Arnulf Rainers Christusübermalungen als Bilder des Glaubens?

von Silke Loger

 

"Uns geht es wie den Emmausjüngern …" – die Ausgangssituation

"Das leere Grab schafft keinen Glauben"2 und bleibt leere Tradition. So kommentiert Eduard Schweizer die Situation der beiden nach Emmaus wandernden Jünger am Ostermorgen, wie sie Lukas in Lk 24, 13-35 darstellt. Auslösende Momente der Wanderung sind Unsicherheit, Zweifel und Enttäuschung, da der historische Jesus und das gefundene leere Grab keine Kraft zum Glauben an ihn, den Christus, geben. Diese Zweifel bestimmen auch heute das Verhältnis vieler Menschen zur christlichen Religion. Sie fragen sich, was es heißt, Jesus Christus nicht sehen und doch glauben zu können. Eine Begegnung mit dem auferstandenen Christus findet auch im Religionsunterricht nicht statt.

Das hat mich dazu veranlasst, mit Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe einen in kleinen, zögerlichen Schritten voranschreitenden und innehaltenden Weg auf die Begegnung mit Jesus Christus hin zu gehen. Ich orientiere mich dabei an den Grundzügen performativer Religionspädagogik, welche "darauf abzielt, etwas in Bewegung zu bringen und die Situation selbst zu verändern, genauer gesagt: das Verhältnis zwischen den SchülerInnen und der christlichen Religion zu verändern".3 Dabei geht es immer wieder um die Frage, ob im Religionsunterricht ein "Glauben-Lernen" im Sinne einer Begegnung mit dem auferstandenen Christus gelingen kann. Diesen Weg des Glauben-Lernens der Emmausjünger lassen uns die Christusübermalungen des österreichischen Künstlers Arnulf Rainer gehen. An ihnen möchte ich aufzeigen, dass aus Bildern des Sehens tatsächlich Bilder des Glaubens werden können.

 

Arnulf Rainers Christusübermalungen

Arnulf Rainers Werk wurde im vergangenen Jahr anlässlich seines 75. Geburtstages mit der Retrospektive "Arnulf Rainer – Passionen" unter anderem in Aschaffenburg und Berlin geehrt. Seine Übermalungen fremder wie auch eigener Kunstwerke werden seit 1952 ausgestellt, in den 60er Jahren übermalt er auch Fotos von sich selbst. Danach ist verstärkt seine Auseinandersetzung mit dem Tod (Übermalung von fotografierten Totengesichtern), explizit seit 1979 die Übermalungen und Überzeichnungen von Kreuzigungs- und Christuskopfdarstellungen aus der alten Kunst zu beobachten. Seit Anfang der 80er Jahre übermalt Rainer Christusbilder der Ostkirche oder des Mittelalters.

Die vielen Christusübermalungen Rainers sind durch seine geistige Auseinandersetzung mit der Mystik gekennzeichnet. Im Verdecken der Bildvorlage, die er als schwarz-weiße Fotografie eines Christuskopfes mittig auf den oberen Rand eines hochformatigen Rechtecks montiert, sieht er die Qualität und die Wahrheit des Bildes durch die immer weiter fortschreitende Übermalung wachsen. Darin besteht für ihn eine religiöse Versenkung, die die Vereinigung mit dem Bildgehalt zum Ziel hat. Als Vorlage der Christusübermalungen dienen ihm Fotografien verschiedener christlicher Motive: romanische oder gotische Kreuzigungen oder auch Ikonen des Christus als Weltenherrscher. Rainer korrigiert, verändert, verfremdet und löscht durch seine Übermalung und Zumalung das bildliche Gegenüber sozusagen aus. Einerseits will er noch Unvollkommenes durch seine Übermalung verbessern, andererseits tötet er mit der Übermalung abgelagerte künstlerische Substanzen ab und nutzt sie als Nährboden für das eigene Werk. Übermalung kann bei ihm also sowohl dekonstruktiv wie konstruktiv sein.4

In die identitätsstabilisierende Funktion einer Fotografie greift Rainer ein, wenn er die Identität des Abgebildeten verändert oder auflöst. Das, was durch seine Übermalung sichtbar wird, kann aber wiederum identitätsstiftende Funktion haben, weil ein erstarrter Moment, der die lebendige Situation des Fotografiertwerdens nie authentisch wiedergeben kann, wieder verlebendigt wird. Rainer selbst begründet seine Übermalung wie folgt: "Die Photografie allein ist jedoch nicht in der Lage, eine bewegte oder statisch-konzentrierte Anspannung adäquat zu vermitteln. Um dem näher zu kommen, überzeichne ich das Photo. Es ist dies keine Retuschierung, sondern eine Akzentuierung, eine Wiederdynamisierung des erstarrten Moments."5 Damit ist auch der Widerspruch in der Vorstellung der Einheit von Gott und Mensch neuformuliert: "Das Geheimnis der Verwandlung der toten Fotografie Christi in dessen wiedererweckten Geist, […], antwortet auf das christliche Bestreben, in eine nicht authentische Existenz eine authentische zu interpretieren."6 Die Verwandlung des Bildes dient dem christlichen Bestreben sozusagen als Hilfe, die gewünschte Authentizität der Begegnung durch die Verlebendigung dessen zu spüren.

 

Die Evangelien als Christusübermalungen

Auch das biblische Christuszeugnis stellt den neuzeitlichen Menschen vor die Schwierigkeit, dass es durchweg als nachösterliches Glaubenszeugnis vorliegt, durch das die historische Gestalt Jesu – für Rainer wäre es die Fotografie – durchscheint, aber nicht rekonstruierbar ist. Erst mit den Methoden der historisch-kritischen Forschung ist diese Schwierigkeit – dass und in welchem Maße das Bild Jesu vom österlichen Glauben übermalt wurde – zutage getreten. Für Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe beginnt mit dem Versuch der Rekonstruierung ihr Forschungsinteresse und somit der erste Anknüpfungspunkt oder gar der Entscheidungsgrund für ihren, verstärkt noch auf Tatsachen beruhenden Glauben an Jesus Christus: die Frage, ob Jesus denn überhaupt gelebt habe und wenn ja, welche Fakten denn tatsächlich vorhanden seien.

Das vergebliche Bemühen der so genannten kritischen Leben-Jesu-Forschung, ein Leben Jesu zu rekonstruieren, stellte Albert Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung dar. Der Rekonstruktionsversuch, mit dessen Hilfe man "unter der kirchlichen Übermalung wieder den ursprünglichen Jesus zu entdecken"7 hoffte, musste sowohl historisch wie theologisch scheitern. Um dieses zweifache Scheitern den Schülern mit dem aus den Christusübermalungen bekannten Vokabular näher zu bringen, lassen sich Texte von Heinz Zahrnt heranziehen.8 Zahrnt stellt zum einen sehr anschaulich die Problematik der Rekonstruktionsversuche dar, indem er das Vorgehen der Leben-Jesu-Forschung mit der Arbeit eines Restaurators vergleicht, der Übermalungen abkratzt, um das ursprüngliche Bild freizulegen. Damit wird die Christusübermalung im Bild als Christusübermalung im Wort, in den Evangelien, weitergeführt. Zum anderen gliedert Zahrnt das Scheitern dieses Freikratzens in ein historisches und ein theologisches Scheitern auf und legt damit die für den Unterricht so wesentliche Schwerpunktsetzung offen: Geht es zunächst bei den Christusübermalungen und auch bei Zahrnt um die historische Unmöglichkeit, ein Leben Jesu zu schreiben und sich ein Bild von Jesus zu machen, kann im Anschluss an den Zahrnt-Text die theologische Unmöglichkeit deutlicher in den Blick gerückt werden.

Historisch musste die Leben-Jesu-Forschung scheitern, weil weder die Evangelien noch die außerbiblischen Quellen für eine Biografie ausreichende Informationen bieten. Die Evangelien wollen zudem kein Leben Jesu bieten, sondern sind in ihrer Verkündigung der Worte und Taten von Jesus Christus vom Glauben an ihn geprägt.9

Theologisch musste die Leben-Jesu-Forschung ebenfalls scheitern, weil sie einen von aller Glaubensübermalung frei gekratzten historischen Jesus zur Grundlage für den christlichen Glauben machen wollte und eine geschichtliche Figur heutige Glaubenswahrheit begründen sollte. Dieses Festlegen auf ein konkret fassbares Ereignis oder einen Menschen ließe existenzielle Glaubenserfahrung und individuelle Begegnung in heutiger Zeit nicht zu. Die "unmögliche Möglichkeit"10, ein Leben Jesu zu schreiben, besteht also in dieser zweifachen Hinsicht.

Zahrnt ist aus einem weiteren Grund in seiner Positionierung von großer Bedeutung. Für ihn ist der christliche Glaube nur dann nicht grundlos, wenn er sowohl auf dem historischen Grund wie auf dem Glauben an nachösterliche Übermalungen fußt. Er betont den Sinn der Rückfrage nach dem historischen Jesus, damit nicht im Gegenzug zum Freikratzen des historischen Jesus, unaufhaltsam und beliebig ein immer weiter zu übermalender Christus des Glaubens neu geschaffen wird, der mit der Persönlichkeit des historischen Jesus kaum oder nichts mehr zu tun hat. Unter all den Übermalungen muss der Mensch Jesus, bei all dem spärlichen Wissen über ihn, bewusst bleiben.

 

Christus als Performance-Künstler

Dieses zweifache Scheitern benennt auch Arnulf Rainer. Aber Christus ist für ihn ein Performance-Künstler, in dem die horizontale und vertikale Ebene, göttliche und menschliche Natur, also historischer Jesus und der Christus des Glaubens zusammengebracht werden. Wie aber bildende Kunst sich dem Nichtfassbaren mit fassbaren Mitteln anzunähern versucht und dabei scheitern muss, so ist Christus als ein Künstler, dessen Performance "das vollkommene Werk"11 ist, zu begreifen. Nur in ihm selbst kommen göttliche und menschliche Natur – Übermalung und Fotografie – zusammen.

Die vertikale Dimension eines Menschen ist eine eingeschlossene, welt- und alltagsfremde Perspektive. Diese ist, anders formuliert, unter uns Menschen zu finden, wenn Christus ausschließlich symbolisch und schemenhaft, fern von seinem gelebten Leben, verstanden wird. Die lediglich horizontale Dimension des Menschen hält ihn in seinen Alltäglichkeiten, der überprüfbaren, greifbaren Realität fest. Darin spiegelt sich das gerade bei Schülern vorzufindende Interesse an der historischen Überprüfbarkeit und Glaubwürdigkeit Jesu Christi wider. Christus hingegen bringt alle Ebenen und damit zwei verschiedene Weisen der Wahrnehmung von Wirklichkeit zusammen.

Kunst (so auch Christus als Künstler) hat die Aufgabe und das Ziel, das unbefriedigende Alltägliche, das ihr zur Verfügung steht, in eine andere Wirklichkeitsebene zu transportieren. Das neuzeitliche Denken der Schülerinnen und Schüler bedarf eines Transports in diese andere Dimension – durch die Kunst. Christus bringt diese Ambivalenzen in seinem leiblich erfahrenen Kreuzestod zusammen, denn gerade seine menschliche Niederlage am Kreuz, sein Tod, ist die "erbärmliche Mülldeponie"12 der Realität, in der er sich bewegen muss, um daraus die in dieser Realität lebenden Menschen heraus zu ziehen in eine neue Daseinsform. Dort ist er in seiner Leiblichkeit den Menschen näher als irgendwo anders. Die Interpretation des Kreuzestodes als Heilsereignis lässt die Menschen also zum einen die neue Daseinsform von Jesus Christus erleben – die vertikale Dimension der Wirklichkeit –, belässt sie dabei aber nach wie vor in ihrer gegenwärtig leiblichen Daseinsform – der horizontalen Dimension von Wirklichkeit. Mit anderen Worten: Der Mensch kann und darf in seinem gegenwärtigen Leben, im Hier und Jetzt, Christus erfahren. Das heißt eben wiederum, dass Jugendliche mit Arnulf Rainer, dem Künstler, in ihrer "Erdverbundenheit" in eine unbekannte, mystische Dimension "transportiert" werden können, um Begriffe Rainers aufzunehmen. Ihre Erdverbundenheit (die horizontale Ebene des Klassenraumes und der Unterrichtsstunde) wird dabei nicht aufzugeben sein. Rainer beschreibt damit eine Grundform des Heiligen, die folglich auch im Religionsunterricht der erdverbundenen Schule zu finden sein kann.

Die von Zweifeln gekennzeichnete Situation der Schülerinnen und Schüler ist folglich ein positiv zu nutzender Anknüpfungspunkt, um christlichen Glauben heute erfahrbar zu machen. Wenn dieser Zugang über das Werk eines Künstlers gemacht werden soll, ist auch dessen Motivation und Intention für die Jugendlichen von Bedeutung, kann sogar Identifikationspotenzial bieten. Arnulf Rainer, "an dem sich der Unglaube, der verbildete Glaube austobt"13, ist in vielerlei Hinsicht in die Situation des Traditionsabbruches einzuordnen. Er sucht die Begegnung mit Christus in seinen Übermalungen und ringt um das Bild Christi. Dieses Ringen ist seinerseits nicht etwa auf eine starke religiöse Sozialisation zurück zu führen, vielmehr hat Rainer in Kindertagen durch seine Eltern überhaupt keinen Kontakt zur Religion gehabt und verbindet weder positive noch negative Erfahrungen mit der christlichen Religion. Er betont, dass er nicht anti-religiös erzogen wurde, sondern die christliche Religion irrelevant und inhaltsleer für ihn war. Die Parallelen zu der Situation vieler Jugendlicher heute sind deutlich gezeichnet.

 

 

Theologische Lehre als sekundäres Reflexionsphänomen

Vor diesem Hintergrund ist es gerade für den Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe von großer Wichtigkeit, dass den Schülerinnen und Schülern die "Begegnung" und "Erfahrung" Jesu Christi ermöglicht und nicht nur "theologische Lehre" zum Unterrichtsgegenstand wird. Theologische Lehre ist "ein sekundäres Reflexionsphänomen der christlichen Überlieferung: Sie steht weder historisch noch sachlich am Anfang und im Zentrum."14 Folglich gilt es, das biblische Zeugnis, welches erst in einem lang andauernden Prozess zu theologischer Lehre wurde, auf die ihr zugrunde liegende Begegnung zurückzuführen, um das Bekenntnis zum auferstandenen Christus nachempfinden zu können. So kann auch nicht im Religionsunterricht der christliche Glaube anhand theologischer Lehre etwas reflektieren, was Schülerinnen und Schülern in ihrer Erfahrung völlig fremd ist.

Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist die vorfindbare Situation des so genannten Traditionsabbruches: Die lebensweltliche Vertrautheit mit christlichen Inhalten ist nicht vorzufinden. Den Traditionsabbruch aber im Folgenden als Angebot neuer Lernchancen zu sehen, rückt den resigniert angehauchten Begriff nun wieder in positives Licht. Ich empfinde ihn ebenfalls weniger als bedauernswert oder erschwerend, sondern sehe darin unvoreingenommene Neugier und Offenheit von Jugendlichen – wohlgemerkt bei aller Unkenntnis gegenüber christlichen Inhalten. Sie wollen wissen, ob Jesus Christus tatsächlich auferstanden ist oder nicht und wie sich dies im Einzelnen vollzogen hat. Nur wenn die, aufgrund der sich nicht ereignenden Begegnung fremde Religion Christentum immer wieder als allzu vertrautes Thema im Unterricht vorkommt, begegnen die Schüler dieser letztlich mit Desinteresse. Ihre Fremdheit kann und muss folglich zum Gegenstand des Unterrichts gemacht werden. Da aber keine lebensweltliche Vertrautheit mit christlichen Inhalten, die es im Unterricht aufzufangen gilt, vorzufinden ist, muss diese erst einmal geschaffen werden. Darin unterscheide ich mich in meiner religionsdidaktischen Perspektive allerdings grundlegend von phänomenologischen Ansätzen: Nicht die Wahrnehmung gelebter Religion in Alltagsphänomenen, sondern die Wahrnehmung und der Zugang zu gelebtem und lebbarem christlichem Glauben müssen im Religionsunterricht geschaffen werden, will er trotz des Traditionsabbruches explizit christlicher Religionsunterricht sein. Hierin folge ich Christoph Bizer, der das langjährig gültige Postulat, Religionsunterricht solle gelebte Religion wahrnehmen, kritisiert. Gelebte Religion schaffe keinen Zugang zu gelebtem und lebbarem christlichem Glauben. Der Glaube des Schülers als ein abstrakt-allgemeines Konstrukt, ein Geflecht verschiedenster Einflüsse auf die Sozialisation zeige keine explizit christliche Prägung.15 Ein so definierter Glaube, da stimme ich mit Bizer überein, kann im Fach Religion didaktisch vorausgesetzt werden und muss nicht Gegenstand des Unterrichts sein. An seinen Alltagsphänomenen lässt sich erfahrungsorientierter Religionsunterricht gestalten. Ähnlich wie Bizer sieht auch Ingrid Schoberth in der Dialektik des "Glauben-Lernens"16 die Möglichkeit, Schülerinnen und Schülern durch das Erlernen einer für den weiteren Religionsunterricht grundlegenden "Glaubens-Sprache"17 den in der Schule erforderten reflexiv-nachdenkenden Umgang mit christlichen Inhalten zu fördern.

 

Der Weg nach Emmaus als Paradigma des Glauben-Lernens

Die folgenden Überlegungen zeigen am Beispiel der Emmauserzählung in Lk 24, 13-35 auf, dass der biblische Text mit der Christusübermalung Rainers zusammengeführt werden kann und so die Erfahrungen von Jugendlichen gleichzeitig aufnimmt und ihnen neue Erfahrungen ermöglicht. Wie ein biblischer Text menschliches Sehen nicht kritisch abweist, sondern gerade das menschliche Bedürfnis, zu sehen, aufzeigt und damit das neuzeitliche Bestreben von Schülern, Christus sehen zu wollen, dem Bedürfnis der Jünger gleichstellt, soll die Begegnung der Emmausjünger mit dem Auferstandenen in Lk 24, 13-35 zur Sprache bringen. Die Sensibilisierung dafür, dass "die Evangelien trotz oder gerade wegen ihrer nicht nur historischen Darstellungsweise einen treffenderen Eindruck von der Wirklichkeit des Auferstandenen als ein pure historische Dokumentation"18 liefern, ist Voraussetzung dafür, auf dem Weg nach Emmaus dem Auferstandenen zu begegnen.

Die Erscheinungsaussagen in den Evangelien geben keine Informationen über den Vorgang der Auferstehung und sind nicht objektiv überprüfbar, sondern Behauptungen der ersten Zeugen. Sowohl historische Nachrichten, legendäre Motive sowie der theologische Aussagewille des Evangelisten Lukas sind in dieser Erzählung verschmolzen. Die Ambivalenz des Übermalungscharakters der Evangelien kommt hier besonders deutlich zum Ausdruck. Es wird aber nicht nur das übermalte Christus-Bild der Evangelien beschrieben, sondern eben auch die auszuhaltende Spannung, die Schüler umgibt: Das leere Grab schafft keinen Glauben und bleibt leblose Tradition. Wenn man sich vor Augen hält, dass auch die Jünger, obwohl ihnen verkündet wurde: "Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden"19 den Beweis im Auffinden des leeren Grabes eigentlich gefunden haben, sie aber dieser Verkündigung dennoch keinen Glauben schenken können, so sollte man dieses fast 2000 Jahre später jungen Erwachsenen ebenso zugestehen. Die Verkündigung der Auferstehung Jesu ist leere Tradition, wenn sie sich für den Einzelnen nicht durch Erfahrung füllt.

Lukas berichtet von einer Erscheinung auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus und zurück nach Jerusalem.20 Die Emmauserzählung entfaltet sich in vier Gliederungsabschnitten, die durch das wiederkehrende und kontrastierende Motiv des Nicht-Erkennens (V. 16), Nicht-Sehens (V. 24.31) und Wieder-Erkennens (V. 31.35) verklammert sind. In einer einleitenden Darstellung der Begegnung mit dem unbekannten Weggenossen (V.13-16) wird ein Motiv für die Wanderung nach Emmaus nicht deutlich, auch der Gesprächsinhalt bleibt diffus, auf "all das, was sich ereignet hatte" (V. 14) bezogen. Das lässt darauf schließen, dass die Jünger nicht nur über den Kreuzestod, sondern auch über Jesu Verkündigung und Taten im Unklaren sind. Von sich aus finden sie keine klärende Antwort auf die vielen Fragen, die sie bewegen.

Als sei es für Lukas und damit auch für den Leser selbstverständlich und bedürfe keiner weiteren Erklärung, naht sich Jesus den Jüngern und begleitet sie auf ihrem Weg (V. 15). Erzähltechnisch sind folgende Interpretationsmöglichkeiten offen gelegt: Lukas weiht den Leser von Beginn an in die Gegenwart Jesu ein. Er verzichtet aber gleichzeitig auf jede Veranschaulichung, wie sich Jesu Nähern und späteres Entschwinden vollzieht und vor allem, wie er tatsächlich aussieht. Die Frage stellt sich gar nicht, denn die Aufmerksamkeit wird ganz auf die Reaktion der Jünger gelenkt.

Durch bloßes Ansehen erkennen die Jünger Jesus nicht (V. 16) und sind "wie mit Blindheit geschlagen" (V. 16). Damit ist die Spannung auf das Erkennen Jesu angelegt, was erst geschieht, wenn der Glaube das Herz öffnet.

Jesus bringt sich im Folgenden in das Gespräch ein, gibt den Jüngern jedoch noch nicht die Antwort, die Klarheit schaffen könnte (V. 17). Die dumpfe Resignation der Jünger hält an. Jesus muss einen befremdlichen Eindruck bei ihnen erwecken, weil er um die Ereignisse in Jerusalem, die schließlich Stadtgespräch sind, nicht weiß (V. 18). Auf die konkrete Frage, was denn geschehen sei, erfolgen nun die historischen Fakten über diesen Jesus von Nazareth (V.19/20). Sein Schicksal hat alle Hoffnungen auf Erlösung zunichte gemacht, der Messias ist für die Jünger gescheitert (V. 21). Und "dazu ist heute schon der dritte Tag" (V. 21): Der Tod Jesu ist endgültig.

Die Erzählung von der Auffindung des leeren Grabes hat zwar für Aufregung gesorgt, aber diese beiden Jünger nicht zum Glauben geführt (V. 22-24). "Statt nach Emmaus hätten sie sich unverzüglich zum Grabe begeben müssen, um sich Gewissheit zu verschaffen."21 Selbst die Bestätigung der von den Frauen überbrachten Nachricht durch andere Jünger genügt noch nicht. Das leere Grab kann auf verschiedene Weise erklärt werden, schafft aber noch keinen Glauben.

Darauf werden die Jünger von Jesus wegen ihres mangelnden Glaubens zurechtgewiesen: Obwohl Gott den Weg Jesu in den Schriften vorgezeichnet hat, hat sich in ihrem Verhalten nichts geändert. Das Lesen und Verstehen der Schrift hätte ihnen "die Augen geöffnet" (V. 25). Dass die Vorstellung vom leidenden Messias für die Zeitgenossen Jesu und die christliche Urgemeinde schwierig war und zur Verteidigung seines scheinbar sinnlosen Kreuzestodes aufrufen musste, zeigt das von Jesus selbst verwendete "musste": Der Kreuzestod ist Plan Gottes (V. 26).

Den Jüngern wird im Folgenden ein "hermeneutischer Schlüssel in die Hand gegeben"22 (V. 27), um in Zukunft mithilfe der Schrift Christus als den Messias zu bekennen.

Sie reden, als hätten sie Christus bereits erkannt (V. 29), da sie eine Einladung mit der Wendung aussprechen, die schon ein Gebet an Jesus als den auferstandenen Herrn ist. Im Augenblick des Brotbrechens werden die Augen der beiden Jünger geöffnet (V. 31). Sie reflektieren, dass bereits während des Gesprächs, also während der Schriftauslegung, Hoffnung aufkam und ihnen das Herz brannte (V. 32).

Der Weg nach Emmaus ist das "Paradigma des Glauben-Lernens"23: Es ist nicht von Belang, dass die zeitliche Distanz der Schüler zum Leben Jesu wesentlich größer ist als die der Emmausjünger. Die Jünger haben zwar den historischen Jesus erlebt und von der Auferstehung gehört, glauben können sie deshalb aber ebenso wenig wie junge Erwachsene heute. Erst die Begegnung mit Christus ist eine persönliche Auferstehung Christi, für jeden, der es zulässt und zu jeder Zeit. Sie soll vor Augen führen, dass christlicher Glaube auch für die Menschen um Jesus nicht bzw. nicht ausschließlich aus seinem tatsächlichen Leben und auch nicht, das ist viel entscheidender, aus einer lediglich überlieferten Botschaft der Auferstehung heraus entstanden ist.

Dieser Evangelientext lässt sich folglich als Glaubensbild lesen. Ein Glaubensbild, das von Anfang an nie einfach da war, sondern sich in einem langen Prozess voller Zweifel und einem Unverständnis der Schrift erst in der Begegnung entwickelt. Das Brennen der Herzen während dieser Begegnung wird auch erst in der Reflexion wahrgenommen und als Christusglaube formuliert.

 

Arnulf Rainers Christusbild 1982-1984 als "Weg nach Emmaus"24

Eine Schwarz-Weiß-Fotografie der Bildhauerei einer romanischen Kreuzigungsdarstellung dient Arnulf Rainer zur Bildvorlage. Rainer fotografiert allerdings nur einen Ausschnitt dieser Darstellung, sodass die Fotografie lediglich den aufrechten Christuskopf, seinen Oberkörper und seine gestreckten Oberarme abbildet. Die Vorlage scheint nicht den verstorbenen Christus, sondern den noch lebendigen und leidenden Christus darzustellen, worauf der aufrecht gehaltene Kopf hindeutet. Unterhalb des Oberkörpers hat Rainer im Querformat eine weitere Platte befestigt. Die vertikale Ausrichtung der Kreuzigungsdarstellung wird von der horizontalen Platte durchkreuzt. Solche Montagen sind bei Rainers Kreuzigungsübermalungen nicht ungewöhnlich, will er doch bereits so die Kreuzform ausdrücken. Es bleibt in Rainers Übermalung aber nicht bei der bloßen Durchkreuzung dieser Dimensionen. Die quer an das Christusbild montierte Zeichenplatte wird von Rainer mit kräftigen Farben be- und immer wieder übermalt. Ein Muster ist nicht erkennbar, vielmehr ein Gemisch unterschiedlichster Bewegungen. Diese haben aber einen Ausgangspunkt in der Mitte des unteren Bildrandes. Aus diesem gehen feine schwarze Linien hervor, die den Weg nach oben in die Kreuzigungsdarstellung suchen. Diese Komposition erscheint dem Betrachter wie die Darstellung eines Flammen schlagenden Feuers, durch den auffälligen Rot-Ton und die Flammenbewegungen der Linien hervorgerufen. Abschließend hat Rainer mit seiner in weißer und später in gelber Farbe getünchten Hand das Gesicht des leidenden Christus zugedeckt und die Hand senkrecht heruntergezogen in die bunte Vermischung seiner Farben und Linien. Diese Handbewegung erweckt den Eindruck einer spontanen, unaufhaltsamen Reaktion auf das Gesicht des Gekreuzigten. Weitere Fingerabdrücke in dieser Bewegung lassen darauf schließen, dass Rainer diese Bewegung mehrmals, erst weiß dann gelb, vollzogen hat.

Mit diesem Bild hat Arnulf Rainer seine Absicht, die vertikale und horizontale Dimension des Menschen zusammen zu bringen, zum Ausdruck gebracht. Nicht nur die Montage, sondern vielmehr die Verbindung beider Bildhälften durch den durchgezogenen Handabdruck stellten dieses dar: Die graue, traurige Kreuzigung und die lebendige, farbenfrohe Auferstehung gehören zusammen, sind in ihrer Verschiedenheit und in ihrer Einheit gleichzeitig zu sehen. Durch das Verdecken des Gesichtes einerseits und den sichtbaren gekreuzigten Körper andererseits kann Rainer Folgendes zum Ausdruck bringen wollen: Der Kreuzestod Christi ist nicht zu übermalen und zu ignorieren, er ist für das Verständnis der Auferstehung nach wie vor entscheidend. Aber das Gesicht des Gekreuzigten ist nicht wichtig, halten wir uns mit dem Betrachten des Gesichtes doch zu sehr an der historischen Person und ihrer Identifizierung auf. Die Dialektik von Sehen und Erkennen drückt sich also im Bild aus: Wir sehen in der oberen Bildhälfte ganz deutlich die Kreuzigung, aber nicht mehr Jesus. Wir sehen in der unteren Bildhälfte eigentlich nichts, erkennen aber durch die Handmalerei: Wenn wir es aufgeben, Jesus sehen zu wollen, verstehen wir, was seine Auferstehung bedeutet. Zu ihr gehört unmittelbar auch die Kreuzigung als Heilsereignis. Befremdend ist zunächst die Vertauschung der Ebenen: die Kreuzigungsdarstellung ist vertikal angeordnet, statt, wie zu erwarten horizontal, da sie eigentlich ein reales Ereignis darstellt. Horizontal dagegen ist das als Auferstehung interpretierte bunte Wirrwarr. Auch diese scheinbare Verwechslung der Dimensionen findet in der Emmauserzählung eine Erklärung: Auferstehung ereignet sich im Hier und Jetzt, in der "erbärmlichen Mülldeponie der Realität"25. Das historisch fassbare Ereignis der Kreuzigung dagegen muss in seiner vertikalen Dimension verstanden werden als Heilsereignis.

Mit der Zusammenführung der Emmauserzählung und dieser Christusübermalung werden an diesem Bild alle Schritte auf dem Weg des Sehens und Glauben-Lernens zusammengefasst, im Sinne Hans-Günter Heimbrocks: "Christlicher Glaube bedeutet ... auch Einladung in eine Sehschule, in der Menschen die Augen zur Wahrnehmung des Lebendigen geöffnet werden. In ihr soll und kann nicht das Sehen des ‚ganz Anderen’ im Sinne des Feststellens gelernt werden, wohl aber Schritte, die Wirklichkeit anders zu sehen, mit anderen Augen zu sehen. Die Emmauserzählung aus dem Lukas-Evangelium bietet dazu eine prägnante Lektion. Glaubenserkenntnis ist hier unerlässlich verbunden mit dem Sehen. Und doch entzieht sich Jesus den Jüngern gerade dann, als ihre Augen sich öffnen."26

 

Anmerkungen

  1. Dem Aufsatz liegt meine Staatsexamensarbeit am Studienseminar Oldenburg zugrunde. Der praktische Teil erscheint im Loccumer Pelikan 2/2005.
  2. Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Lukas. Das Neue Testament Deutsch, Band 3. Göttingen19 1986, S. 246
  3. Rudolf Englert: "Performativer Religionsunterricht". Anmerkungen zu den Ansätzen von Schmid, Dressler und Schoberth. In: Religionsunterricht an höheren Schulen (rhs). 45. Jg., Heft 1/2002, S. 32
  4. Vgl.: Barbara Wichelhaus: Arnulf Rainer: "Selbstgespräche". In: Kunst + Unterricht. Heft 245/2000, S. 22
  5. Arnulf Rainer: Noch vor der Sprache – Even before language. Mit Texten von Rudi Fuchs, Arnulf Rainer. Rotterdam 2000, S. 39
  6. Donald Kuspit: Das gestische Mysterium Arnulf Rainers. In: Arnulf Rainer: Kreuze und Christus-Übermalungen. Salzburg / Paris 1991, S. 5
  7. Heinz Zahrnt: Jesus aus Nazareth. Ein Leben. München 1987, S. 276
  8. Vgl. Zahrnt: S. 276-278
  9. Ebd., S. 276
  10. Ebd., S. 275
  11. Arnulf Rainer: Das Christusbild. In: Ernst-Gerhard Guse: Arnulf Rainer. Malerei 1980-1990. Stuttgart 1990, S. 70
  12. Ebd., S. 70
  13. Friedhelm Mennekes: Die Christusikonographie Arnulf Rainers. In: Werner Broer / Annemarie Schulze-Weslarn (Hg.): Verfremdung, Provokation, Deutung, Christliches in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Materialien für den Sekundarbereich II. Arbeitstexte für den Kunstunterricht. Hannover 1993, S. 28
  14. Bernhard Dressler: Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch. In: Religionsunterricht an höheren Schulen (rhs). 45. Jg., Heft 1/2002. Düsseldorf 2002, S. 11
  15. Vgl. Christoph Bizer: Kirchliches. Wahrnehmungen – sprachlich gestaltet – zum Wahrnehmen. In: Leonhard / Klie: Schauplatz Religion, S. 24
  16. Vgl. Ingrid Schoberth: Glauben-lernen heißt eine Sprache lernen. In: Religionsunterricht an höheren Schulen (rhs). 45. Jg., Heft 1/2002, S. 20-31
  17. Ebd., S. 20
  18. Fritz Böbel: Grundfragen des Glaubens. Eine Glaubenslehre in Einzellektionen. Band I. München 1969, S. 79f.
  19. Lk 24,6. Zitiert nach: Die Bibel. Einheitsübersetzung. Altes und Neues Testament. Stuttgart 1980
  20. Vgl. im Folgenden: Josef Ernst: Das Evangelium nach Lukas. Regensburger Neues Testament. Regensburg 61993, S. 502ff.
  21. Ernst, S. 505
  22. Ebd., S. 506
  23. Ingrid Schoberth: Gastvorlesung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg am 30.06.99
  24. In: Religion 9/10, Versöhnung lernen, hrsg. v. Ulrich Becker, Frauke Büchner, Bernhard Dressler u. a., Persen-Verlag GmbH, Horneburg 2002, S. 95
  25. Rainer: Das Christusbild, S. 70
  26. Wolf-Eckart Failing/ Hans-Günter Heimbrock: Gelebte Religion wahrnehmen. Lebenswelt -Alltagskultur - Religionspraxis. Stuttgart 1998, S. 144

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2005

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