde favorisiert wird, weil er im Sinne von Verantwortung, Urheberschaft oder Verursachung der moralisierenden Dimension entbehrt.

Es wäre ein Missverständnis, Jugendlichen zu unterstellen, dass sie sich unter Berufung auf das autonome und freie Individuum, das von Natur aus gut ist, der christlichen Sündenlehre versperren würden, um damit ein in sich geschlossenes, areligiöses Selbstverständnis von Jugendlichen zu konstruieren, das durch die Begriffe wie Autonomie und Selbsterlösung geprägt und für religiöse Erfahrungen von Sünde, Buße, Umkehr und Vergebung unempfänglich ist. Barz' vermutlicher Irrtum besteht darin, dass er die Begründung für die 'semantische Erosion' des Wortes Sünde nicht in den moralischen, sondern in den religiösen Konnotationen sucht und damit letztlich Ursache und Wirkung vertauscht.