Das individuelle Freiheitsgefühl ist für unser Zusammenleben unerlässlich - Kontrovers – Ist der Wille unfrei?

von Susanne Jacob

 

Kann ich wollen, was ich will? – schon diese Frage (bekannt geworden durch den Philosophen Schopenhauer) erscheint dem gesunden Menschenverstand absurd. In der Regel wissen wir, was wir wollen und wenn nicht, dann wissen wir zumindest, was wir nicht wollen. Und dabei verstehen wir uns ebenso selbstverständlich als „frei“. Wir haben das Gefühl, selbst entscheiden zu können, was wir wollen oder nicht wollen.

Aber was meinen wir eigentlich damit, wenn wir vom Wollen sprechen? Beim näheren Hinsehen ist damit Unterschiedliches gemeint. „Ich will ein Eis!“ ist der Ausdruck eines sinnlichen Bedürfnisses (und manchmal auch einer festgefahrenen Eltern-Kind-Interaktion). Diese Bedürfnisse scheinen gelegentlich über uns zu kommen.

Die andere Situation kennen wir aber auch: Wir haben Appetit auf ein Eis. Wir wollen diesem Appetit aber nicht nachgehen. Und wir verzichten, weil wir es so wollen. Dieses Wollen ist der Ausdruck der Vernunft und zeigt, dass wir (zumindest theoretisch) in der Lage sind, unser Handeln unabhängig von sinnlichen Beweggründen zu steuern.

Die uralte und sehr komplexe Diskussion über die Willensfreiheit geht aber darüber noch hinaus. Sie forscht nach letzten Beweggründen, nach logischen Beweisen dafür, dass unser Wille frei ist – oder eben nicht. Die Hirnforschung dominiert gegenwärtig die akademische Diskussion über die Willensfreiheit. Sie scheint unsere gefühlte Willensfreiheit widerlegen zu können: Wir glauben nur, dass wir frei sind. Die Analyse unserer Hirnströme zeigt ein anderes Bild: Wir handeln schon bevor wir merken, dass wir etwas wollen. Unsere Vernunft, unsere freie Entscheidung hinkt Millisekunden hinterher. Der Verzicht auf den Eisbecher – so erzählen es unsere Hirnströme – ist nur das Ergebnis widerstreitender Motive.

Alles Biologie!
Viele Wissenschaftler unterschiedlicher Professionen sind beeindruckt von diesen Forschungen. Endlich gibt es empirische Beweise für die Frage danach, was sich nun eigentlich hinter unserem Wollen verbirgt. Wo sich Philosophen und Theologen darüber streiten, ob wir den Men­schen an sich als autonomes Subjekt oder eher als von Gottes Gnade abhängiges Geschöpf verstehen müssen, punktet die Hirnforschung mit einer scheinbar unmittelbar einleuchtenden Evidenz. Autonomie wird zur Eigenschaft menschlicher hirnorganischer Prozesse. Mehr nicht.

Aber sind es denn überhaupt Beweise, die wir suchen, wenn wir über die Freiheit des Willens nachdenken? Benötigt unser Wollen, um frei zu sein, eine letztgültige Begründung? Oder benötigen wir nicht gerade ein sich als autonom wahrnehmendes Subjekt, um Neues hervorzubringen, nachhaltig zu handeln, unseren Nächsten zu lieben, ja sogar, um zu glauben?

Längst wird das scheinbar Unvereinbare – Willensfreiheit und Determinismus – auch zusammen gedacht. Die empirischen Beweise, die eine Willensfreiheit ad absurdum zu führen scheinen, können die Darlegungen Kants zur Autonomie des Willens als Bedingung der Möglichkeit moralischen Handelns nicht wirklich aushebeln. Und auch die Lehre der lutherischen „Freiheit des Christenmenschen“ steht nicht im Widerspruch dazu, von Gott zuerst geliebt und begnadigt zu sein. Im Gegenteil: die scheinbar paradoxe Aufforderung, frei und niemandes Knecht und zugleich jedermanns Knecht zu sein, impliziert eine ganze Ethik. Sie skizziert die Grundlage freiheitlich christlichen Handelns – immer auf den anderen bezogen und in der Annahme einer von Gott geschenkten Freiheit.

Das individuelle Freiheitsgefühl ist für unser Zusammenleben unerlässlich: Die Fähigkeit, Handlungen an Gesetzen und Regeln zu orientieren, hat schon Immanuel Kant als Kern des freien Willens beschrieben. Unser Heil können wir nicht selbst erwerben. Zum Glück. Aber wir sind fähig, unser Handeln an den Geboten und Regeln zu orientieren, die Ausdruck dieses Glaubens sind, in Ehrfurcht vor dem Schöpfer, in Achtung seiner Geschöpfe und in der Bewahrung seiner Schöpfung. Und es liegt in dieser Freiheit unseres Willens, sich im Letzten nicht auf sich selbst zu beziehen. Auch dafür ist sie unverzichtbar.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2011

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