„Ich bin kein Überzeugter, ich bin ein Wünschender“ – Silke Leonhard im Gespräch mit Heinz Rudolf Kunze

Heinz Rudolf Kunze: Da bin ich – Guten Tag!

Silke Leonhard: Guten Tag, Herr Kunze! Klasse, dass Sie sich Zeit nehmen, vielen Dank!

HRK: Kein Problem! Wir haben ja alle viel Zeit im Moment, wir Musikanten. Mehr, als uns lieb ist.

SL: Viel mehr als Ihnen lieb ist, weil vieles nicht geht, richtig?

HRK: So gut wie gar nichts.

SL: Doch! Sie schreiben, Sie komponieren, Sie machen tolle Musik.

HRK: Ja, aber das tue ich ja sonst auch. Es bleibt mir im Moment nichts anderes übrig, als mich hier einzugraben, noch mehr zu schreiben als sonst und mich ein bisschen umschulen zu lassen. Ich mache momentan einen eigenen Podcast – Durch die Brille gefragt –, Interviews mit Promis; und bei Open-Air-Kinovorführungen spreche ich vorher vor der Leinwand mit Gästen, die mit dem Film zu tun haben, als Moderator. Das ist auch ganz nett, aber da sitzen dann eben mit den Abstandsregeln so ganz wenige Leute vor mir auf Open-Air-Bühnen oder Open-Air-Geländen. Wo da normalerweise 10.000 Leute sind, sind dann da vielleicht 300. Also, man merkt es überall, an allen Ecken und Enden, dass was nicht stimmt.

SL: Ihre Musik wird genutzt. Es gibt einen Gottesdienst mit Ihnen.1 Und wenn ich es richtig gehört habe, war es Ihre Idee – nicht die von Kirche, auf Sie zuzukommen. Sie haben gesagt: Lasst uns mal was machen. Das ist ja schon ansprechend, eine andere Art von Öffentlichkeit.

HRK: Als das Lied fertig war von Dieter Falk und mir, haben wir gleich überlegt, was man denn damit tun kann in dieser Zeit. Wie kann man jetzt Öffentlichkeit bekommen für so einen Mutmacher-Song?

SL: Jetzt haben Sie den „Zusammen“-Song angesprochen. Also, ich bin mit Ihren Liedern in meiner evangelischen Jugendarbeit groß geworden – z. B. „Bestandsaufnahme“, mit viel Power – und jetzt höre ich natürlich politisches Statement, aber auch nochmal ganz andere Klänge, mit Innerlichkeit: „Licht, das in der Seele wohnt, ist am rechten Ort; die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort.“ Wie kommt es dazu? Mich berührt das.

HRK: Das ist schön, so ist es auch erhofft. Das ist ja der Sinn der Übung. Solche Lieder sollen den Menschen unter die Haut kriechen und ihnen ein bisschen ein wohliges Gefühl vermitteln in diesen schrecklichen Zeiten. Wie kommt das? Indem ich reagiere auf das, was ich mitbekomme von unserer Zeit. Wenn ich so die Bilder sehe von Menschen in Italien, diesem besonders gebeutelten Land, wo die dann abends auf dem Balkon singen und tanzen und sich was zurufen über die Straße hinweg, dann löst das offenbar was aus, und dann möchte man da etwas beitragen zu diesem Thema und, ja, etwas tun, was man normalerweise nicht so gerne macht, nämlich seiner Verantwortung als Sänger gerecht werden. Also nicht einfach die Sache nur laufen lassen und gucken, was einem in den Sinn kommt, sondern auch mal bewusst versuchen, die Lieder, die man schreibt, ein bisschen zu steuern in eine bestimmte Richtung. Das mache ich normalerweise nicht; normalerweise lasse ich sie frei laufen.

SL: Frei laufen?

HRK: Ja, und ich komme immer irgendwo an. Irgendein Halbsatz oder ein Ganzsatz überfallen mich, fliegen mir zu, die muss ich aufschreiben. Und dann gucke ich ein bisschen dahin und überlege mir, was kann man damit anstellen? Und dann geht das manchmal wirklich wie von selbst. Also, dann ist meine rechte Hand mit dem Kugelschreiber so eine Art Erdbebenseismograf, und ich muss einfach etwas aufzeichnen und verschriftlichen, wo ich nicht genau weiß, wo es herkommt. Ich bin da wirklich nur das Medium.

SL: Das Lied „Wir stehen und halten zusammen” hat einen anderen Gestus – es wirkt auf mich fast wie ein Credo, ein Statement: Das ist das, was wir brauchen, dazu stehe auch ich.

HRK: Ja, mir war von vornherein klar, wie das klingen soll, und da habe ich Dieter Falk mit ins Boot genommen, den ich schon ewig kenne. Aber wir haben noch nie zusammengearbeitet. Wir beide sind große Fans der Gospelrockphase von Bob Dylan Anfang der 1980er-Jahre, wo er so viel verspottet wurde und so viele Fans verloren hat und viele Kritiker sich von ihm abgewandt haben. Wir sind beide der Meinung: Das war die Phase in Bob Dylans Karriere, wo er am besten in seinem ganzen Leben gesungen hat, am meisten bei der Sache war als Interpret, als Sänger. Und die Stücke haben eine Eindringlichkeit und eine wirklich schwarze Gospelfärbung, Gospelrock nenne ich das. Das schwebte uns vor. Wir wollten so ein sehr zupackendes Lied machen, das natürlich jetzt noch unterstützt wird von Dieters witziger Idee, da 1000 Menschenstimmen, die alle einzeln bei ihm eingegangen sind, noch in den Chor zusammenzufassen und hineinzuzumischen.2

SL: Jetzt komme ich nochmal zur sogenannten Systemrelevanz. Wenn man daran denkt, welch geringe Bedeutung Kunst und Musik oder die Förderung von Kunst und Musik in dieser Corona-Zeit eigentlich erfahren …

HRK: Das überrascht mich allerdings nicht. Ich war vor einigen Jahren ja mal drei Jahre lang im Bundestag, in einer Enquete-Kommission, „Kultur in Deutschland“, als Sachverständiger. Dreieinhalb Jahre haben wir da gearbeitet. Und damals zeigte sich auch schon, dass der Kulturbetrieb ein weiches Thema ist, wie man das da zynisch nennt, und eine schwache Lobby hat oder gar keine. Und, wenn es um Einsparungen geht oder wer kommt zu kurz, dass das immer bei der Kunst anfängt; obwohl – was viele Leute gar nicht wissen – im Kulturbetrieb in Deutschland unheimlich viele Menschen arbeiten oder im Zusammenhang damit. Das ist eine richtig große, personalintensive Branche. Sicher nicht so groß wie die Automobilbranche, aber es sind auch Millionen von Menschen, die in diesem Bereich im weitesten Sinne tätig sind, sei es als Techniker oder Beleuchter oder der ganze Apparat, der da dranhängt. Und da es keine starke Gewerkschaft gibt von Künstlern – ich glaube, es gibt gar keine – werden die Künstler immer besonders schäbig behandelt, wenn es eng wird. Da kommen wir immer ganz hinten und andere werden eher bedacht.

SL: Sie sind bei all dem ja ein Sprachgenie. Aber was ist eigentlich, wenn Ihnen Worte fehlen? Religion hat auch mit dem Ort zu tun, wo Worte eben nicht mehr kommen. Worte sind Ihr Werkzeug. Gibt es etwas, was auch in Ihre Musik fließt und was auch zu Ihrem Leben gehört, wo Worte nicht das einzige sind oder wo Worte auch an Grenzen stoßen?

HRK: Na ja, ich habe ja das große Glück, in einer Sparte zu arbeiten, wo zwei Dinge eine Rolle spielen, nämlich das Wort und der Ton. Und mit Tönen, mit Harmonien, mit Melodien, mit Rhythmen zu arbeiten, ist natürlich eine wunderbare Sache, da noch etwas hinzuzufügen oder in Ecken einzudringen in der menschlichen Seele, wo das Wort vielleicht nicht hinkommt oder nicht das geeignete Medium ist, um dahin vorzustoßen. Also, man kann ja auch Melodien und Rhythmen und Harmonien mit Bedeutungen aufladen von Dingen, die sich schlecht oder gar nicht sagen lassen. Insofern bin ich eigentlich ganz gut aufgestellt mit meinem doppelten Handwerkszeug.

Und es gibt ja ernsthafte Sprachphilosophen, die sagen: Das, was man nicht sagen kann, das gibt es auch nicht. Ich weiß nicht, ob ich so weit gehen würde, aber es gibt diese Position tatsächlich.

SL: Jetzt interessiert uns natürlich ganz besonders Ihr Verhältnis zu Religion. Ich sage ganz bewusst nicht: zu Kirche, sondern uns geht es um die Frage, was für einen Stellenwert Religion hat. Ich will es gar nicht so funktional sagen. Über Religion wird viel gestritten, es wird diskutiert, manchmal kommt sie in anderen Gestalten zur Sprache. Was denken Sie, welchen Platz hat Religion in der gegenwärtigen Gesellschaft?

HRK: In der gegenwärtigen Gesellschaft keinen besonders großen. Also jedenfalls, wenn wir hier von unserem Teil der Welt sprechen. Da ist die Kirche doch sehr, sehr zurückgedrängt worden, was ihren Einfluss und was das Gewicht ihres Wortes angeht. In einer spätkapitalistischen, hedonistischen Gesellschaft wie unserer hat die Kirche nicht mehr viel zu melden, das ist schon ganz klar zu beobachten. Ich lebe schon lange genug auf dieser Welt, um den Rückgang dieses Einflusses auch selber miterlebt zu haben. Als ich ein kleiner Junge war oder ein Schüler, hatte ich den Eindruck, waren die evangelische und vor allen Dingen natürlich auch die katholische Kirche noch sehr viel gehörter in allen gesellschaftlichen Fragen. Inzwischen ist da viel Stummheit in meiner Wahrnehmung.

SL: Und das müsste eigentlich anders sein?

HRK: Ich hätte nichts dagegen, ja. Ich fände es, gerade in einer Zeit, in der wir uns auseinandersetzen mit Mitmenschen aus einem anderen Kulturkreis, die sehr stark ihren anderen Glauben leben, nicht besonders ruhmreich für uns, dass unsere Religion, die hier gilt, in diesem Teil der Welt, eigentlich gar keine Stimme mehr hat und den Menschen immer weniger bedeutet.

SL: Was ist denn für Sie Religion, wenn ich jetzt mal so wirklich definitorisch fragen darf?

HRK: Für mich ist Religion das Setzen eines Gottes. Also, ich weiß nicht, ob es ihn gibt, aber ich will es. Darum setze ich ihn. Deswegen würde ich mich auch nicht als gläubigen Menschen bezeichnen, aber als Sympathisanten des Glaubens bezeichne ich mich immer. Ich möchte, dass es einen Gott gibt. Sage ich ganz einfach so. Ich habe starke Zweifel, ob das so ist, aber mir ist es lieber, mein Leben so zu leben, als ob es einen gibt. Deswegen nehme ich ihn einfach mal an. Ich möchte, dass es irgendeinen Sinn gibt im Kosmos und nicht nur irgendein zufälliges Durcheinandergepurzel von Molekülen. Mit dieser Vorstellung, dass es einen Sinn gibt, ist mir wohler, auch wenn ich ihn nicht begreife.

SL: Wenn man Gott begreift – kann man ja auch schon fast religionskritisch sagen – ist es dann noch Gott?

HRK: Für mich ist das dann noch Gott. Also, ich muss mir Gott ja nun nicht als Weihnachtsmann vorstellen; aber als Plan, als Ordnung, als Sinn von allem, was es gibt, stelle ich ihn mir schon vor. Ich weiß, es gibt modernistische Positionen in der Theologie, sogar bei den Katholiken gibt es die. Habe ich selber erlebt in Gesprächen, wo Leute besonders hyperaufgeklärt sagen: Das Bedürfnis nach Gott ist schon Gott. Das reicht mir nicht. Aber letzten Endes gehöre ich auch zu denen; ich setze ihn ja auch. Ich bin mir nicht sicher, dass es ihn gibt, ich bin ja kein Überzeugter, ich bin ein Wünschender. Eine Art von sicherem Wissen, was der Gläubige hat – das ist natürlich eine andere Art als naturwissenschaftliches Wissen – die besitze ich nicht. Und das kann man ja auch nicht lernen. Das hat man oder man hat es nicht.

SL: Es ist eine spannende Frage, ob man Glauben lernen kann. Aber man kann, glaube ich, lernen, mit dieser Frage umzugehen.

HRK: Ja, ich gehe ja positiv damit um. Ich habe ja nichts gegen Leute, die glauben. Solange sie auf eine Art und Weise glauben, die anderen nicht den Kopf abhackt. Vielleicht habe ich manchmal sogar Neidgefühle gegenüber Menschen, die diese tiefe Gewissheit haben, kann schon sein. Ich habe sie nicht, und ich kann dagegen nichts machen. Aber ich bin zumindest kein Gegner und kein Leugner, dass es so etwas geben könnte. Also, fanatische Atheisten finde ich kurios, fanatische Gläubige finde ich ekelhaft.

SL: Das bringt mich zu einer pädagogischen Frage. Sie waren Lehrer. Ich war es auch übrigens …

HRK: Nee, ich war nicht Lehrer, ich habe es nur gelernt.

SL: Sie waren in der Schule!

HRK: Ja, als Referendar, aber dann sofort weg.

SL: Sie kennen Schule aber damit aus einer anderen Sicht als die eines Schülers und eines Elternteils und das ist nochmal etwas anderes. Uns interessiert natürlich: Wie gehen wir mit Religion auch in der Schule um? Was ist aus Ihrem Blick für heutige Jugendliche, die Sie ja auch beschäftigen, in der Schule möglich oder auch nicht möglich an Umgang mit Religion zu lernen?

HRK: Das kann ich kaum beantworten, weil ich kaum Kontakt zu Jugendlichen habe, weil ich kein Lehrer bin und weil mein Publikum ja hauptsächlich fast ausschließlich aus Erwachsenen besteht. Ich selber war ja damals angetreten für die Fächer Deutsch, Philosophie und Werte und Normen, also für die Religionsflüchtlinge, die trotzdem irgendwas besuchen mussten. Und natürlich haben wir in Werte und Normen über nichts anderes geredet als über theologische Themen. Das ist ja irgendwie ganz klar. Es ist schwierig. Ich weiß nicht bei dem heutigen Verwirrungs-, Unterhaltungs- und Zerstreuungsangebot, wie man junge Menschen am besten anspricht. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, weil es von meiner Tätigkeit doch relativ weit weg ist. Es mag gewisse Parallelen geben zwischen den Tätigkeiten eines Unterhalters, eines Pastors und eines Lehrers, aber ich glaube, es sind nur wenige Parallelen.

SL: Dann stelle ich die Frage nochmal anders: Was würden Sie sich wünschen, was Jugendliche beim Erwachsenwerden in Bezug auf Religion wissen, lernen, für eine Haltung gewinnen – unabhängig von Schule?

HRK: Dass sie auf jeden Fall mit diesem Fundus, mit diesem Wissensfundus unserer abendländischen Kultur vertraut gemacht werden. Also, ich halte das schon für dringend geboten, dass das in der Schule gelehrt wird. Und ich weiß jetzt nicht, ob man das unbedingt, wie es in den Achtziger Jahren bei uns hieß oder in den Siebzigern, Werte und Normen nennen muss, aber irgendeine Art von Religionsunterricht, finde ich schon, sollte an den Schulen verbindlich sein, damit die jungen Leute einfach wissen, wovon da die Rede ist und dass sie nicht so völlig im luftleeren Raum hängen – konfrontiert mit z. B. islamischen Jugendlichen, die sich irgendwie dann durch ihre strenge Erziehung total sicher sind, wo der Hammer hängt. Was daraus wird und ob man die Menschen auf diese Weise irgendwie bekehren kann oder so, das steht auf einem anderen Blatt, das weiß ich nicht. Aber das Angebot, ihnen diese Dinge zu erzählen, das Alte und das Neue Testament, das sollte auf jeden Fall die Schule unbedingt machen und nicht zur Disposition stellen. Aber da gibt es so vieles, wenn ich über Schule nachdenke, was mich wahnsinnig macht und geradezu krank vor Wut. Also auch, dass, sagen wir mal, der Geschichtsunterricht weitgehend zur Disposition gestellt wird, finde ich absolut skandalös. Dass bestimmte Literaturdinge einfach aus dem Deutschunterricht verschwinden, ist für mich unbegreiflich. Und, na ja, ich bin eben froh, dass ich diesen sauren Beruf nicht ergreifen musste. Ich möchte mit keinem Lehrer tauschen. Lehrer muss fast so schlimm sein wie Polizist in diesem Land.

SL: Was ist noch schlimmer am Polizist-Sein?

HRK: Dass er es noch schwerer hat. Die Polizei befindet sich in unserem Land in einer unerträglichen Situation, und ich finde es einen gesellschaftlichen Superskandal, wie über unsere Polizei gesprochen und öffentlich geurteilt wird. Ich kenne viele Polizisten persönlich. Ein Polizeikommissar, pensioniert, war jahrelang mein Fahrer. Und was diese Menschen erdulden müssen im öffentlichen Raum, wie sie sich verprügeln, anspucken, beleidigen lassen müssen von Minderjährigen, die von ihren Eltern vorgeschickt werden, weil die Eltern wissen, dass die Kleinen nicht strafmündig sind, das geht auf keine Kuhhaut! Was ich da für Geschichten gehört habe, das ist unglaublich! Also, Polizisten sind wirklich die Parias unserer Gesellschaft!

SL: Ja, da ist viel zu tun. Die Schule ist aber eben unser Mikrokosmos, da gehen alle durch. Und wenn wir da nicht investieren, dann wird es, glaube ich, schwierig mit dem Großwerden.

HRK: Das ist richtig. Deswegen sage ich ja: So wichtige Dinge für die Bewusstseinsbildung, wie Geschichtsunterricht, Religionsunterricht zur Disposition zu stellen, das ist absolut fahrlässig und das riskiert die Zukunft der Humanität.

SL: Zukunft finde ich ein gutes Stichwort. Was macht denn Ihnen Mut? Also, ich finde, Ihre Texte sind ja sozusagen kritisch, aber es gibt auch vieles Ermutigendes. Woher nehmen Sie den?

HRK: Ich zwinge mich dazu.

SL: Das glaube ich nicht!

HRK: Ich bin ein ziemlich depressiver und melancholischer Mensch, freue mich aber jedes Mal, wenn ich mich irre. Und da ich weiß, dass die Menschen von mir eine gewisse Erwartungshaltung haben, dass sie bestimmte Dinge hören möchten, zwinge ich mich manchmal zu einem, wenn nicht Lächeln, dann zumindest Grinsen im Text. Auch, wenn ich das selber nicht glaube. Mir macht, ehrlich gesagt, wenn Sie mich so fragen, zurzeit nicht sehr viel Mut – und sehr, sehr viel Sorge.

SL: In Bezug auf viele gesellschaftliche Punkte ist die Sorge natürlich nachvollziehbar. Nichtsdestotrotz, klar, wenn man theologisch guckt, wenn man religiös guckt, ich glaube auch, wenn man philosophisch guckt, ohne Blick auf die Zukunft, ist tatsächlich die Endlichkeit des Lebens nochmal viel deutlicher.

HRK: Ja, also selbst, wenn man es in anderen, weniger metaphysischen Begriffen ausdrückt, würde ich sagen, unser freies Leben ist von allen Seiten bedroht und in Gefahr. Überall auf der Welt regieren absolute wahnsinnige Halbtiere und in allen Ländern ist ein Aufsteigen des Nationalismus und des Isolationismus zu beobachten, ein Auseinanderfallen der europäischen Idee. Zum Beispiel: Die Diktaturen auf der Welt sind wieder auf dem Vormarsch und die Demokratie führt ein verzweifeltes Rückzugsgefecht. Nicht viel Grund zur Freude.

SL: Aber Grund für Musik und Grund für den Ausdruck und das Ansprechen dafür.

HRK: Gott! Das ist alles, was ich tun kann. Ich kann ja nur mit meinen Mitteln, mit meinen handwerklichen Mitteln, Stellung nehmen zurzeit. Ob das die Sache bessert – ja, das kann ich nur hoffen. Musikwirkung darf man natürlich auch nicht überschätzen.

SL: Ja, aber natürlich auch nicht unterschätzen. Habe ich eben das Wort Hoffnung gehört?

HRK: Ja, ich habe natürlich die leise Hoffnung, dass künftige Generationen Dinge besser machen als wir. Dass denen was einfällt, was uns vielleicht nicht eingefallen ist, um die mögliche Vernichtung und Selbstausrottung der Menschheit noch zu stoppen.

SL: Gibt es irgendetwas, das Sie uns mitgeben? Sie haben so einen schönen schrägen Blick. Wir sind ein Religionspädagogisches Institut, wir machen Fortbildungen, wir haben mit Lehrern und Pastoren zu tun...

HRK: Dann würde ich sagen: Unverdrossen am Kerngeschäft festhalten! Nicht versuchen, unsere schwachsinnige Zeit in Sachen Unterhaltung noch links zu überholen. Also, sich schon darauf besinnen, was das Wesentliche an den religiösen Anliegen ist, und das vermitteln. Und nicht bewusst grell und spaßig und geckig daherkommen. Diesen Wettkampf kann man nur verlieren.

SL: Ich danke Ihnen sehr - und wünsche Ihnen, dass Sie mit Ihren Texten der Wahrheit weiterhin die Ehre geben und dass sich irgendwie auch für Sie, nachdem viele Aufführungstermine verschoben sind, die Möglichkeit für Begegnungen bald wieder bietet.

HRK: Da kann ich einfach nur sagen, auch wenn das jetzt wie ein Kalauer klingt: Ihr Wort in Gottes Ohr.

SL: Herr Kunze, ein schönes Schlusswort! Ganz herzlichen Dank, alles Gute und bis irgendwann mal!

HRK: Ja, Tschüss!

SL: Ciao!


Anmerkungen

  1. Online-Gottesdienst vom 14.6.2020 in der Liebfrauenkirche Neustadt am Rübenberge mit Mathis Burfien, Heinz Rudolf Kunze und Nathalie Wolk und www.youtube.com/watch?v=jWxvMFXwXXQ mit den Songs „Zusammen“ und „Die Dunkelheit hat nicht das letzte Wort“.
  2. Zusammen und Tausend singen zuhause: www.youtube.com/watch?v=MgVhA-jB8Z4 (letzter Zugriff 14.7.2020)