Kompetenzen sind Kumuluswolken! Eine niedersächsische Zwischenbilanz zu Kompetenzen und Bildungsstandards im Fach Ev. Religion zehn Jahre nach PISA

von Rainer Merkel

 

Die Kompetenzdebatte feiert Jubiläum. Zehn Jahre liegt ihr “Urknall” zurück, der erste Turnus der PISA-Studie und die Rede vom Bildungsschock. Seither entfaltet sich sowohl überfachlich als auch “domänenspezifisch” eine vielschichtige Debatte, deren Ende nicht in Sicht ist, die aber retrospektiv bereits Aussagen über Chancen und Grenzen im Fach Ev. Religion erlaubt. Wie weit reicht ihre “Ursprungsenergie”? Verschiedene Kompetenzmodelle und Kerncurricula wurden vorgelegt, in anderen Fächern auch Bildungsstandards beschlossen. In Niedersachsen ist gegenwärtig das SEK II-Curriculum Ev. Religion in Arbeit. Mit seinem Inkrafttreten im Jahr 2011 erreicht die Umstellung der Lehrpläne auf kompetenzorientierte Handreichungen ein wesentliches Etappenziel.

Zeit für eine Zwischenbilanz.

 

Ursprüngliche Ziele

In der Kompetenzdiskussion kommt der 2003 veröffentlichten Expertise “Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards die Schlüsselfunktion zu. Die von einer Expertengruppe verfasste Studie ist verbunden mit dem Namen Eckhard Klieme, seinerzeit Leiter der Arbeitseinheit “Bildungsqualität und Evaluation” des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF). Die Bedeutung der Expertise kann man kaum überschätzen. Mit ihr sind nämlich unverblümt die Intentionen eines langfristigen und mehrdimensionalen Prozesses entfaltet, der nichts Geringeres als die Umsteuerung des deutschen Bildungswesens zum Ziel hat. Ein solcher Prozess ist dringend angewiesen auf orientierende Wegmarken, die das Gesamt der Entwicklungschronologie im Blick haben. Der Medienhype um PISA hat polarisiert, unter der Lehrerschaft überwiegen die Gegner. Das Grundpapier dagegen gilt mit Recht als wegweisend und ausgewogen zugleich. Was wollte Klieme?

 

Doppelfunktion von Standards
Die Expertise hatte Bildungsstandards stets eine Doppelbestimmung zugeschrieben, nämlich zum einen eine Orientierungsfunktion, zum anderen eine Rückmeldefunktion (vgl. Klieme u. a. 2003, 9f.47.90). Beide Intentionen werden mehrfach wiederholt, aber auch spezifiziert.

 

Erwartung 1 – Rückmeldung:
Klieme versprach sich von Bildungsstandards vor allem Rückschlüsse auf die Qualität von Unterricht in Form von Testergebnissen. So wird gebetsmühlenartig wiederholt, Standards seien als “prinzipiell testbar” zu formulieren. Auf drei verschiedenen Ebenen sei dieses neue Instrumentarium geeignet, Qualität zu spiegeln und damit entwicklungsfähig zu machen: Bildungsmonitoring, Schulevaluation und Individualdiagnostik (9.19.99). Diese Trias wird sicher nicht als gleichrangige, sondern im Sinne eines nationalen Inter­esses mit abfallender Gewichtung ins Feld geführt. Bezeichnenderweise ist die Akzeptanz von Lehrerinnen und Lehrern gerade umgekehrt. Sie denken stärker vom unterrichtlichen Nahbereich aus als in übergreifender Perspektive.

 

Erwartung 2 – Transparenz und Orientierung:
Da Standards fixieren sollten, welche Kompetenzen einer Domäne, also eines Lernbereichs oder Fachs, bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe zu erreichen seien, werde ein fachgebundenes “Referenzsystem für das professionelle Handeln” geschaffen. Anders: Bildungsstandards zögen eine Selbstvergewisserung der Fächer durch transparente Langzeitziele nach sich (9.22, ähnlich 21). Auch wenn die Terminologie möglicherweise sperrig anmutet, steht der Effekt in der Praxis kaum in Frage. Lehrerinnen und Lehrer, die zum Beispiel wegen Ihrer Erfahrungen an der Orientierungsstufe fast ausschließlich in den jüngeren Jahrgängen eingesetzt werden, müssen in der gemeinsamen Arbeit am Schulcurriculum den Blick weiten, sich in die langfristige fachspezifische Lernbiografie der Schülerinnen und Schüler eindenken und die dauerhafte Zielperspektive des Faches einbeziehen. Dass sich die Selbstvergewisserung des evangelischen Religionsunterrichts nicht zuletzt in Kompetenzen, Kompetenzmodellen und Lehrplänen spiegelt, wird noch zu verdeutlichen sein.

Mit der Differenzierung zwischen Orientierungs- und Rückmeldefunktion erscheint die oft vehemente Kritik an der neuen Outputsteuerung in anderem Licht. Bildungsstandards und Kompetenzorientierung werden nämlich, im Speziellen aus religionspädagogischer Perspektive, wegen des Testbarkeitsanspruches abgelehnt. Diese Ablehnung ist begründet. Denn ob es überhaupt möglich sein wird, in einem “weichen” Fach wie Religion komplexe, langfristig zu erwerbende Kompetenzen überprüfbar und zudem auf unterschiedlichen Niveaustufen zu formulieren, ist mindestens offen. Bereits Klieme erwähnt die Probleme mit Tests, prophezeit “bei schlechten Tests fatale Auswirkungen” und warnt vor einem verkürzten “teaching to the test” (48f.). Ich sehe vor allem das Problem, dass Komplexität und intelligente Anwendungsfähigkeiten in antiproportionaler Beziehung zu einfacher Testbarkeit stehen, dass das Überprüfbarkeitsdiktat im Blick auf die Kompetenzen eine Über- betonung von Faktenwissen provoziert und dass damit der ursprünglich anspruchsvolle Kompetenzgedanke, der Wissen und Können zusammenhält, ausgehöhlt wird. Wie soll etwa ein Multiple-Choice-Test valide die Kompetenz erheben, respektvoll mit anderen Religionen zu kommunizieren? Nicht zuletzt bestehen einige der in der “Domäne” Religion erwerbbaren Kompetenzen ja gerade darin, offene, unvorhersehbare Ergebnisse gestalten zu können. Geschlossene Aufgabenformate können daher, wie etwa die des Berliner KERK-Projektes, im Rahmen des Möglichen absolut ausgereift sein – der Rahmen des Möglichen ist und bleibt apriorisch zu eng (Schluß 2009, 60 selbst: “Nicht alles (vielleicht sogar nur weniges) im Bereich der Religion lässt sich messen”).

Fatalerweise wird das Kind nun mit dem Bade ausgeschüttet und die Kompetenzorientierung pauschal verworfen. Dabei verdient die Konstruktion von Kompetenzen und Kompetenzmodellen Zustimmung – schon um der positiven Orientierungseffekte willen. Nur ist eben dieser Prozess von Testbarkeitsansprüchen bewusst freizuhalten. Inwieweit sich die Kompetenzen in einem zweiten Schritt ohne wesentliche Verluste standardisieren lassen, steht auf einem anderen Blatt. Das Verhältnis von Kompetenzmodellen und Bildungsstandards muss ohnehin als zeitliches Nacheinander gedacht werden (vgl. Rothgangel 2009, 105f.). Und selbst Klieme spricht in Bezug auf Bildungsstandards von “Entwicklung” und strebt keinen schnellen, einmaligen Wurf an.

 

Erwartungshorizont
Was ist inzwischen herausgekommen aus dem Umsteuerungsprozess? Entkoppelt man Kompetenzmodelle und Standards, lässt sich ein recht genauer “Erwartungshorizont” entwerfen. Die an Messbarkeit und Standardisierung geknüpften Hoffnungen sind im Sinne der Entschleunigung der Debatte allenfalls in einem Ausblick zu thematisieren. Als Folie für die anschließende Bilanz ergibt sich ein Katalog von vier zentralen Forderungen:

  1. Kompetenzen halten Wissen und Können zusammen. Sie müssen auf einer “mittleren Abstraktionsebene” formuliert sein (Klieme u. a. 2003, 78.33). Werden sie zu abstrakt gefasst, fehlt ihnen die praktische Handhabbarkeit. Sind sie dagegen konkret und bereits nach kürzeren Lernintervallen zu erwerben, fehlt ihnen die von Klieme intendierte und definitorisch festgehaltene Langfristigkeit und Kumulativität (25 u.ö.). Mit anderen Worten: Es sind dann keine Kompetenzen, sondern Lernziele oder eine Zwitterkategorie.
  2.  Ein überzeugender Kompetenzkatalog kann das fachliche Spektrum nur dann ausgewogen abbilden, wenn er aus einem innerfachlich konsensfähigen Kompetenzmodell hervorgeht. Im Idealfall sind darin Niveauabstufungen der Kompetenzen vorgesehen, die auch altersabhängig zugeordnet sind (17.22.78). Hier schränkt Klieme (78) allerdings ein: “Die Entfaltung eines wissenschaftlich abgestützten Kompetenzmodells im Sinne von Komponenten, Niveaustufen oder gar Entwicklungsverläufen wird nur selten vollständig möglich sein.” In der Logik von Outcome-Orientierung sind die Kompetenzen vom Bildungsabschluss her zu denken, der gestufte Kompetenzerwerb ist absteigend zu konzipieren.
  3. Zumindest kurzfristig haben Curricula aus pragmatischen Gründen noch die Funktion, durch einen inhaltlichen Kern im Sinne eines Kanons die Unterrichtsgestaltung behutsam zu steuern. Gegenüber Lehrplänen müssen sie schlank gehalten sein und den Schulen Freiräume erlauben. Indem sie “modellhaft Anregungen” geben, sind sie eher als Handreichungen zu profilieren (93-96, Zitat 95).
  4. Im letzten Glied der Kette müssen tragfähige und vor allem wirksame Schulcurricula stehen. Da die Expertise die Kerncurricula als Handreichungen für die schulischen Fachgruppen verstanden wissen (49-51), hängt die kompetenzorientierte Unterrichtsgestaltung maßgeblich davon ab, ob die Fachteams zu entsprechenden Schulvereinbarungen kommen und diese umsetzen.

 

Der Weg

Der Weg von PISA zum Kompetenzmodell der niedersächsischen Curricula führte über Stationen und Meilensteine auf unterschiedlichen Ebenen: fachübergreifend, fachspezifisch, EKD-weit und bundeslandbezogen. An anderer Stelle wurde bereits systematisch und treffend auf die meisten dieser Stationen eingegangen (vgl. Obst 2009, 70-113. 117-122). Im Kontext einer Bilanz hebe ich drei entscheidende Glücksfälle, aber auch zwei strukturelle Kardinalfehler hervor.

Der erste Glücksfall ist die Habilitationsschrift des katholischen Theologen und Unternehmensberaters Ulrich Hemel aus dem Jahr 1988. Das dort ausgeführte und seinerzeit wenig beachtete Kompetenzmodell stellte eine ausgereifte, hervorragende Grundlage dar. Auch in der evangelischen Religionspädagogik begann der fachdidaktische Diskurs somit nicht bei Null, sondern auf unvergleichlichem Niveau. Fruchtbar wurde dieser Vorteil nun in Verschränkung mit dem zweiten Glücksfall, einem offenen und breiten fachlichen Verständigungsprozess. Unstrittig ist, dass das Kompetenzmodell der niedersächsischen KCs als Ergebnis eines vielschrittigen Entwicklungs- und Optimierungsprozesses gelten kann. Um das wenigstens exemplarisch zu belegen: Das 2006 vom Comenius-Institut veröffentlichte Kom­petenzmodell verdankt Hemel entscheidende Impulse und war als Diskussionspapier in die Öffentlichkeit gebracht worden. Wesentlichen Kritikpunkten, etwa der zu schwachen Berücksichtigung der ethischen Dimension, dem unklaren Religionsbegriff oder dem mangelnden evangelische Profil, ist bereits in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abitur (EPA 2006) Rechnung getragen. Die Entwicklung eines Kompetenzmodells als konstruktiver Prozess hing in dieser Intensität nicht zuletzt an der Kontinuität der beteiligten Akteure. Sie ist der dritte Glücksfall. Zwar haben die unterschiedlichen Besetzungen der CI-Expertengruppe, der EPA-Kommission, der EKD-Kommission zum SEK II-Kerncurriculum und die niedersächsischen Kerncurriculumkommissionen zu immer wieder neuen Überlegungen und Perspektiven geführt. Daneben aber gab es, teilweise durchgehend, personelle Verschränkungen. So ist auch eine weitere, wichtige Fortschritts­linie in der Kompetenzformulierung von den EPA über das SEK II-Curriculum der EKD (2009 verabschiedet, 2010 veröffentlicht) bis zu den niedersächsischen KC SEK I (2009) zu beobachten. Die fünf Bereiche “Wahrnehmungs- und Darstellungsfähigkeit”, “Deutungsfähigkeit”, “Urteilsfähigkeit”, “Dialogfähigkeit” und “Gestaltungs­fähigkeit” hatten sich bereits in den EPA etabliert. Dort wurden sie aber, wenngleich einleitend in Form von Spiegelstrichen konkretisiert (EPA 8f.), als grundlegende Kompetenzen geführt – in den Aufgabenbeispielen etwa wird ausschließlich mit den in dieser Abstraktion wenig greifbaren Bereichen operiert. Im SEK II-Curriculum dagegen erhalten die Unterpunkte der Kompetenzen stärkeres Gewicht und werden mit dem Hilfsbegriff der “Teilkompetenz” belegt (19), bevor in den niedersächsischen KCs für die SEK I schließlich terminologisch sauber zwischen Kompetenzbereichen und Kompetenzen unterschieden wird. Das Ergebnis ist ein systematisch hergeleiteter Katalog zwischen 15 (IGS) und 21 (Gymnasium) Kompetenzen, die auf mittlerem, praxistauglichem Abstraktionsgrad liegen. Zwei Bespiele: “grundlegende religiöse Ausdrucksformen wahrnehmen und beschreiben”; “lebensförderliche und lebensfeindliche Formen von Religion(en) unterscheiden” (KC SEK I Gymnasium 15f.). Mit der Systematik von fünf Kompetenzbereichen zeichnet sich, nachdem wohl nicht zuletzt um die Bedeutung der Partizipations- und Gestaltungskompetenz gerungen worden war, ein Konsens ab, der das breite Spektrum religionsdidaktischer Strukturen und Ansätze integrativ abdeckt und nicht in Einseitigkeiten verfällt.

Den skizzierten Erfolgen stehen zwei Kardinalfehler gegenüber, die mit den ministeriellen Vorgaben zusammenhängen. Erstens war keine konsequent von den Schulabschlüssen her angelegte Zeitstruktur vorgesehen. Teilweise sehr unglückliche Gleichzeitigkeiten waren die Folge. Das Kerncurriculum Grundschule, das wie die EPA im Jahr 2006 verabschiedet wurde, konnte das CI-Papier nicht berücksichtigen. Gemessen daran, dass im frühen Stadium des Grundschulcurriculums noch keine Kompetenzen auf mittlerer Abstraktionsebene ausgereift waren, ist die vom MK geforderte Abstimmung von Grundschule, SEK I und SEK II noch erstaunlich gut gelungen. Ein Desiderat bleibt, die mittlerweile etablierten Kompetenzen der SEK I altersentsprechend für die Grundschule zu formulieren.

Der zweite, wohl gravierendere Strukturfehler ist die ministeriell vorgegebene Unterscheidung zwischen inhaltsbezogenen und prozessbezogenen Kompetenzen (vgl. ebenso Husmann 2009, 111). Abgesehen von der terminologischen Schwierigkeit ist damit eine mit dem Kompetenz-­­ begriff der Klieme-Expertise wenig kompatible Doppelstruktur von zwei verschiedenen Abstraktionsebenen fixiert, deren Verhältnisbestimmung nicht aufgeht: Wie soll man logisch fassen, dass Kompetenzen an inhaltsbezogenen Kompetenzen (statt an Inhalten) erworben werden? Und da die inhaltsbezogenen Kompetenzen eher einer theologischen, von den grundlegenden fünf Kompetenzbereichen unabhängigen Matrix (“Mensch”, “Gott”, “Jesus Christus”, “Ethik”, “Kirche und Kirchen”; “Religionen”) entspringen, stellt sich die Frage: Welche der beiden Kompetenzkataloge sind nun die eigentlichen Kompetenzen unseres Faches? Die Curriculum-Kommissionen der einzelnen Schulstufen (und der beiden Konfessionen) haben unterschiedlich darauf reagiert. Während etwa im KC Grundschule die inhaltsbezogenen Kompetenzen im Zentrum stehen (“wobei die prozessbezogene Dimension immer mitzudenken ist” (!), KC Grundschule 2006, 11), sind sie im gymnasialen KC eher versteckte Inhalte im Lernzielformat. Alle Curricula nach 2006 lehnen sich aber eng an die grundlegenden Kompetenzen an, wie sie sich zum Zeitpunkt der EPA mit bundesweitem Geltungsanspruch herausgebildet haben. Es ist unschwer zu erkennen, dass die genannte Doppelstruktur den nationalen Standards für den mittleren Schulabschluss in Mathematik entstammt. Zumindest in dieser Frage wäre, ohne dass damit eine inhaltliche Wertung ver­- bunden sei, der einfache Konkurrenzentwurf des Faches Deutsch die bessere Alternative gewesen.

 

Ergebnisse

Blicken wir auf unseren anfänglichen Erwartungshorizont zurück, um die bisherigen Erfolge und Defizite zu beurteilen.

  1. Die obige “Wegbeschreibung” zeigt, dass mit den so genannten prozessbezogenen – oder besser in der EPA-Terminologie: grundlegenden – Kompetenzen komplexe Zielvorstellungen auf einer mittleren Abstraktionsebene formuliert sind. Über die richtige Anzahl und über einzelne Formulierungen mag man streiten. Wichtiger ist der geeignete Abstraktionsgrad, der sich auch im 2009 vom Rat verabschiedeten, aber noch unveröffentlichten EKD-Orientierungsrahmen widerspiegelt. Fazit: Anforderung voll erfüllt.
  2. Wenn einem Fach aufgegeben ist, in einem mehrstimmig geführten fachdidaktischen Diskurs ein konkretes Kompetenzmodell von breiter Akzeptanz zu produzieren, ist das alles andere als einfach. Desto beachtlicher ist die hohe integrative Kraft, die von der weithin konsensfähigen Systematik mit fünf Kompetenzbereichen ausgeht. Noch nicht hinreichend eingelöst ist dagegen das Ziel eines Kompetenzstufenmodells, das diese Kompetenzen auf verschiedenen Niveaus und für konkrete Altersstufen formuliert (so auch Schweitzer 2009, 79). Die Erwartungen am Ende von Doppeljahrgängen in den niedersächsischen KCs sind allein inhaltsbezogen ausgeführt. Anders als Friedrich Schweitzer fasse ich es dagegen als positives Signal auf, dass quer durch alle Schularten eine Orientierung auf dieselben Kompetenzen erfolgt. Allerdings steht noch aus, hier eine begründete Abstimmung hinsichtlich des Komplexitätsgrades vorzunehmen. Vielleicht wird man sich den Niveaustufen von Kompetenzen in unserem Fach auch nur beschreibend nähern können. Dann sind die Hoffnungen generell zu dämpfen. Fazit: Erwartungen mit Einschränkungen erfüllt.
  3. Ob und inwieweit die niedersächsischen Curricula eine wohl dosierte inhaltliche Steuerungsfunktion übernehmen, ist eine kaum objektivierbare Frage. Sie hängt nicht nur davon ab, wie viel Eigenständigkeit man den schulischen Fachgruppen bereits zumuten mag, sondern auch von der je eigenen Position in der Kanonfrage. Wer beispielsweise mit Bernhard Dressler einem thematischen Kanon skeptisch gegenübersteht (Dressler 2009, 141), wird vermutlich schon jetzt für minimale Inputsteuerung plädieren. Festzuhalten ist immerhin, dass im Vergleich mit den vorangegangenen Lehrplänen merklich reduziert wurde, dass zum Beispiel im Gymnasialbereich Themen wie Sekten, Drogen und Partnerschaft nicht mehr zum Kern gehören. Und da alle Curricula eine Rubrik mit “möglichen Inhalten” sowie exemplarische Sequenzen im Anhang vorhalten, fällt zumindest das Bemühen um “modellhafte Anregungen” ins Auge. Fazit: in der Tendenz richtig, objektiv allerdings kaum zu beurteilen.
  4. Entscheidend ist letztlich, was in der Praxis geschieht. In Fortbildungsangeboten und in der Begleitung von Fachkonferenzen, ein schuleigenes Curriculum zu gestalten, habe ich sowohl Enttäuschendes als auch Ermutigendes beobachten können. Die größte Innovation der Kompetenzorientierung liegt wohl darin, dass sich auch gymnasiale Fachgruppen zu einer in diesem Maß bisher nicht gekannten Teamarbeit gezwungen sehen. So ist die oben gestellte Erwartung praxiswirksamer Schulcurricula ambivalent zu beurteilen: Einerseits wird viel Papier produziert, von Inhalten her gedacht und nachträglich, aus formalen Gründen, mit Kompetenzen dekoriert. Andererseits setzen sich insbesondere reflektiertere Lehrerinnen und Lehrer intensiv mit den langfris- tigen Zielen evangelischen Religionsunterrichts auseinander, denken von Anforderungssituationen aus und nehmen die Kompetenzen als eine weitere Bezugsgröße der Unterrichtsgestaltung ernst. Für sie ist das Schulcurriculum kein totes Papier, sondern eine lebendige Verständigung über den religiösen Bildungsprozess von Schülerinnen und Schülern, der über kurze Lernintervalle hinausreicht. Fazit: gesteckte Erwartungen teilweise erfüllt.

 

Resümee

Zehn Jahre nach PISA kann der evangelische Religionsunterricht in Niedersachsen recht präzise bestimmen, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten er zu vermitteln unternimmt. Die niedersächsische Kompetenzorientierung steht in einer Linie mit den EPA und dem SEK II-Curriculum der EKD und hat sicherlich Modellcharakter. Selbst wenn man die Erwartung ausklammert, überprüfbare Bildungsstandards zu formulieren, ist ein Ende des Weges jedoch nicht in Sicht. Kompetenzorientierung macht die Didaktik kurzer Lerneinheiten und Stundenziele nicht unwichtiger, muss aber als zusätzlicher Referenzrahmen immer umfassender gedacht werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Realisierung dieses Rahmens der Messbarkeit weitgehend entzieht. Friedrich Schweitzer fordert in der Kompetenzdebatte eine Theorie der kategorialen Bildung und kritisiert eine rein pragmatische Zusammenstellung von Kerninhalten in Curricula (vgl. Schweitzer 2009, 82f. 76). Der Kompetenzkatalog mit seinen fünf Kompetenzbereichen vereinigt allerdings die wichtigsten religionspädagogischen Konzeptionen bzw. didaktischen Strukturen (Biehl) in sich, liegt also auf einer Metaebene und ist, anders als didaktische Leitbilder, davon entbunden, Auswahlkriterien für Inhalte bereitzustellen. Unterschiedliche didaktische Leitbilder schlagen unterschiedliche Auswahlkriterien vor. Übergreifend scheint mir eine pragmatische, allerdings fachdidaktisch kommunizierte Bestimmung zentraler Inhalte der einzig gangbare Weg. Die dringendste Aufgabe wird eher darin bestehen, die Kompetenzen in der Praxis zu verwenden, sie durch praktischen Gebrauch geläufig werden zu lassen und zu etablieren. Idealerweise geschieht das in Vernetzung mit komplexen Anforderungssituationen und Lernaufgaben, wie es Rebekka Tannen mustergültig vorgeführt hat (Tannen 2000). Nur dann lohnt es sich für Lehrkräfte wirklich, der neuen Langfristigkeit als zusätzlicher Perspektive einen echten Stellenwert einzuräumen.

Kompetenzen sind Kumuluswolken: Sie bilden sich aus winzigen Wassertröpfchen und haben unscharfe Ränder. Ab wann ein Haufen (lat. cumulus) als Haufen bezeichnet werden kann, lässt sich kaum messen und stellt – als so genannte Haufenparadoxie – eine philosophische, schwer entscheidbare Frage dar. Trotzdem muss, wenn es irgendwann fruchtbaren Regen geben soll, immer eine Wolke aufziehen.

 

Literatur

  • Dressler, Bernhard: Kanon als Inhaltsvorgabe? – Oder: Suchen sich Kompetenzen ihre Inhalte? in: Zwischen Kanon und Lehrplan, hrsg. v. Gerhard Büttner u. a., Berlin 2009, 134-142.
  • Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung. Evangelische Religionslehre, i.d.F. v. 16.11.2006, Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, zitiert nach http://www.kmk.org/fileadmin/ veroeffentlichungen_beschluesse/1989/1989_12_01-EPA-Ev-Religion.pdf
  • Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religionslehre in der gymnasialen Oberstufe. Themen und Inhalte für die Entwicklung von Kompetenzen religiöser Bildung, EKD-Texte 109, Hannover 2010. Auch www.ekd.de/download/ekd_texte_109.pdf.
  • Fischer, Dietlind / Elsenbast, Volker (Redaktion): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, hrsg. v. Comeniu-Institut, Münster 2006.
  • Husmann, Bärbel: Zentrum und Peripherie. Das gymnasiale Kerncurriculum Ev. Religion 5-10, Loccumer Pelikan 3/2009, 110-114.
  • Klieme, Eckhard (u. a.): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise, hrsg. v. Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bonn 2003.
  • Obst, Gabriele: Kompetenzorientiertes Lehren und Lernen im Religionsunterricht, Göttingen 2., durchges. Aufl. 2009.
  • Rothgangel, Martin: Grundlegende Aspekte kompetenzorientierter Religionspädagogik, Loccumer Pelikan 3/2009, 103-106.
  • Schluß, Henning: Empirisch fundierte Niveaus religiöser Kompetenz – Deutung, Partizipation und interreligiöse Kompetenz, in: Kompetenzorientierung im Religionsunterricht. Befunde und Perspektiven, hrsg. v. Andreas Feindt u. a., Münster 2009, 57-72.
  • Schweitzer, Friedrich: Kompetenzen, Inhalte und Elementarisierung im Religionsunterricht – oder: Von der Notwendigkeit einer Theorie der religiösen Bildung, in: Kompetenzorientierung im Religionsunterricht. Befunde und Perspektiven, hrsg. v. Andreas Feindt u. a., Münster 2009, 57-72.
  • Tannen, Rebekka: “Meine Tochter wird nicht teilnehmen …!” Eine Klassenfahrt mit Muslimen?! Kompetenzorientierte Unterrichtsplanung zum Thema “Islam” in einer 8. Klasse, Loccumer Pelikan 3/2009, 117-125.
  • Die niedersächsischen Kerncurricula der einzelnen Schularten sind abrufbar unter http://nibis.de/cuvo (entsprechend zitiert).

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2010

PDF

Rainer Merkel ist Dozent für den Bereich Gymnasium und Gesamtschule am Religionspädagogischen Institut Loccum.