Geistesgegenwart Gottes in Schule und Kirche

von Inge Petersen

 

1. Die gemeinsame Ausgangslage in Schule und Kirche

Die veränderte Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen fordert Verantwortliche in der Kirche und in der Schule heraus, die Fragen der Bildung und Lebensbegleitung neu zu stellen. Was brauchen Kinder und Jugendliche heute? Was können Schule und Kirche ihnen geben? Die sozialwissenschaftliche Forschung bestätigt die Beobachtungen von Erzieherinnen, Lehrkräften und kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dass alte Schematisierungen nicht mehr greifen. Die Lebens- und Erfahrungsräume von Jungen und Mädchen haben sich grundlegend gewandelt. Lassen Sie mich einen Bereich herausgreifen, der Erwachsene in gleicher Weise wie Heranwachsende betrifft.

Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken haben unser Leben entscheidend verändert. Handy und Computer sind in der Arbeitswelt keine Luxusgegenstände mehr, sondern notwenige Arbeitsmittel. Dies ist keineswegs ein Grund zur Klage. Wir sollten uns vor jeder Defizitbeschreibung hüten. Durch den technischen Fortschritt, die Ausweitung der Kommunikationstechnologie und den Umgang mit der medialen Vielfalt verfügen Heranwachsende über veränderte Informationsstrategien.

Die zunehmende Ausdifferenzierung wirtschaftlicher und sozialer Systeme führt zu einer geringeren Überschaubarkeit von Zusammenhängen. Differenzierte Einblicke sind nur in kleine Teilbereiche möglich, darüber hinaus herrschen oftmals Unkenntnis und Unverständnis. Andererseits ermöglichen die neuen Kommunikationstechnologien einen immensen Informationszuwachs und täuschen aber auch gelegentlich einen Kommunikationsgewinn vor.

Die zunehmende Informationsfülle, die schnelle Veralterung technischen Wissens und die globelen Zugriffsmöglichkeiten erfordern veränderte Verarbeitungsstrategien. Kinder und Jugendliche brauchen Orientierungshilfen, um die Füllen des Wahrgenommenen nicht nur auf der technischen Bearbeitungsebene zu verschieben, damit es gelingt, der Fülle des Informationsmaterials in der eigenen Lebensgeschichte mit sinnstiftenden Deutungen zu begegnen. Leben ist nicht nur wahrnehmen, sondern auch deuten. Alles Wissen, Fühlen, Erleben und Denken wird in der eigenen Biographie zum roten Faden der eigenen Lebensgeschichte zusammengebunden. Kinder und Jugendliche brauchen Deutungsmuster und Anregungen, die es ihnen ermöglichen, innerhalb der unüberschaubaren Informationsfülle Orientierungen und Perspektiven für das eigene Leben zu entwickeln. Religiöse Erfahrungen machen wir in, zwischen unter und mit säkularen Erfahrungen, nicht ohne sie. Aber Heranwachsende werden ihre Lebenserfahrungen nur mit christlicher Deutung in Verbindung bringen, wenn sie einen Deutungsrahmen und eine selbstverständliche Sprache erworben haben, mit denen sie ihre Erfahrungen zum Ausdruck bringen können. Damit sind Schule und Kirche gefragt, Erfahrungsräume bereitzustellen, in denen eine grundlegende religiöse Sprachfähigkeit erworben wird.

 

Geistesgegenwart Gottes in Schule und Kirche

Kirche und Schule brauchen einander dringender als je zuvor, nicht um ihrer selbst willen. Sie können ohne einander recht gut existieren. Aber Schule und Kirche haben das gemeinsame Interesse, Kindern und Jugendlichen Orientierungsmöglichkeiten anzubieten, die neben der reflexiven Distanznahme und dem Nachdenken über Religion auch ein "Eintauchen" in Religion ermöglichen. Sinnliche Wahrnehmungen des religiösen Lebens in Form von Gebet, Liturgie und Gottesdienst sind vielen Heranwachsenden heute fremd. Kinder und Jugendliche brauchen den Anschauungsort der gelebten Religion. Gerade in der deutlichen Differenzierung der beiden unterschiedlichen Sprachformen, dem "Reden über Gott" und dem "Reden mit Gott", gilt es den zweiten Bereich angemessen zu berücksichtigen und die Kirche als kompetente Sachwalterin in der pädagogischen Diskussion in den Blick zu nehmen.

Wenn im Religionsunterricht erfahrbar werden soll, dass neben einer kognitiven Zugangsweise Glauben entschieden und vor allem mit Vertrauen und Hoffnung zu tun hat, dann muss diese eher emotionale, motivationale und pragmatische Seite des auf die zukünftige Erwartung gerichteten Glaubens in adäquater Form sprachlich und gestaltend Raum gewinnen. Hoffnung und Vertrauen kann ich weder rational gewinnen noch durch einen willentlichen Akt herbeiführen. Gemeinsame rituelle und liturgische Gestaltungen können Ahnungen der Transzendierung des gelebten Augenblicks und das Gefühl des Aufgehobenseins in der Gemeinschaft vermitteln.

 

2. Veränderungen in der Schule

2.1 Reformpädagogische Veränderungen in der Schule

Die Schule hat in den letzten Jahren auf die Bedingungen veränderter Kindheit und Jugend durch zahlreiche reformpädagogische Veränderungen reagiert. Diese Veränderungen werden besonders in der Grundschule sichtbar.

Mit dem Reformmodell "Volle Halbtagsschule" wurde ein Lebensort für Kinder geschaffen, bei dem von der Idee her das unterrichtliche und das außerunterrichtliche Geschehen pädagogisch gleichrangig behandelt werden. Lernen und Zusammenleben mit anderen gehören zusammen. Die Ausdehnung des Schulalltags auf den gesamten Vormittag bedeutet nicht nur zeitliche Verlängerung, sondern eine qualitative Veränderung des Schulvormittags. Eine neue Rhythmisierung der räumlichen und zeitlichen Struktur des Vormittags wurde notwendig. Die gewonnene Zeit ist nicht allein für traditionelle Lern- und Unterrichtsphasen zu nutzen, sondern der Zeitgewinn kann auch klassenübergreifenden Arbeitsgemeinschaften und Projekten sowie der Erkundung außerschulischer Lernorte zugute kommen. Eine neue Schulkultur entwickelt sich, in der Erfahrungen der Stille, Orte der Selbstversenkung und der Konzentration Bedeutung gewinnen.

Im alltäglichen Schulleben, bei wiederkehrenden Veranstaltungen wie dem Forum am Freitagmittag oder besonderen Schulfeiern wird der Gemeinschaftsaspekt oder die alte Idee einer Schulgemeinde häufig wieder aufgenommen. Mit Phantasie, Engagement und kreativer Tatkraft bringen sich gerade Religionslehrerinnen mit ihren Kompetenzen in diesem Bereich ein. Das Modell "Verlässliche Grundschule", das als Sparmodell des kostenaufwendigen und personalintensiven Modells "Volle Halbtagsschule" zu betrachten ist, stellt eine politische Antwort dar auf die veränderte familiäre Situation in unserer Gesellschaft.

Grundschulkollegien entwickeln zur Zeit trotz geringer Resourcen mit pädagogischer Einsatzfreude Betreuungsmodelle. Die Kooperation mit der Kirchengemeinde in wiederkehrenden kleinen Projekten ist in den Regionen sehr unterschiedlich entwickelt. Engagierte Eltern, Lehrerinnen der Grundschule und Haupt- und Ehrenamtliche der Kirche sollten in einem Arbeitskreis zukünftig Kurzprojekte planen. Gerade die zeitliche Überschaubarkeit sichert den Erfolg, der zu weiteren Planungen führt. Vielleicht ließe sich das Wort "verlässlich" aus seiner semantischen Beschränkung auf die zeitliche Betreuung von 8.00 bis 13.00 Uhr befreien, so dass in kontinuierlichen Projekten oder Arbeitsvorhaben für die Kinder etwas von dem einzigen verlässlichen Grund des eigenen Lebens aufleuchtet.

 

Schulautonomie fordert ein Programm im Blick auf die Zukunft

An vielen Schulen wird gegenwärtig ein Schulprogramm entwickelt. Ob von einem Schulprofil, einem Schulprogramm oder einem Schulkonzept gesprochen wird, hängt von der begrifflichen Schwerpunktsetzung des jeweiligen Kollegiums ab. In allen Fällen handelt es sich um die gebündelte Zielvorstellung, den gemeinsamen Beschluss einer Gesamtkonferenz über die gesamtunterrichtliche Ausrichtung, die Erziehung und das Schulleben einer Schule. In einem gemeinsamen Kommunikationsprozess werden nach einer Analyse der vorfindlichen Situation der Schule Zukunftsperspektiven und gemeinsame Zielvorgaben entwickelt, denen alle Personen, die mit der Schule zu tun haben, zustimmen können. Verantwortung und Engagement der Religionslehrerinnen sind gefragt, wo es um das grundlegende Menschenbild der Erziehung in der Schule geht.

Es bietet sich an, in einem gemeinsamen Dialog zwischen Verantwortlichen in der Kirche und in der Schule die zentrale Frage nach dem grundlegenden Menschenbild eingehend zu behandeln. Der öffentliche Diskurs über Zielvorstellungen und Wertschätzungen einer autonomen Schule muss auch die Verantwortlichen in der Kirche interessieren. Die Wertschätzung einer Schule im Blick auf ihre Kirche im Stadtteil sollte kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unbedingt interessieren. Die regionalen Differenzen gilt es sensibel wahrzunehmen. Allerdings wird die Zusammenarbeit von Schule und Kirche auch daran gemessen werden müssen, inwieweit es nicht nur bei einem Dialog auf theoretischer Ebene bleiben wird, sondern welche Konkretionen für Schülerinnen und Schüler, Eltern, Kollegium und die Ortsgemeinde sichtbar werden.

Im Umgang mit Ordnungsmaßnahmen, im Wochenbeginn und -ausklang, im Stellenwert der Projektarbeit/Freiarbeit, in der Elternarbeit, in der Leistungsmessung und in vielen pädagogischen Alltagsentscheidungen leuchtet etwas von dem ausgesprochenen oder unausgesprochenen Konsens einer Schule auf.

Die folgende Auflistung verdanke ich Herrn Dr. Asselmeyer von der Universität Hildesheim. Sie wurde im Rahmen unseres zweiten Symposiums zur Vernetzung von Schule und Kirche entwickelt (1) und mag als Checkliste für ein Gespräch im eigenen regionalen Team zur Weiterentwicklung des Vorgefundenen dienen:

Warum überhaupt Schulprogramm-Entwicklung?

  • Gesellschaftlicher Wandel erfordert organisatorische Antworten der Schule
  • Vielfalt des Bildungswesens >Auswahl
  • Marktposition Schule > bes. in Ballungsgebieten
  • Kundenorientierung > Wettbewerb
  • Budget
  • Handlungs-Spielräume durch Autonomie
  • Technologie-Orientierung
  • Projekt-/Teamorientierung
  • Öffnung der Schule zu außerschulischen Institutionen,
  • Kooperation mit kirchlichen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern
  • Schule "in Bewegung"
  • weg vom bürokratisch/hierarchischen Steuerungsmodell
  • hin zur multi-zentrischen Experten-Organisation
  • Dezentralisierung führt zu besseren qualitativen Lösungen
  • Schulautonomie erfordert ein Programm

 

Zukunft (er-)finden

  • Was heißt Zukunft?

  • Begriff: "bequem" ist Adverb zu dem unter "kommen" behandelten Verb und
    hat die Grundbedeutung von Zukommen, passend, tauglich
         - nahe verwandt ist "bekommen"
        - die heutige Bedeutung von träge, faul hat sich erst im 18. Jhdt. entwickelt

  • Verbalabstraktum "kunft" (kommen) wird heute nur noch in Zusammensetzungen gebraucht - z.B. Ankunft.

  • zukommen - sich auf etwas zu bewegen, sich nähern.

  • Zukunft: kommende Zeit, die Aussichten und Möglichkeiten einschließt

In der Literatur finden wir eine Zeitangabe von 3 bis 8 Jahren für den Schulentwicklungsprozess. Veränderungen brauchen Zeit. Eine kontinuierliche Rückbesinnung und Überprüfung des Erreichten an den Zielvorgaben ist nötig. Der sogenannte Evaluierungsprozess bedeutet, dass die Programmentwicklung als dynamischer Prozess nicht als einmalige Aktion zu betrachten ist. Leben - auch Schulleben- ist immer konkret und in Bewegung. Der gestaltete Lebensalltag einer Schule und die Beteiligung aller Personen, die hier Lern-, Lebens- und Erziehungserfahrungen machen, steht in Mittelpunkt des Veränderungsprozesses. Aus religionspädagogischer Perspektive muss uns, ob wir nun in der Schule oder in der Kirche tätig oder als Eltern betroffen sind, brennend interessieren, welche Erfahrungsräume Kindern und Jugendlichen gezielt eröffnet werden.

 

3. Erfahrungsbezogenes religiöses Lernen als Gemeinschaftserfahrung, die pneumatologisch verortet ist

Den inneren Veränderungen der gegenwärtigen schulischen Wirklichkeit, die zur Zeit vor allem in der Grundschule wahrzunehmen sind, korrespondiert die empirische Wende in der Theologie und in der Religionspädagogik. Galt Erfahrung früher gegenüber der Offenbarung als etwas Sekundäres oder Abgeleitetes, so wird gegenwärtig die wirklichkeitserschließende Bedeutung der Erfahrung in den Mittelpunkt gestellt. Erfahrung gilt als raumzeitliches Modell, mit dem Wirklichkeit erschlossen, verstanden und in den eigenen biographischen Kontext sinnstiftend eingebracht wird. Kirche und Schule sollten sich um gemeinsame Projekte bemühen, die es möglich machen, Kindern und Jugendlichen die Sprach- und Deutungsangebote der christlichen Tradition in erfahrungsbezogenen Lernprozessen näher zu bringen. Mit der veränderten kindlichen Lebenswelt stellt sich die Frage, wo Kindern und Jugendlichen heute die religiöse Praxis begegnet.

Auch getaufte Kinder bringen heute keine oder nur wenige außerschulische Erfahrungen mit der gelebten Religion mit in den Unterricht. Gottesdienstliche Formen, Gebet und Liturgie sind Kindern der Grundschule weitgehend fremd. Eine spezifische religiöse Sozialisation ist nur in seltenen Fällen in der Grundschule anzutreffen. Eltern oder Großeltern sind, sofern sie als Dialogpartner zur Verfügung stehen, selten in der Lage oder Willens als Sachwalter der religiösen Erziehung zu dienen. Wo gezielte Projekte zur Vernetzung von Schule und Kirchengemeinde initiiert werden, gelingen fruchtbare Veränderungen. Religiöses Lernen umfasst nicht nur kognitive Aspekte. Elemente der liturgischen Formsprache, kindgemäße, handlungsorientierte Aktionen, akustische, visuelle und haptische Gestaltungen müssen einbezogen werden, um eigene Erfahrungen zur Sprache zu bringen und zu deuten.

Über theoretische Diskussionen hinaus sollten konkrete gemeinsame Projekte wie Erkundungen, Andachten, Schulgottesdienste, Kinderbibelwochen, Projekte kirchlicher Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Schule zu einem regelmäßigen Kontakt zwischen Schule und Kirche werden. Berichte aus der Praxis haben gezeigt, dass bereits vereinzelte Kooperationen zu einer kontinuierlichen Veränderung in der Wahrnehmung und Zusammenarbeit zwischen kirchlichen und schulischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern geführt haben.

 

Schule als Ort der Gemeinde

Der Begriff Gemeinde kann nicht auf die Kirche reduziert werden. Er kann auch auf die Schule angewandt werden.

Wenn wir die Begriffe "Gemeinde" und "Kirche" unterscheiden, so geraten zunächst unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in den Blick. Der Begriff "Kirche" nimmt Bezug auf die rechtliche, institutionelle, geschichtliche und räumliche Gestalt der gegenwärtig wahrnehmbaren Ausprägung christlichen Lebens.

Der Begriff "Gemeinde" bezieht sich einerseits auf die personale Versammlung an einem lokal begrenzten Ort, andererseits wird auf die sich im Evangelium ereignende Gemeinschaft verwiesen. Der wahrnehmbaren, soziologisch beschreibbaren Existenz der Gemeinde, die in ihrem historischen Kontext genau zu umreißen ist, korrespondiert ein nicht abgeschlossener Vorgang, der theologisch als die Perspektive Gottes auf den Menschen zu deuten ist. An diesem transzendenten Prozess kann auch die schulische Gemeinschaft beteiligt sein.

Jede Schule ist ein Ort, der von einem bestimmten Geist geprägt ist. Das geistige, geistliche und soziale Klima einer Schule prägt Arbeit und Zusammenleben aller Personen, die täglich miteinander umgehen.

Schule ist ein Ort, an dem Gemeinde als Gemeinschaft erfahrbar wird, in der Menschen in einem sozialen Austausch miteinander stehen oder handeln.

In diesem Gemeinschaftsgeschehen spielt die Persönlichkeit der Lehrerin, des Lehrers eine besondere Rolle.

Der Marginalisierung des Religionsunterrichts durch Stundenausfall und Bedeutungsverlust in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stehen engagierte Lehrkräfte gegenüber, die es oft schwer haben, in den Kollegien und in der Elternschaft für die orientierende Lebensbegleitung der Kinder und Jugendlichen durch den Religionsunterricht und die Bedeutung des Faches für die Schulgemeinschaft wirksam einzutreten.

 

Veränderungsaspekte aus theologischer Sicht

Drei Aspekte sind theologisch hervorzuheben, wenn es darum geht, Gemeinde als einen dynamischen Prozess zu verstehen.

Erneuerung als Wende, die öffentlich erfahrbar wird –Gemeinde als Partizipation am Christusgeschehen durch Gottes Geist

  • Menschliches Sein erfährt eine Veränderung und Auszeichnung durch Gottes Handeln. Die menschliche Wirklichkeit ist durch Schwächen, Unzulänglichkeiten, Misshelligkeiten und die Trennung von Gott gekennzeichnet.
  • Durch das Christusgeschehen und das Handeln Gottes in seinem Geist wird diese gegenwärtig aufweisbare Wirklichkeit in einen neuen Bezugsrahmen gesetzt, der eine neue Perspektive eröffnet. In diesem Blickwinkel gilt die vorgefundene Welt mit ihren Normen, Werten, sozialen Bezugspunkten und Hierarchien als vorläufig, überholt und veränderbar. Damit bedeutet Gemeinde stets Prozess, Vorgang und unabgeschlossenes Geschehen, niemals aber Zustandsbeschreibung oder Erstarrung im Gegebenen. Der sichtbare, soziologisch oder pädagogisch erklärbare Prozess hat eine transzendente Dimension, die sich erst der theologischen Deutung erschließt. Erst wenn ich das Geschehen in der Gemeinde als vom Handeln Gottes getragen deute, kann ich über das vordergründige Verstehen hinausgehen und die Gemeinschaft als von Gottes anderer Wirklichkeit getragen und in sie hineingehoben verstehen.
  • Diese Deutung sollte nicht nur auf abstrakter Ebene ausgesprochen werden. Sie muss in Gestaltungen, in Formen, in Handlungen sinnlich wahrnehmbar zur Sprache kommen. Die von Gott geschenkte Erneuerung der Kräfte des Lebens wendet den Alltag in eine von Gottes Geist erfüllte Zeit. Was im dritten Artikel des Glaubensbekenntnisses in komprimierter theologischer Glaubenssprache formuliert ist, kann als Erneuerung der Kräfte des Lebens konkret als Wende erfahren werden.

 

2. Zukunft der Gemeinde als eschatologische Wirklichkeit

  • Die Gemeinschaft, in der Menschen sich befinden, ist stets unvollendet. Ihre Verwirklichung, Verbesserung und Heilung ist zwar verheißen, doch die zukünftige Vollendung steht noch aus.
  • In der realen Gemeinde sehen wir einen sozialen Vorgang, der durch die theologische Deutung eine neue Perspektive erhält.
  • Am Beispiel der Taufe wird deutlich, dass der äußeren Handlung, dem äußerlich sichtbaren Zeichen ein Geschehen entspricht, das von Gott vollzogene wird. Die Taufhandlung ist wahrnehmbares Zeichen eines umfassenderen Vorgangs, der als Gottes Handeln gedeutet wird.
  • Die Metapher vom wahrnehmbaren Rand des Geschehens ermöglicht die Unterscheidung zwischen sichtbarem Ereignis in äußerer Gestalt und der vollzogenen religiösen Deutung des Wahrgenommenen. Zeichen und Gestaltungen haben eine wichtige hinweisende Funktion. Sie bringen Gottes Nähe, Gottes Wirklichkeit in, mitten, unter dem sinnlich wahrnehmbaren Handlungen zur Sprache.
  • Der dynamische Gemeindeaspekt ist stets unter dem Modus der Verheißung zu verstehen. Der fragmentarische Vorschein, die bruchstückhaften Ansätze sind Zeichen einer möglichen, noch unvollendeten Erfüllung dieser Verheißung.
  • Der Begriff Gemeinde beinhaltet eine hoffnungsvolle, Zukunft eröffnende Perspektive.
  • Dieser dynamische Gemeindebegriff umschließt Gemeinschaften in Schule und Kirche in gleicher Weise. Er kann nicht institutionell verengt betrachtet werden.

 

3. Gemeinde als befreite Gemeinschaft, die der Kraft Gottes vertraut

  • Neben dem Aspekt der Befreiung durch die innere Wendung des Menschen zu Gott, die in der traditionellen theologischen Sprache "Sündenvergebung" heißt und bei Christoph Gestrich den metaphorischen Ausdruck "Wiederkehr des Glanzes in der Welt" erhält, ist vor allem der Umgang mit Unterschieden, Ungleichheiten, Gegensätzen und Differenzen in der Pluralität der Lebenslagen in Schule und Kirche von Bedeutung.
  • Die Wahrnehmung des Glanzes Gottes als neue, befreiende Beleuchtung des Alltags kann in der Schulfeier, im Gottesdienst, in der Andacht, in der Stilleübung, im Singen eines Liedes und im Zusammenleben der Verschiedenen erfahrbar werden. Die Unterbrechung des Alltags, des eingespielten Erfahrungsflusses, lässt die erwartete und spürbare Gegenwart Gottes aufleuchten.

 

4. Kooperation statt Konkurrenz

Regionale Angebote der Kirche an die Schule

Das Religionspädagogische Institut Loccum unterstützt seit Jahren die Vernetzung von Schule und Kirche durch gezielte Veranstaltungen. Vernetzung geschieht effektiv nur dort, wo Personen in konkreten Projekten gemeinsame Prozesse initiieren, durchführen und evaluieren. Das RPI bietet Tagungen, Seminare, Konferenzen an und leistet durch sie wichtige Innovationsarbeit für die Gemeinden und die Schulen. Regionale Tagungen leisten notwendige Motivationsarbeit. RPI-Veranstaltungen in der Region werden gemeinsam mit Personen aus der Kirche und aus der Schule vorbereitet. Häufig sind Schulausschüsse der Kirchenkreise die Initiatoren gemeinsamer Veranstaltungen oder Projekte. Über die rein inhaltliche Arbeit hinaus geht es bei allen Veranstaltungen um die Wahrnehmung der anderen Institution. Ein wesentliches Anliegen der Seminare ist es, durch Gespräche oder gemeinsame Aktionen den Perspektivwechsel auf die eigene Institution mit den Augen anderer anzubieten. Biographische Erfahrung aus der Vergangenheit prägen oftmals das Bild der Lehrerin auf "die Kirche" und das Bild des Pastors auf "die Schule". Bei einem ersten Kontakt kann es sinnvoll sein, einen Austausch über kleine gelungene Projekte oder Einzelinitiativen zu ermöglichen, um über die Bestätigung des bereits Geschehenen zur Fortsetzung der Zusammenarbeit zu ermuntern. Häufig wurde das RPI angefragt, um Hilfen bei der Bearbeitung regionaler Besonderheiten oder Schwierigkeiten anzubieten. Regionale Initiativgruppen wie Schulausschüsse oder Fachberaterinnen/Fachberater und RPAG-Leiterinnen/-leiter greifen gern auf den RPI-Kontakt-, Organisations-, Planungs- und Werbungsservice zurück, um die eigene Regionalarbeit zu optimieren. Als ein Gradmesser für die erfolgreiche Absolvierung eines Regionalangebotes ist die Frage zu betrachten, inwieweit das "Wir-Gefühl" im Hinblick auf ein gemeinsames Orientierungsangebot für Kinder und Jugendliche entwickelt oder konkretisiert wurde.

Darüber hinaus gilt es, den Blick für Differenzen beider Institutionen zu schärfen, damit vor und bei jeder Planung unrealistische Erwartungen vermieden werden und insbesondere die unterschiedlichen Zeitvorgaben stets in den Blick genommen werden. Der besondere Wert unserer punktuellen Regionalarbeit vor Ort besteht darin, bei kirchlichen Bediensteten ein Umdenken zu bewirken. Die traditionelle Kommstrukur ist zur Gehstruktur weiterzuentwickeln. Von Religionslehrerinnen und Religionslehrern werden gelungene Regionalveranstaltungen als Stärkung, Rückbindung und Vergewisserung empfunden, die ein notwendiges Auftanken gegen das Ausbrennen im Rahmen der eigenen kräfteverschleißenden Arbeit in der Schulwirklichkeit ermöglichen. Die durch Veranstaltungen in der Region gesetzten Akzente geben Impulse für weitere Aktivitäten vor Ort. Sie hemmen die Konkurrenzangst zwischen den unterschiedlich professionalisierten Personen und richten den Blick auf gegenseitige Unterstützungsleistungen. Im Rahmen des Forschungsprojekts der Evangelischen Fachhochschule "Schulnahe evangelische Jugendarbeit" wurden an verschiedenen Orten Interviews durchgeführt zur Ermittlung der Formen der Zusammenarbeit von Schule und Kirche. Die Interviews haben gezeigt, dass wichtige Impulse und Aktionen des Schulausschusses von Regionaltagungen des Religionspädagogischen Instituts ausgingen.

 

Vernetzung durch Seminare und Kooperationsprojekte

Von besonderem Erfolg gekrönt scheinen mir zeitlich begrenzte Projekte, Vorhaben und Diskurse.

Unter klarer Aufgabenstellung und mit überschaubarer Zielvorgabe vereinbaren Personen aus kirchlichen und schulischen Kontexten gemeinsame Vorhaben.

Eine Planungsgruppe, der Personen aus Kirche und Schule angehören, berät über Inhalte, Ziele, Zeitvorgaben, Adressatengruppen und Realisierungsschritte.

Dort, wo die Initiative der Zusammenarbeit von der Kirchengemeinde ausgeht, hat sich der Schulausschuss des Kirchenkreises als geeignetes Gremium erwiesen. In ihm engagieren sich häufig ehrenamtlich im kirchlichen Kontext arbeitende Lehrerinnen und Lehrer und Personen aus anderen Berufsgruppen, denen die Zusammenarbeit der Kirche mit der Schule am Herzen liegt.

Über zahlreiche, recht unterschiedliche Initiativen versucht das RPI Loccum, Verantwortliche in Kirche und Schule zur Zusammenarbeit zu motivieren gemeinsame Interessen zu formulieren.

In Fortbildungsveranstaltungen in der Region finden Kooperationen themenzentriert statt. Die Vorbereitungsgruppe benennt inhaltliche Schwerpunkte, die im gemeindlichen und im schulischen Umfeld in gleicher oder ähnlicher Weise relevant sind. Ist die Prioritätenentscheidung für ein Thema gefallen, so werden die übrigen Themen als mögliche für Folgeveranstaltungen des/der nächsten Jahre notiert.

In allen von mir initiierten oder begleiteten Veranstaltungen zeigte sich, dass der Beginn stets der Auftakt zu weiteren Folgeaktionen in den anschließenden Jahren wurde. Diese Veranstaltungen wurden teils in regionaler Regie oder weiterhin unter Beratung, Begleitung oder Mitgestaltung durch das RPI durchgeführt.

Die Kommunikation in der Initiativgruppe ist von entscheidender Bedeutung. Die "multiperspektivische" Sicht des Leiters / der Leiterin der Gruppe, die (der) sowohl die kirchliche als auch die schulische Struktur mit den jeweiligen Besonderheiten im Blick behält, kann besonders fruchtbar sein.

Im Laufe des Projekts ist es günstig, Teilgruppen zu bilden, deren Besetzung genau zu bedenken ist.

Dort, wo unterrichtspraktische Planungen als Unterrichtsstunden oder Unterrichtseinheiten erstellt werden, die in einer zweiten Phase des Projekts erprobt werden sollen, bietet es sich an, eine different professionalisierte Arbeitsgruppe zu bilden, die Unterrichtssequenzen für den KU und den Sek I - Bereich gemeinsam plant.

Die erfolgreiche Kooperation im Rahmen eines Projekts zeigte sich gelegentlich in der Realisierung der praktischen Erprobung wie Darbietung oder Unterrichtserprobung mit Hospitation. Für die Unterrichtsstunde wurden Zielangaben und detaillierte Verlaufsplanungen vorgelegt, die bei weiteren Seminarveranstaltungen oder Treffpunkten einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Bei einigen Unterrichtsstunden zum Thema Psalmen, bei einer "Installation im sakralen Raum" und bei kirchenpädagogischen Erkundungsprozessen im vorschulischen Alter, im Grundschulalter und im Jugendalter wurde im Kindergarten, in der Grundschule und im Konfirmandenunterricht gefilmt.

Die besondere Qualität der dokumentierten praktischen Vorhaben und die Rückmeldungen in den Abschlussgesprächen belegen jeweils eine erfolgreiche Projektarbeit für alle Beteiligten, die neben einem intensiven Diskussionsprozess stets zu einer erweiterten Wahrnehmung der eigenen und der anderen Institution führten und in vielen Fällen zu Folgeveranstaltungen und zu gezielten weiteren Kooperationen zwischen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern aus Schule und Kirche führten.

 

Kooperation statt Konkurrenz

Als Bedingungen eines erfolgreichen Kooperationsprozesses sind folgende Faktoren zu nennen:

  1. Personen bilden die wertvollsten Projektressourcen. Neben den individuellen Voraussetzungen zeigten und entwickelten die beteiligten Personen eine hohe Kommunikationsfähigkeit, pädagogische Kompetenz, Kooperationsfähigkeit, persönliche Einsatzfreude und Offenheit bis zur Bereitschaft, die Projektgruppe bei der praktischen Erprobung hospitieren zu lassen oder den Filmmitschnitt zu gestatten.
  2. Damit alle Personen in vertrauensvoller Atmosphäre zusammenarbeiten und angstfrei in allen Phasen des Erprobens agieren können, ist eine sensible Kursleitung sowie eine strukturierte Planung nötig, in der Phasen der Metakommunikation ihren Platz haben. Das Innehalten ist wichtig, damit verschiedene Perspektiven das Geschehen beleuchten können. Der multiperspektivische Blick kann den Fortgang der Arbeit verändern.
  3. Die religiöse Vergewisserung sollte nicht nur im Diskurs sondern auch in der gemeinsamen Feier praktiziert werden.
  4. Die Andacht zum Abschluss eines arbeitsreichen Seminartages oder die gottesdienstliche Feier oder die Meditation sind wichtige Bausteine gemeinsamer Projekte zwischen Schule und Gemeinde. Insbesondere von Lehrerinnen und Lehrern werden diese notwendigen Regenerationsbausteine sehr geschätzt.
  5. Fotodokumentation oder Filmmitschnitt haben sich als hilfreich erwiesen, um die Präsentation der Ergebnisse für alle Beteiligten festzuhalten. Reflexion und Würdigung von außen sind hilfreich, um den Erfolg oder die Mängel deutlich wahrzunehmen.

Ende diesen Jahres läuft die 10-jährige Projektstelle des Religionspädagogischen Instituts aus. Die begonnene Arbeit kann durch Eigeninitiative in den Regionen fruchtbar weitergeführt werden. Religionspädagogische Multiplikatoren in der Region sind die Hoffnungsträgerinnen und -träger der Zukunft: Kirchliche Regionalbeauftragte, Fachberaterinnen und Fachberater, Leiterinnen und Leiter Religionspädagogischer Arbeitsgemeinschaften können in enger Zusammenarbeit mit Kirchen und Schulen regionale Konzepte entwickeln und Projekte durchführen. Die praxisnahe Fortbildung und die ortsnahe Vernetzung gewinnt eine besondere Bedeutung. Die Bildung von "Qualitätszirkeln", die die Regionale Fortbildung auf staatlicher Seite empfiehlt, kann als hilfreiches Instrument betrachtet werden, die begonnene Vernetzung von Schule und Kirche im staatlichen Fortbildungsbereich fortzuschreiben.

 

Anmerkungen

  1. Das Thema des 2. Symposiums lautete: Kirche und Schule: Freiräume miteinander nutzen. 31. März bis 1. April 2000 in Loccum, Finanziert wurde die Tagung von der Hans-Lilje-Stiftung. Die ausführliche Dokumentation wird zum Jahreswechsel 2000/2001 veröffentlicht werden.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2000

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