Gut-Achten-Kind an einer Regelschule - Eine Praxisbetrachtung

von Maria Strickmannn

 

Guten Tag, liebe Leserinnen und Leser. Ich heiße (fiktiv, genauso wie alle anderen Menschen, die ich hier nenne) Lotte, bin sieben Jahre alt und besuche die Grundschule Stockhausenstraße in Neustadt am Rübenberge. Diese Schule ist übrigens nicht fiktiv, sondern es gibt sie wirklich.

Wie jeder Mensch bin auch ich etwas Besonderes. Ich bin nämlich ein Gut-achten-Kind. So nennen mich die Lehrer an der Schule, wenn sie anderen Lehrern, die uns im Unterricht zusehen, etwas über mich erzählen. Mir persönlich gefällt dieser Ausdruck ganz hervorragend, denn ich finde es prima, dass gut auf mich geachtet wird. Mein Eindruck ist zwar, dass auf die anderen 25 Kinder in meiner zweiten Klasse auch gut geachtet wird, aber nur Ole, Steffi, Gregor und ich sind „Gutachtenkinder“. Nun ja, es ist mir auch egal, warum wir manchmal so genannt werden, denn normalerweise sagen die Lehrerinnen Lotte, Gregor, Steffi und Ole zu uns.

Ich gehe gerne zur Schule und habe, genauso wie die drei anderen, von denen ihr jetzt schon die Namen kennt, den Vorteil, mit dem Taxi gefahren zu werden. Das liegt vermutlich daran, dass ich mich nicht gut in unserer Stadt auskenne und immer wieder vergesse, wohin ich an welcher Straßenecke gehen muss.

Ole fährt mit dem Taxi, weil er fast überhaupt nichts mehr sehen kann, also fast blind ist.

Gregor ist komplett komisch, vielleicht wird er ja deshalb mit dem Taxi zur Schule gebracht? Meine Mama sagt, Gregor wäre autistisch. Ich glaube, das ist die erwachsene Übersetzung für „komplett komisch“. Er redet jedenfalls am liebsten mit sich selbst, muss seine Sachen immer genau an dieselbe Stelle hängen und stellen und legen und hat fast nie Lust, in der Pause mit uns zu spielen. Lieber versteckt er sich hinter einem Strauch und wedelt dort mit Blättern herum, aber es ist wirklich immer derselbe Strauch, so dass das ein bisschen seltsam ist, weil man ihn natürlich beim Versteckenspielen sofort immer finden würde. Aber so ist er nun mal, der Gregor.

Das Taxifahren mit Steffi ist nicht immer lustig, denn manchmal stinkt sie richtig und kommt fast immer unpünktlich, so dass wir auf sie warten müssen. Der Taxifahrer hat uns erzählt, dass Steffi niemanden hat, der sich richtig darum kümmert, dass sie morgens duscht oder frische Sachen anzieht oder frühstückt. Ihre Eltern sind zwar immer zu Hause, denken aber wohl wenig darüber nach, wie Steffi sich fühlt, wenn keiner so richtig für sie da ist.

Ich wäre gerne richtig für Steffi da, denn sie ist meistens wirklich ganz lieb. Nur manchmal schreit und brüllt sie und benutzt dann Wörter, die ich hier überhaupt nicht aufschreiben darf. Das macht sie immer dann, wenn sie mal wieder etwas nicht verstanden hat und nicht mitarbeitet. Steffi hat wirklich große Probleme, das zu tun, was man ihr sagt und noch größere Probleme bereiten ihr das Lesen, Schreiben und Rechnen. Meine Oma hat mal gesagt, als sie bei unserer Weihnachtsfeier dabei gewesen ist, dass „so eine wie die Steffi früher ganz sicher auf der Sonderschule gelandet“ wäre.

Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie wütend meine Eltern da geworden sind. Sie haben ganz rote Köpfe gekriegt und Papa hat Oma gefragt, auf was für einer Schule ich denn ihrer Meinung nach wohl früher gelandet wäre. Oma hat ganz ruhig geantwortet: „Auf gar keiner, denn für solche Kinder wie Lotte gab es keine Schulen“.

Das glaube ich übrigens bis heute nicht! Stellt euch das mal vor, wie öde das für mich wäre, wenn ich nicht jeden Tag mit den anderen Kindern zusammen wäre!

Manchmal sind ja die Ferien schon langweilig genug, aber gar keine Schule… Undenkbar!

Jedenfalls haben sich die Erwachsenen noch lange weiter gestritten und Mama hat sogar geweint, weil sie findet, dass mir überhaupt nichts Besseres passieren kann als mit normalen Kindern in eine Schule zu gehen. Schließlich hat sie, gemeinsam mit Papa und mit anderen Eltern, lange genug darum gekämpft, dass ich in die „Stocki“ gehen darf (Kein Mensch nennt meine Schule „Grundschule Stockhausenstraße“! Alle sagen immer „Stocki“).

Ja, das hat Mama bei dem Streit wirklich gesagt und ich will ganz ehrlich sein: Das ist wieder etwas, was ich überhaupt nicht verstehe! Ich habe noch nie davon gehört, dass Eltern dafür kämpfen, dass ihr Kind eine Schule besucht! Es geht doch schließlich jedes Kind zur Schule, was gibt es denn da zu kämpfen? Alle Kinder, mit denen ich gemeinsam im Kindergarten war, sind in die Schule gekommen!

Okay, ich gebe zu, dass niemand von den Kindern aus dem Kindergarten zur Stocki geht, sondern fast alle gehen zur „Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung“ oder zur „Förderschule mit dem Schwerpunkt Lernen“ oder zur „Förderschule mit dem Schwerpunkt Sprache“ oder zur „Förderschule mit dem Schwerpunkt sozial-emotionale Entwicklung“ usw. Ich denke mal, dass meine Eltern dafür gekämpft haben, dass ich zur Stocki komme, weil die Namen all der anderen Schulen viel zu lang sind und ich sie mit Sicherheit niemals schreiben oder lesen kann.

Das ist nämlich mein größtes Problem: Ich kann mir keine Buchstaben oder Zahlen merken, absolut nicht. „Stocki“ male ich ab, „Lotte“ und „Mama“, „Papa“, „Oma“ auch. Wenn die anderen Kinder in meiner Klasse schreiben, drucke ich Buchstaben, male sie nach, taste, schmecke und klebe sie. Wenn die anderen Kinder rechnen, übe ich das Zählen und versuche, Ziffern zu irgendwelchen Mengen zu legen. Manchmal bekomme ich auch den Auftrag, mich neben oder hinter oder vor oder auf eine Teppichfliese zu stellen oder Dreiecke, Kreise und Quadrate nach Farben zu ordnen.

Klar, die anderen Kinder in meiner Klasse machen ganz was anderes, aber da sie auch nicht immer alle das Gleiche tun, sondern oft Wochenplan- oder Freiarbeit machen, interessiert es niemanden, dass ich eben auch was anderes mache.

Wir sind auch nicht immer alle in einem Klassenraum, sondern es gibt immer wieder Gruppen, die auf dem Flur oder in irgendeinem Nebenraum arbeiten.

Gregor hat einen Schulhelfer, der ihn dabei unterstützt, dass er das macht, was die meisten Kinder in der Klasse auch tun (sollen), denn manchmal ist er einfach so sehr mit Dingen beschäftigt, die wir alle nicht verstehen, dass er partout nicht arbeiten will. Eigentlich finde ich das sehr geschickt, aber die Lehrer wollen einfach, dass er was tut!

Ole kann nur mit besonders vergrößerten Buchstaben und Zahlen arbeiten. Darum kommt öfter ein Lehrer von einem Blindenzentrum, der mit unseren Lehrern bespricht, was alle lernen sollen und das dann für Ole vergrößert. Unser supernetter Schulhelfer guckt dann auch immer, ob Ole mit seinem Lesegerät oder mit der Tafelbildkamera und dem Computer richtig umgeht, aber soweit ich das mitkriege, macht er das meistens ziemlich gut. Außer er hat keine Lust.

Das ist überhaupt komisch in unserer Klasse: Wir haben oft keine Lust zum Arbeiten und dann überlegen sich die Lehrer alle möglichen Tricks, damit wir das doch tun. Ich finde das wirklich nett von ihnen, finde aber, dass sie uns ruhig öfter einfach spielen lassen sollten. Das dürfen wir meist nur vor der Schule und in den Pausen – schade eigentlich.

Steffi macht beim Spielen manchmal was kaputt und beim Lernen fehlen ihr fast immer Stife und Hefte und Bücher und überhaupt alles. Vielleicht kommt ja deshalb gelegentlich eine Lehrerin von einer anderen Schule, die ihr hilft, damit sie das alles hat oder findet. Steffi kann nicht gut lesen, schreiben und rechnen, aber sie macht das viel, viel besser als ich und ich kann gar nicht verstehen, dass sie oft so böse mit sich selbst ist.

Jetzt habe ich euch eigentlich genug von uns berichtet. Aber ihr sollt noch wissen, dass wir alle in der Klasse am liebsten Sport machen, sogar Ole, auch wenn der kaum was sieht. Es helfen ihm alle, damit er mitmachen kann und die Lehrerin denkt sich immer was Besonderes für uns Gut-Achten-Kinder aus. Das finden die anderen Kinder in meiner Klasse aber meist auch ganz toll.

Musik ist auch spitze und weil wir neuerdings mit der Musikschule nebenan zusammenarbeiten, kann ich sogar schon ein bisschen trommeln! Das, was wir im Musik- und Deutsch- und Sachunterricht und überhaupt irgendwie gelernt haben, zeigen wir uns untereinander und unseren Eltern bei den regelmäßigen Forumsstunden. Da geben wir uns immer besonders viel Mühe und sind mächtig stolz, wenn alle klatschen.

Meist gehen die Eltern nach den Forumsstunden noch neugierig durch die Flure, weil da unsere Bilder und Kunstwerke zu sehen sind. Meine Eltern reden dann immer schrecklich viel mit den anderen Eltern und eigentlich müssten sie immer ein kleines bisschen größer beim Verlassen der Schule sein als beim Betreten, denn zu Hause erzählen sie mir dann, wie toll diese anderen Eltern es finden, dass Gregor und Ole und Steffi und ich in der Klasse sind. Dadurch sind eben noch so viele andere Lehrer da, die helfen. Und ein Schulhelfer.

Nun ja, von mir aus. Dazu sind diese Leute doch auch eigentlich da, denke ich. Aber Papa sagt, in den meisten Schulen ist eine Lehrerin ganz alleine mit den Kindern. Die Arme!

Vielleicht sollten uns diese armen Lehrer und Lehrerinnen einfach mal besuchen, es kommen sowieso ganz oft irgendwelche Leute, die gucken, wie das gehen kann, Gut-achten-Kinder und normale Kinder in einer Klasse. Ob die wohl denken, dass man auf Kinder, die kein Gutachten haben, nicht gut achten muss?

Mir persönlich ist er sowieso nicht klar, der Unterschied zwischen einem Gut-achten-Kind und einem normalen Kind. Das liegt bestimmt daran, dass es noch niemandem gelungen ist, mir zu erklären, was das eigentlich ist, ein normales Kind.

Ihr seht, ich verstehe wirklich viele Dinge nicht!

Wenn ihr auch etwas nicht versteht oder Fragen habt, dann kommt doch einfach! Oder guckt im Internet nach unter www.gs-stockhausenstrasse.de

 

Info

Die GS Stockhausenstraße ist eine zweizügige Grundschule in Neustadt am Rübenberge. Aufgrund einer Elterninitiative wurde zum Schuljahr 2002/03 die erste Integrationsklasse mit damals vier Schülern mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung an der Stocki eingerichtet. Seitdem gibt es durchgängig in jedem Schuljahr Integrationsklassen an der GS Stockhausenstraße.

Diese Klassen und diese Schüler haben unsere Schule verändert. Damit hatten und haben auch wir die Chance zur Veränderung. Die nutzen wir in vollen Zügen und manchmal auch, das geben wir gerne zu, bis an die Grenze unserer Belastbarkeit. Aber an diese Grenzen geraten Kolleginnen und Kollegen anderer Schulen auch. Das wissen wir.

Aktuell hat die Schule 172 Schüler. Es gibt insgesamt neun Klassen (der zweite Jahrgang ist nicht zwei-, sondern dreizügig). Gut-achten-Kinder sind davon:

  • sechs Schüler mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung,
  • sechs Schüler mit dem Förderschwerpunkt Lernen,
  • zwei Schüler mit Sinnesbeeinträchtigungen (Sehen und Hören), die zielgleich unterrichtet werden,
  • zwei autistische Schüler, die ebenfalls zielgleich unterrichtet werden.

Diese Auflistung mag jeden empören, der der Meinung ist, dass in der Inklusion doch schließlich jeder gleich ist. Erstens kannte niemand von uns das Wort „Inklusion“ als wir im Sommer 2003 mit der Integration anfingen und ebensowenig haben wir geahnt, welchen Raum das gemeinsame Unterrichten der unterschiedlichen Kinder in unserer Schule einnehmen wird. Die Gut-achten-Kinder verteilen sich im laufenden Schuljahr 2011/12 auf fast alle Klassen der Schule. Von den insgesamt neun Klassen gibt es derzeitig nur eine Klasse ohne Kind(er) mit einem Fördergutachten.

Die Gutachten sichern uns die Förderschullehrerstunden und darüber hinaus ergibt sich daraus bei einigen Kindern die Möglichkeit der Beantragung von Schulhelfern. Das hilft uns sehr!

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2012

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