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Was ist gemäß Traktat „Bawa Metzi’a” fair? Quellenarbeit zum jüdischen Fundrecht und Aktualitätsbezug der Misch-nah zur Lebenswelt der Schüler*innen

von Mark Krasnow


Hermeneutik im Judentum

Die jüdische Lehre gründet zweifelsohne auf der תּוֹרָה („Torah“, wörtlich: „Weisung, Lehre“; hebräische Bezeichnung für den Pentateuch). Allerdings reduziert sich die jüdische Schriftauslegung nicht einzig und allein auf diese fünf Bücher. Die jüdische Traditionsliteratur stützt sich nämlich auf eine Fülle weiterer richtungsweisender Schriften, die sukzessive im Laufe der Geschichte des jüdischen Volkes verfasst worden sind. Von grundlegender Bedeutung für das Judentum ist daher, dass מֹשֶׁה („Mosche“/Moses) auf dem Berg Sinai von G’’tt1 nicht nur die תּוֹרָה שֶׁבִּכְתָב („Torah schebichtaw“/„schriftliche Torah“), sondern zeitgleich auch die תּוֹרָה שֶׁבְּעַל פֶּה („Torah schebe’al Pe“/„mündliche Torah“) erhalten hat. Die „mündliche Torah“ dient der Auslegung der „schriftlichen Torah“. Zudem erklärt sie all jene Passagen, die den Verstehenshorizont von uns Rezipient*innen, d. h. gleichermaßen Hörer*innen wie Leser*innen, übersteigen. Somit ist die Hermeneutik eine systematisierte Methode, die dem Judentum seit jeher genuin ist und bis heute einen wichtigen Grundpfeiler der jüdischen Lehr- und Lerntradition bildet. Beide Ausführungen der Torah wurden von Generation zu Generation tradiert, wobei die jeweiligen Überlieferungstraditionen von Literalität und Oralität entsprechend zum Tragen kamen. Das bedeutet, dass die „schriftliche Torah“ in ihrer Gestalt als Schriftrolle schon immer physisch weitergeben werden konnte, während die Überlieferung im Fall der „mündlichen Torah“ zunächst tatsächlich nur in verbaler Form erfolgte.

Erst nach der Zerstörung des Zweiten בֵּית הַמִּקְדָּשׁ („Bejt haMikdasch“ / wörtlich: „Haus des Heiligtums“; hebräische Bezeichnung für den Tempel in Jerusalem) im Jahr 70 unserer Zeitrechnung (u. Z.) und mit dem Beginn der Diasporasituation begannen die Rabbinen – genauer gesagt die תַּנָּאִים („Tanna’im“/ aramäisch; wörtlich: „Wiederholer; Lehrer“) – mit der Niederschrift dieser bisher ausschließlich mündlich tradierten Lehre. Auf diese Weise entstand die מִּשְׁנָה („Mischnah“/wörtlich: „Wiederholung“). Dieses Werk gilt als erste Sammlung religionsgesetzlicher Überlieferungen im Judentum und wurde etwa im Jahr 220 u. Z. endredigiert.

Doch selbstverständlich waren die hermeneutischen Prozesse mit der Endredaktion der Mischnah alles andere als abgeschlossen. Neue Gelehrtengenerationen – die אַמוֹרָאִים („Amora’im“/ aramäisch; wörtlich: „Sprechende; über etwas Berichtende“) – führten die Diskussionen der „Tanna’im“ fort, kommentierten das Religionsgesetz weiter und beleuchteten es unter anderen Aspekten. Diese neuen sowie weiterführenden Auslegungen, die bis etwa ins 7. Jahrhundert 2 stattfanden, sind in der גְּמָרָא („G’mara“/aramäisch; wörtlich: „Vollendung“) zusammengefasst worden.

Ganz im Sinne der rabbinischen Hermeneutik fand die soeben beschriebene, äußerst produktive Auslegungstradition mit dem Abschluss der G’mara ebenfalls kein Ende. So ist dem Interpretationseifer jüdischer Gelehrtengenerationen letztendlich die Entstehung des תַּלְמוּד („Talmud“/wörtlich: „Unterweisung; Lehre“) zu verdanken, der sich wiederum aus zwei großen – uns bereits bekannten – Teilen zusammensetzt: der Mischnah und der G’mara. Darüber hinaus finden sich im Talmud weitere Diskussionen der Rabbinen, die weit ins 8. Jahrhundert reichen.3 Da alle rabbinischen Diskussionen der jüdischen Traditionsliteratur grundsätzlich Gesprächsprotokollen ähneln, erhielt kurzerhand alles, was in jener Zeit gelehrt wurde, Einzug in den Talmud. Aus diesem Grund weist dieses umfangreiche Werk insgesamt enzyklopädischen Charakter auf. Des Weiteren wurde der Talmud im Hochmittelalter um den ausführlichen Kommentar des bedeutendsten jüdischen Gelehrten Raschi – ein Akronym für Rabbi Schlomo Ben Jitzchak – ergänzt, der im 11. Jahrhundert in Frankreich und Deutschland wirkte. Außerdem ist es für die rabbinische Hermeneutik üblich, Aussagen zu manifestieren, indem man sich auf Rabbinen aus vorhergehenden Gelehrtengenerationen beruft und all diese Äußerungen gleichzeitig, gleichwertig und insbesondere wertfrei parallel tradiert. So erklärt sich auch der voluminöse Gesamtumfang der rabbinischen Traditionsliteratur.

Ausgehend von dem bisher Dargestellten versteht es sich nahezu von selbst, dass der rabbinische Diskurs auch in den auf das Mittelalter folgenden Epochen existierte und in Form von sog. „Responsen“ sogar bis heute aktuell geblieben ist. Ziel war und ist es hierbei, von einer religionsgesetzlichen Autorität, d. h. einem bekannten jüdischen Rechtsgelehrten, zu einem bestimmten Anliegen oder Sachverhalt eine normative Entscheidung zu erhalten. Diese Entscheidungen basieren zwar stets auf den Regelungen aus der Torah, zeigen jedoch vielmehr auf, wie die biblischen Gesetze im Alltag praktiziert bzw. gelebt werden können. Diese kasuistischen Zusammenhänge unterstreichen die Quintessenz des Judentums durch alle Zeiten hindurch: Um Fehlschlüsse zu vermeiden, ist es untersagt, einen Tanachvers aus seinem Kontext zu reißen und ihn losgelöst von jeglicher tradierten rabbinischen Auslegung zu betrachten. Nur wenn man diesen Grundsatz beachtet, ist es möglich, das jüdische Religionsgesetz unvoreingenommen als wesentlichen, lebensbejahenden Bestandteil jüdischer Orthopraxie zu begreifen.

 


Praxisbeitrag: Verloren! Gesucht … Gefunden?

Im Folgenden soll eine Unterrichtsstunde für den Sek I4 vorgestellt werden, die im Rahmen der Unterrichtseinheit „Tanna’im und Amora’im: Persönlichkeiten des rabbinischen Judentums“ durchgeführt wird. Die Unterrichtseinheit befasst sich folglich mit einer historisch-soziokulturellen und, wie bereits im einführenden Teil dieses Beitrages aufgezeigt, für das Judentum bis heute relevanten Thematik. So lernen die Schüler*innen in den vorausgehenden Unterrichtsstunden bereits verschiedene historische Ereignisse und Persönlichkeiten kennen, die unmittelbar mit der Entwicklung des rabbinischen Judentums in Verbindung stehen. In diesem Zusammenhang befassen sich die Schüler*innen mit den Kontroversen zwischen den Gelehrten Hillel und Schammaj, der Anordnung der „Takkanoth“ (sog. „Notstandsverordnungen“) durch Rabbi Jochanan Ben Sakkai nach der Tempelzerstörung im Jahr 70 u. Z. sowie mit Rabbi Jehuda haNassi und der Redaktion der Mischnah. Ebenso erfolgt bereits ein erster Zugang zu einem Mischnatext (Mischnahtraktat בָּבָא מְצִיעָא [„Bawa Metzi’a“ / aramäisch: „Mittlere Pforte“], Kapitel 1).

Im Rahmen der Vorgaben durch die verschiedenen Kerncurricula und Bildungsstandards der einzelnen Länder eignet sich das in diesem Mischnahtraktat dargestellte jüdische Fundrecht hervorragend, um die Lernenden für die mündliche Lehre und die damit einhergehenden moralischen Verpflichtungen gegenüber ihren Mitmenschen zu sensibilisieren. In der hier präsentierten Unterrichtsstunde lernen die Schüler*innen auf Grundlage des Mischnahtraktates „Bawa Metzi’a“, Kapitel 2, Mischnajoth 1-2.6 die grundsätzlichen Prinzipien des jüdischen Fundrechtes kennen und setzen sich in einem handlungs- und problemorientierten Vorgehen mit der Frage auseinander, wie man sich seinen Mitmenschen gegenüber fair, d. h. regelkonform und gerecht, verhalten sollte, sobald man etwas gefunden hat. In diesem Zusammenhang erkennen die Schüler*innen, dass die Mischnah und ihre Vorschriften auch heute noch aktuell sind und einen Wegweiser für das Zusammenleben in der modernen Gesellschaft darstellen.

Der Mischnahtraktat „Bawa Metzi’a“ beschäftigt sich mit dem in der Torah verankerten Grundsatz der מִצְוַת הֲשָׁבַת אֲבֵדָה („Mitzwath Haschawath Awedah“5 ; „Rückgabe eines verlorenen Gegenstandes“) sowie mit dem achten Gebot6 . Laut diesem Grundsatz ist man verpflichtet, einen verlorenen Gegenstand – sobald man diesen erblickt hat – an sich zu nehmen, aktiv seine*n Eigentümer*in zu suchen und ihm*ihr den verlorenen Gegenstand wiederzugeben. Sofern man den*die Eigentümer*in nicht kennt, soll man den Fund ebenfalls an sich nehmen und darauf warten, bis der*die Eigentümer*in sich meldet.7

Die Mischnah lehrt uns, wie wir die מִצְווֹת („Mitzwoth“8; „Gebote“) der Torah richtig einhalten sollen und dadurch regelkonform sowie gerecht handeln. Auf diese Weise bewahrt die Mischnah uns vor falschen Handlungen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, einen Fund nach bestimmten Kriterien zu untersuchen, um in Erfahrung zu bringen, ob man den Fund sorglos behalten darf oder ob man ihn wieder seinem*r Eigentümer*in aushändigen muss. Wenn man davon ausgehen kann, dass der*die Eigentümer*in die Hoffnung aufgegeben hat, das Verlorene wiederzuerlangen und somit nicht mehr danach suchen wird, ist es erlaubt, den Fund zu behalten. Ein so gelegener Fall wird religionsgesetzlich als יֵאוּשׁ („Je’usch“; wörtlich: „Verzweiflung; Resignation“) bezeichnet. Wenn der Fund jedoch über einen סִימָן („Siman“; „besonderes Zeichen“) verfügt, welches der*die Eigentümer*in genau benennen und damit den verlorenen Gegenstand eindeutig als sein Eigentum identifizieren kann, so muss er unbedingt „ausgerufen“ werden. Dieses „Ausrufen“ erfolgte wortwörtlich, indem der*die Finder*in sich auf einen Stein am Tempel in Jeruschalajim stellte und seinen Fund bekanntgab.9 Wenn man nicht in Jeruschalajim wohnte, so erfolgte das „Ausrufen“ an jedem anderen zentralen öffentlichen Platz.

Sobald man etwas gefunden hat, soll man sich empathisch verhalten. Man muss sich also in den*die Eigentümer*in hineinversetzen und herausfinden, welche Einstellung er*sie zu dem verlorenen Gegenstand hat. Da man den*die Eigentümer*in eines verlorenen Gegenstandes normalerweise nicht kennt, muss man sich als Finder*in überlegen, was der*die Eigentümer*in denken könnte. Schließlich möchte man selbst auch, dass man etwas, was man verloren hat, wieder zurückbekommt.

Im Mittelpunkt der Unterrichtsstunde steht als Hauptkompetenz die Förderung der hermeneutischen Quellenarbeit. So legen die Lernenden eine Primärquelle aus und werden dafür sensibilisiert, Anwendungsmöglichkeiten in ihrer eigenen Lebenswelt zu erkennen. Die Förderung der Teilkompetenzen erfolgt durch die Anwendung des detaillierten Leseverstehens, der fundierten Textanalyse, des handlungsorientierten und kreativen Problemlösens sowie des gegenseitigen Meinungsaustausches. Durch die geleitete Quellenarbeit werden die Schüler*innen dazu befähigt, selbst Stellung zu der Leitfrage zu nehmen und die Ausgangssituation mit den neu erworbenen Kenntnissen zu begründen.

Die Unterrichtsstunde ist von einer methodischen Vielfalt geprägt. Da sich die meisten Lernenden zum ersten Mal systematisch mit der mündlichen Lehre befassen, ist auf ein eher kleinschrittiges Vorgehen zu achten. Um die Schüler*innen nicht zu überfordern und sie die wichtige Verbindung zwischen dem antiken Text und ihrer eigenen Lebenswelt erkennen zu lassen, müssen sie zunächst die grundsätzlichen Prinzipien des jüdischen Fundrechts kennenlernen. Hierfür wird die Textquelle auf interaktive Weise vorentlastet, indem die Lernenden gleich zu Stundenbeginn mit einem realen Sachverhalt konfrontiert werden.


Die Unterrichtsstunde

  • Stundeneinstieg

Der induktive Stundeneinstieg ist als Aktivierungsphase gestaltet und erfolgt spielerisch durch ein Szenario. Hierfür wird vor Unterrichtsbeginn im Klassenraum ein Portemonnaie mit insgesamt 15 Euro deponiert. Nach der regulären Begrüßung erkundigt sich die Lehrkraft plötzlich ganz unwissend, welcher Gegenstand auf der Fensterbank liege. Die Schüler*innen werden aufgefordert, das Portemonnaie zu holen und genau zu inspizieren. Anschließend überlegen die Lernenden gemeinsam in einem Lehrer-Schüler*innen-Gespräch, wie sie mit diesem Fund umgehen können.

Auf diese Weise werden die Schüler*innen im Rahmen des kooperativen Lernens sowie des Lernens in Bewegung aktiviert und auf die Leitfrage aufmerksam gemacht. Dies ermöglicht, dass die Lernenden die aus eigenen Lebenserfahrungen bereits vorhandenen Vorkenntnisse zur Thematik reaktivieren und in das Unterrichtsgeschehen einbringen können. Zudem treten die Schüler*innen miteinander ins Gespräch und suchen gemeinsam nach einer adäquaten Problemlösung. Diese Phase dient den Lernenden dazu, sich anhand eines prägnanten Fallbeispiels ihrer konkreten moralischen Pflichten gegenüber dem Eigentümer des Portemonnaies bewusst zu werden.

  • Erarbeitungsphase

Daraufhin leitet die Lehrkraft zur Quellenarbeit über, die den Mittelpunkt der Erarbeitungsphase darstellt. Die Auseinandersetzung mit der Textquelle erfolgt im Rahmen einer חַבְרוּתָא („Chawruta“; „Partnerarbeit“), einem traditionellen rabbinischen Verfahren beim Studium der Schriften. Im Mittelpunkt dieser Unterrichtsphase steht die Förderung der hermeneutischen Quellenarbeit, bei der die Schüler*innen Strategien des detaillierten Leseverstehens und der Textanalyse anwenden. Anhand von Leitfragen erschließen die Lernenden selbstständig die logische Gedankenfolge des Mischnahtextes und arbeiten die darin genannten unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten heraus. Als Nächstes zeigen die Schüler*innen auf, inwiefern der Mischnahtext mit ihrer eigenen Lebenswelt korreliert, indem sie erklären, was man heutzutage unter „ausrufen“ versteht und welche Gegenstände im 21. Jahrhundert gefunden werden können.

Um zu gewährleisten, dass in nur einer Unterrichtsstunde sowohl der Mischnahtext als auch der in der Torah verankerte Grundsatz des jüdischen Fundrechtes gleichermaßen thematisiert werden können, erfolgt die Umsetzung dieser Phase binnendifferenziert. Während die Mehrheit der Klasse sich Mithilfe von Leitfragen ausschließlich mit den Kernaussagen des Mischnahtextes (M 1) beschäftigt, diese auf einem vorstrukturierten sowie multifunktionalen Arbeitsblatt (M 2) fixiert und durch einen Vergleich der Mischnajoth 1 und 2 das grundsätzliche Prinzip des jüdischen Fundrechtes herausarbeitet, setzen sich einige leistungsstärkere Lernende zusätzlich mit einer entsprechenden Tanachstelle auseinander und erarbeiten anhand dieser den in der Torah erwähnten Umgang mit Funden (M 3). Diesen Schüler*innen wird große Verantwortung übertragen, da sie ihre Mitschüler*innen während der folgenden Ergebnissicherung in adäquater Weise über einen neuen Sachverhalt aufklären. Hierfür erhalten die leistungsstärkeren Lernenden jeweils einen Folienschnipsel, auf dem sie ihre Arbeitsergebnisse – anstatt wie die anderen Schüler*innen auf dem Arbeitsblatt – notieren. Diese Folienschnipsel werden anschließend im Rahmen der gemeinsamen Ergebnissicherung im Plenum verwendet. Trotz der binnendifferenzierten Arbeitsanweisungen gelten in dieser Phase für beide Lernniveaugruppen dieselben didaktischen Überlegungen: die Interpretation einer traditionellen jüdischen Quelle und das Aufzeigen von Bezügen zur Gegenwart.

Da die Mischnah in Partnerarbeit bzw. innerhalb einer Kleingruppe ausgelegt wird, werden alle Schüler*innen aktiviert und motiviert. Dies ermöglicht ferner, dass die Lehrkraft die Lernenden besser bei der Quellenarbeit unterstützen und folglich gezielter auf individuelle Bedürfnisse eingehen kann. Zudem werden evtl. Hemmungen beim Umgang mit einer traditionellen Textquelle abgebaut, da der Gedankenaustausch zunächst in einem geschützten Raum und nicht direkt im Plenum erfolgt. Indem die Schüler*innen beim gegenseitigen Meinungsaustausch Argumentationsstrategien anwenden und ihren Standpunkt begründen, werden auch diese beiden wichtigen Teilkompetenzen geschult.

  • Vertiefungsphase

Die Auslegung der Mischnah kulminiert schließlich in einer Vertiefungsphase, in der die Lernenden sich mit der Leitfrage nach „fairem Verhalten“ sowie mit dem Aktualitätsbezug der Mischnah im Allgemeinen beschäftigen. Hierfür erhalten die Lernenden einen weiteren multifunktionalen sowie vorstrukturierten Bogen (M 4) und bedenken ihre Antwort in einer zeitlich begrenzten Murmelphase. Die Murmelphase erweist sich an dieser Stelle als besonders sinnvoll, da so alle Schüler*innen angehalten werden, sich aktiv mit den jeweiligen Fragestellungen zu befassen. Außerdem haben die Lernenden Gelegenheit, ihre Antwort stichpunktartig vorzuformulieren, wobei sie Informationen untereinander austauschen und evtl. Rückfragen klären können. Da der Prozess der Korrelation, d. h. der Bezug zwischen der Mischnah und der Lebenswelt der Schüler*innen, in einem gemeinsamen Lehrer-Schüler-Gespräch abläuft, werden alle Lernenden in das Unterrichtsgeschehen involviert und aktiviert: Jede*r Lernende darf äußern, was man anhand des Mischnahtextes unter fairem, d. h. regelkonformem und gerechtem, Verhalten versteht bzw. unter welchen Voraussetzungen die Mischnah heute immer noch aktuell ist. Darüber hinaus müssen die Lernenden während der Vorträge ihrer Mitschüler*innen auf inhaltliche Aspekte achten, Wiederholung vermeiden und die Diskussionsergebnisse im Rahmen der Ergebnissicherung sukzessive stichpunktartig notieren.

  • Transferphase

Im Fokus der abschließenden Transferphase wird die Ausgangssituation erneut in das Unterrichtsgeschehen eingebunden und der Sachverhalt aus dem Einstiegsszenario wieder thematisiert. Anhand der neu erworbenen Kenntnisse formulieren die Schüler*innen auf Grundlage des Mischnahtextes adäquate Antworten auf die Ausgangsfrage „Wie sollen wir mit dem gefundenen Portemonnaie umgehen?“. Indem die Lernenden hierbei begründet Stellung nehmen, setzen sie erneut Argumentationsstrategien sowie ihre Urteilskompetenz ein. Sofern die Schüler*innen Schwierigkeiten bei der präzisen Formulierung ihrer Antworten haben sollten, werden an der Tafel Zettel mit relevanten Stichworten (ausrufen, privates Gebiet, gebündeltes Fundstück, Geldstücke in einem Beutel, besondere Zeichen) befestigt. Das Abschlussgespräch dient dazu, die Lernenden nachdrücklich dafür zu sensibilisieren, dass die Mischnah und ihre Regelungen auch heute noch aktuell sind. Es soll ihnen nochmals verdeutlichen, dass die in der Mischnah dargestellten Sachverhalte jedoch angepasst und auf die heutige Zeit übertragen werden müssen.

Diese Transferleistung der Lernenden ist zugleich eine Hinführung zu der Hausaufgabe: Die Schüler*innen entwerfen innovative Modelle, wie in der Schule Fundsachen „ausgerufen“ werden können, sodass der*die eigentliche Besitzer*in seinen verlorenen Gegenstand wieder zurückerlangen kann. Auf diese Weise setzen sich die Lernenden unter Berücksichtigung der erarbeiteten religionsgesetzlichen Vorgaben eingehender mit der Leitfrage auseinander.

Als didaktische Reserve sind weitere Fallbeispiele vorgesehen, die auf den Ergebnissen der Quellenarbeit sowie der Transferphase basieren und bei der die Schüler*innen begründen, wie sie mit weiteren Fundgegenständen (Handy im Bus, Jacke im Zug, goldenes Armband im Park, entlaufenes Haustier) verfahren würden.


Methodisch-didaktische Entscheidungen bei der Auseinandersetzung mit jüdischer Traditionsliteratur

Um den Input des neuen Wissens zu unterstützen und den Umgang mit traditionellen Quellen nachhaltig zu fördern, werden die Phasen der Unterrichtsstunde durch zahlreiche Methodenwechsel abwechslungsreich gestaltet:

1. der ludische Zugang zur Thematik durch ein Szenario, welches die Unterrichtsstunde zu Beginn und am Ende umrahmt und bei dem die Schüler*innen durch bereits vorhandene Vorkenntnisse aus anderen Bereichen in ihrer Lebenswelt abgeholt werden;

2. der binnendifferenzierte Zugang zu der Thematik: einerseits durch ein handlungs- und problemorientiertes Vorgehen, bei dem der Mischnahtext ausgelegt und ein Aktualitätsbezug hergestellt wird, andererseits anhand des in der Torah verankerten Grundsatzes, dessen Inhalte durch das kooperative Lernen sowie durch das Lernen durch Lehren in einem schülerzentrierten Vorgehen der gesamten Klasse erläutert werden;

3. und schließlich die Zusammenführung der neu erworbenen Kenntnisse, die die Schüler*innen auf die Ausgangssituation anwenden und diese erst am Ende der Unterrichtsstunde abschließend lösen können. Auf diese Weise werden alle Schüler*innen motiviert, sich mit den nicht immer einfach formulierten Texten der Mischnah auseinanderzusetzen.

Dieser unterrichtlichen Vorgehensweise liegt die bewusste Entscheidung gegen eine herkömmliche, d. h. eine rein theoretische, dialektische Auseinandersetzung mit dem Mischnahtext zugrunde, da die Schüler*innen in diesem Fall nur mit verschiedenen rabbinischen Konzepten und Fachtermini konfrontiert wären. Ferner hätten die Lernenden nur schwerlich eine Verbindung zwischen sich und diesem bedeutenden Werk der jüdischen Traditionsliteratur erkannt. Im jüdischen Religionsunterricht ist es jedoch besonders wichtig, die Mischnah für die Schüler*innen so informativ und lebendig wie möglich zu gestalten. Nur bei einer derartigen Heranführung erkennen die Lernenden, dass die Mischnah nicht in einem luftleeren Raum, sondern in direktem Bezug zu ihrer eigenen Lebenswelt steht, in der Tat hoch aktuell ist und ihnen aufzeigt, wie sie das Zusammenleben in der modernen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts gestalten können.

Anmerkungen

  1. In Anlehnung an das dritte der Zehn Gebote wird aus Pietätsgründen die sog. „vermeidende Schreibweise“ gebraucht.
  2. Im Rahmen des vorliegenden Artikels wird für ein besseres Verständnis dieses doch recht komplexen Themas auf die zusätzliche Differenzierung zwischen „Talmud Jeruschalmi“ und „Talmud Bawli“ verzichtet.
  3. s.o.
  4. Der jüdische Religionsunterricht in Deutschland wird i.d.R. klassen-, jahrgangs- und sogar schulübergreifend durchgeführt.
  5. Vgl. Dtn 22,1-3.
  6. „Du sollst nicht stehlen.“, vgl. Ex 20,13; Dtn 5,17.
  7. Shlomo Schwartz, Massecheth Bawa Metzia. Workbook for: Perek II. Mishnah Rishonah. With Mishna Sheleimah. An explanation of the Mishna based on the Meforshei Hamishnah, North Miami Beach 2012, S. I-IV.
  8. Vgl. Dtn 22,1-3.
  9. Vgl. bBM 28b.

 

Literatur

  • Die Mischna. Das grundlegende enzyklopädische Regelwerk rabbinischer Tradition, ins Deutsche übertragen, mit einer Einleitung und Anmerkungen von Dietrich Correns, Wiesbaden 2005
  • Krasnov, Mark: II.4 Religionsunterricht in jüdischer Perspektive, in: Kropač, Ulrich / Riegel, Ulrich (Hg.): Handbuch Religionsdidaktik, Stuttgart 2021, 92-98
  • Krasnov, Mark: Normalität und Vision im und durch den jüdischen Religionsunterricht, in: Abdel-Hafiez Massud/Hild, Christian (Hg.): Religionslehrer*innen als Akteure in der multireligiösen Gesellschaft. Religion und Kommunikation in Bildung und Gesellschaft, Bd. 2 (RKBG 2), Landau 2022, 146-168
  • Liss, Hanna: Tanach. Lehrbuch der jüdischen Bibel, Schriften der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg Bd. 8, Heidelberg 2005
  • Mischnajot. Die sechs Ordnungen der Mischnah. Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, Bd. 4, Ordnung Nesikin, übersetzt und erklärt von David Hoffmann, Basel 31968
  • Schwartz, Shlomo: Massecheth Bawa Metzia. Workbook for: Perek II. Mishnah Rishonah. With Mishna Sheleimah. An explanation of the Mishna based on the Meforshei Hamishnah, North Miami Beach 2012
  • Stemberger, Günter: Einleitung in Talmud und Midrasch, 9. Vollst. Neubearb. Auflage. München 2011