Karfreitag – Ein sperriger Feiertag aus evangelischer Sicht

von Bernhard Dressler

 

Konfessionelle Differenzen? Vorbemerkungen zum Thema

Dass im Blick auf den Karfreitag konfessionelle Differenzen feststellbar sind, wird durch das mir vorgegebene Vortragsthema vorausgesetzt. In der Tat erinnere ich mich dunkel an Munkeleien aus Kindheitstagen, die Katholiken würden den Karfreitag nicht so ernst nehmen wie wir Protestanten: "Die trauern nicht wirklich über den Tod unseres Herrn Jesus." Gehören solche Zuschreibungen nicht aber mit der zwischenzeitlichen Erosion der konfessionellen Milieus längst zur Vergangenheit? Und hatten solche Unterschiede nicht vielleicht eher etwas mit regionalen und milieuspezifischen Frömmigkeitsstilen zu tun – um nicht zu sagen: mit Konfessionsfolklore – als mit tiefergreifenden konfessionsspezifischen theologischen Differenzen? Andererseits: Die Kreuzestheologie hat als Gravitationszentrum der Theologie Martin Luthers besondere Bedeutung. Daraus folgt die besondere Gewichtung des deus absconditus, des verborgenen Gottes, gegenüber dem deus revelatus, dem offenbaren Herrn der Geschichte. Wohlgemerkt: Ich spreche von der Theologiegeschichte, in der sich die konfessionellen Differenzen gravierender darstellen als es die aktuelle akademische theologische Szene, jedenfalls im deutschsprachigen Raum, vermuten ließe. Es könnten aber auch ekklesiologische – also das theologisch-kirchliche Selbstverständnis betreffende – Zusammenhänge benannt werden, die durchaus noch eine gewisse Wirkungsmacht haben. Der Gedanke liegt ja nicht völlig fern, dass sich das Selbstverständnis einer ecclesia triumphans – der einen katholischen Weltkirche – am Kreuz stärker reibt, als es bei den im Blick auf ihre historische Mission und ihre Heilsbedeutung doch zurückhaltenderen Kirchen der Reformation der Fall ist. Und vielleicht spielen in diesen Zusammenhang auch die bislang unüberbrückbar erscheinenden Differenzen beim Eucharistie- bzw. Abendmahlsverständnis hinein: Das Verständnis des Messopfers und das damit korrespondierende Verständnis priesterlichen Handelns ist wohl kaum zu begreifen ohne eine bestimmte opfertheologische Deutung des Kreuzes. Ich kann diese Zusammenhänge hier nur andeuten. Eine genauere und sachangemessene Darstellung der konfessionellen Unterschiede beim Thema Karfreitag und Kreuzestheologie liegt nicht so sehr in meinem Interesse – und meiner Kompetenz – als Religionspädagoge.

Kann ich dann zum Thema wenigstens "aus evangelischer Sicht" sprechen? Auch das erschiene mir eigentlich als Anmaßung, wenn darunter der Versuch der Rekonstruktion eines protestantischen Karfreitagsverständnisses verstanden werden würde, das es so weder im Sinne einer einheitlichen Frömmigkeitskultur noch im Sinne eines einheitlichen Lehrgegenstandes gibt. Genauer gesagt: Ich vermute, dass es eine bestimmte Art und Weise des Umgangs mit der Kreuzesbotschaft im Protestantismus gibt, eine bestimmte Form der Reflexion, die aber nicht material, als Lehrgehalt, zu formulieren ist, sondern eher als ein Habitus. Ich komme auf diesen Punkt noch zurück. Und wenn es denn eine halbwegs homogene evangelische Sicht gäbe, so würde ich die jetzt ohnehin nicht gern rekonstruieren wollen, weil sonst das religionspädagogische Interesse gegenüber einem vergleichsweise abstrakten historisch-systematischem Interesse zu kurz käme. Die Pointe dabei wird freilich sein, dass über die religionsdidaktisch zentrale Kategorie des Deutens eben jener theologische Zugang zur Kreuzestheologie eröffnet wird, ohne den eine neuzeitlich-protestantische Theologie generell nicht mehr nicht zu denken ist: Dass sich nämlich der christliche Glaube nicht auf ontologische, also unabhängig von unserem Denken, Sprechen und Handeln existierende Sachverhalte richtet, nicht auf "Glaubenstatsachen", sondern dass es sich dabei eben immer um Deutungen handelt. Es wird also, wenn es um Wahrheit geht, beim Kreuz wie bei anderen Symbolen der christlichen Tradition niemals um Sachverhaltswahrheiten gehen können, sondern immer nur um die Bewahrheitung dieser Deutungen im Zusammenhang von Glaubenskommuimmer kontextbezogen sind, gehe ich nicht deduktiv vor, indem ich theologisch nach dem Kreuz frage, um es dann auf die Lebenserfahrungen zu beziehen. Ich frage vielmehr umgekehrt zuerst nach den Lebenserfahrungen, auf die die Kreuzesbotschaft heute treffen könnte.

Bevor ich damit beginne, stelle ich eine biblische Besinnung voran, womit ja auch – sola scriptura! – ein protestantischer Akzent gesetzt wird.

 

Exkurs: Eine Auslegung des Christushymnus Phil 2,5-11

(5) Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Jesus Christus entspricht:

(6) Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein,

(7) sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt.

(8) Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.

(9) Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist,

(10) dass in dem Namen Jesu sich beugen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind,

(11) und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters.

 

Der Apostel Paulus findet diesen Hymnus als eine der frühesten Überlieferungen der Christenheit vor und zitiert ihn in seinem Brief an die Philipper. Es ist eine in mythologische Sprache gekleidete Reflexion und zugleich eine Deutung der in den Evangelien erzählten Passionsgeschichte. An Weihnachten ist das Wunder der Menschwerdung Gottes immerhin noch im Stande, für viele Menschen aufzuglänzen und gefeiert zu werden. Das mag auch an der Krippe liegen, die, jedenfalls im milden Glanz weihnachtlicher Folklore, weniger anstößig zu sein scheint als das Kreuz. Bei schärferem Licht besehen, ist freilich auch die Krippe aus dem gleichen Holze wie das Kreuz. Ein Gott, der bettelarm zur Welt kommt und zuerst dem Lumpenpack bei den Schafherden verkündigt wird, ist kaum weniger lachhaft als ein Gott, der den Verbrechertod stirbt. Die Menschen in der Antike haben das in aller Schärfe als Skandal empfunden, und zwar nicht einfach aus Verstocktheit, sondern wegen ihrer Frömmigkeit, wegen ihres klaren Gefühls für das Blasphemische dieser Geschichte. Heute ist ein solcher Mythos vom sich selbst erniedrigenden Gott nur deshalb nicht offen anstößig, weil mit der Frömmigkeit auch das Gefühl fürs Blasphemische geschwunden ist. So viel immerhin lassen viele ja noch gelten: Dass da vor 2000 Jahren jemand zur Welt kam, der eine faszinierende Gestalt gewesen sein mag, vielleicht sogar ein großes moralisches Vorbild wie im gerade zu Ende gegangenen Jahrhundert Ghandi oder Martin Luther King. Auch mit deren Tod war ihre Sache noch nicht völlig am Ende. Aber auch das gilt nur mit Vorbehalten und jedenfalls ist es mit ihnen selbst zu Ende. Jesus – ja. Aber Christus, der Mensch gewordene Gott – nein. Wer soll das heute noch verstehen?

Ich vermute, die an dieser Verstehensschwierigkeit zu lernende Pointe besteht darin, dass der Versuch nicht weiterhilft, den Gedanken der Menschwerdung Gottes zu ermäßigen, erträglicher zu machen durch Verharmlosung. Auf esoterische Weise etwa derart, dass wir die Formulierung "der Erscheinung nach als Mensch erkannt" (v 7) spiritualisieren und missverstehen als "nur dem Scheine nach ein Mensch". Und erst recht nicht rationalisierend derart, dass wir das Bekenntnis zu Jesus Christus als unserem Gott abmildern zur Bewunderung eines idealen Menschen, und darum eben dann, weil uns kein anspruchsvolleres Adjektiv zur Verfügung steht, eines "göttlichen" Menschen.

Das Wunder der Menschwerdung Gottes soll uns kein Anlass zu mythischer Spekulation über vom Himmel herabsteigende Gottwesen sein und erst recht kein Anlass zum Streben nach Göttlichkeit durch moralische Perfektion. Das Wunder der Menschwerdung Gottes zeigt sich nicht von einem mythischen Anfang, sondern nur vom niedrigsten Ende her: vom Karfreitag. Da sind dann alle menschlichen Gottesbilder durchgestrichen. Dass Gott uns als seine Geschöpfe liebt, erhält dann die unerhörte Konsequenz, dass er wird wie wir: niedrig und sterblich. Nur in dieser letzten Konsequenz, sozusagen in der äußersten Selbstskandalisierung Gottes, kann das Wunder der Menschwerdung Gottes wirksam weiter gesagt werden – nämlich so, dass indifferente, und allenfalls an Weihnachten sentimental gerührte Menschen unserer Zeit diesen Skandal nicht sofort als Zumutung eines religiösen Mystizismus empfinden und zurückweisen. Nicht missverstehen als Zumutung des Fürwahrhaltens antiker Spekulationen über die Lebensweise und die Biographie von Gottheiten. Sondern als die Zumutung verstehen, sich selbst als wahren Menschen ins Auge blicken zu können. Weil Gott Mensch geworden ist, müssen wir Menschen nicht mehr versuchen, mehr zu sein als wir sind, und dabei immer wieder scheitern. Weil Gott Mensch geworden ist, können wir wissen, wie wir als Menschen gemeint sind, auch wenn wir uns in unserer Menschlichkeit immer wieder verfehlen. Weil wir nicht nach oben in den Himmel schauen müssen, können wir den Blick genau nach unten auf uns selbst richten. Und ohne jede Herablassung, aber auch ohne jede Devotion können wir uns unseresgleichen zuwenden. Von unseres Gleichen ist uns gesagt, dass wir das, was wir den Geringsten unter uns Menschen getan haben, Gott angetan haben.

 

Schwierigkeiten mit dem Kreuz in der modernen Lebenswelt: Individuelle Unschuldsillusion und Totalisierung von Schuldzusammenhängen

Ich versuche nun, wie angekündigt, den kulturellen Gegenwartskontext zu bezeichnen, auf den das Wort vom Kreuz heute trifft. Sperrig ist der Karfreitag schon immer – und das wird auch so bleiben. Es ist ja keine Randbemerkung, wenn der Apostel Paulus das "Wort vom Kreuz" als Torheit und Skandal bezeichnet (1 Kor 1,18ff.). Es bedeutet schon damals die Umwertung aller Werte der Antike und der bisherigen Religionsgeschichte, einen Gott, den einen Gott, am Kreuze sterben zu sehen. Dieser Tod hat, im Gegensatz zu anderen Göttertoden, nichts Mythisch-Naturhaftes etwa im jahreszeitlichen Rhythmus der Vegetation an sich, schon gar nichts Heroisch-Pathetisches wie etwa bei Prometheus. Es ist die der Kreuzigung anhaftende Schande, die es unzumutbar macht, darin eine Offenbarung Gottes erkennen zu sollen. Und auch, wenn dieser Schandcharakter uns heute nicht mehr unmittelbar präsent ist, bleibt der Gedanke der Identifikation eines gequälten Menschen mit seinem gütigen Gottvater absurd – und wenn wir, die wir mit diesem Gedanken seit der Kindheit vertraut sind, uns einmal kurz neben uns stellen und das Kreuz mit einem fremden Blick zu betrachten versuchen, müssen wir diese Absurdität anerkennen. Es ist eine Illusion, leichtes Verständnis oder gar Zustimmung zu den dogmatischen Sätzen der Kreuzestheologie erhalten zu können. Dabei spielen dann übrigens die konfessionellen Unterschiede keine Rolle. Allerdings kommt hinzu, dass der soziale und kulturelle Kontext, in dem die Botschaft vom Kreuz jeweils verstanden werden will, in der Moderne noch einmal schwieriger geworden ist.

Ich rufe nur ein paar Schlaglichter in Erinnerung: Vor ein paar Jahren ging es beim sog. "Kruzifix-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts um die Klage von Eltern, die nicht nur die Schule des weltanschaulich neutralen Staates von religiösen Symbolen befreien zu müssen meinten. Ihr Motiv war darüber hinaus, ihrem Kind im Interesse seiner psychischen Gesundheit die bildliche Darstellung eines Sterbenden bzw. eines gefolterten Toten nicht zumuten zu dürfen. Hier war in pädagogischer Absicht so etwas wie ein Perversionsverdacht im Spiel, wie er sich ähnlich gegen gewaltverherrlichende Darstellungen in den öffentlich zugänglichen Medien richtet. Zugleich aber drängt sich mir ein Zusammenhang auf mit der Verdrängung von Leid und Tod als Kränkung des menschlichen Souveränitätsbedürfnisses. Solche Motive verdienen sorgfältige Beachtung und keine rasche und vordergründige Zurückweisung. Vor allem werden die dahinter steckenden affektiven Tiefenstrukturen durch bloßen Verweis auf Traditionsbedeutungen gar nicht erreicht.

Ganz ähnliche Motive sind nach meiner Ansicht in jenen Vorbehalten erkennbar, die – ohne dass ich das hier in der gebotenen Differenziertheit darstellen kann – in der feministischen Theologie gegen das Bild eines grausam-sadistischen, seinen Sohn opfernden Tyrannen-Gottes vorgebracht werden. So sehr diese Einwände im Einzelnen verständlich sind, zeigt sich gerade am Beispiel einiger feministisch-theologischer Positionen dann allerdings auch sehr deutlich, wie rasch diese Einwände gleich auf die Christologie insgesamt zielen, an deren Stelle entweder eine harmlos-nette, freundlich-humanistische Jesulogie tritt – oder aber neuheidnische Mythologien. Generell kann man – nicht nur im Blick auf die feministische Theologie – sagen, dass alles unter Verdacht gerät, was die Kreuzesüberlieferung irgendwie mit Aufopferungsideologien in Zusammenhang bringt, mit denen das demütige Tragen eines jeweils eigenen "Kreuzes" gerechtfertigt und verklärt wird – und das ist auch gut so, wenn man an die historisch noch gar nicht lange überwundenen Opfer-Ideologien in Kriegen oder eben an die in der Tat Frauen zugeschriebene Dienst- und Demutsrolle denkt. Viel gravierender aber erscheint mir, dass die mit dem Kreuz verbundene Botschaft der Sündenvergebung gegenwärtig immer mehr ins Leere zu laufen droht. "Wegen meiner paar kleinen Sünden hätte Jesus nicht sterben müssen" – diese Äußerung einer Schülerin deutet auf einen auch erzieherisch bedeutsamen Wandel des gesamten kulturellen Kontextes, in dem das Kreuz nur missverstanden werden kann. Ich vermute hier einen Zusammenhang damit, dass an die Stelle von immer weniger Erziehung immer mehr Sozialisation (v.a. durch Alltagskultur) getreten ist. Wir können gegenwärtig die weitgehende Auflösung ödipaler Konfliktmuster in den Familien beobachten: Die Muster, in denen in unserer Kultur bislang Schuld verarbeitet, aber eben auch anerkannt werden konnte, haben wahrscheinlich mit den Konfliktkonstellationen zu tun, in die kleine Kinder in der Dreiecksbeziehung zu ihren Eltern verwickelt werden. Fallen diese Konflikte weg, z. B. weil die Väter immer weniger präsent sind oder weil erzieherisch immer weniger Grenzen gezogen und Differenzen markiert werden, verändern sich die Verarbeitungsmuster sowohl von Versagungen als auch von Verfehlungen grundlegend. Narzisstische Kränkungen treten in den Vordergrund. Dabei verwandeln sich Schuldgefühle immer mehr in Schamgefühle, die verbunden sind mit dem Scheitern gegenüber den Erwartungen an die Machbarkeit gelingenden Lebens. Der Sinn der Rede von Schuld und Vergebung löst sich auf in der Alternative zwischen "Okay-Sein" und Therapiebedürftigkeit. Ich will nur am Rande andeuten, dass hier zukünftig die wachsende Attraktivität eines modernen, europäisierten Islam begründet sein könnte. Der Islam versteht sich ja nicht so sehr als Erlösungsreligion, weil er nicht ähnlich stark wie das Christentum von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen ausgeht, sondern als "Rechtleitung", als Wegweisung individueller und sozialer Lebensgestaltung. Bei einigen Islamwissenschaftlern ist der Gedanke zu finden, dass es im kulturellen Wirkungsbereich des Islam eher eine "Schamkultur" als eine "Schuldkultur" gebe.

Es würde viel zu kurz greifen, hier nur ein Sprachproblem etwa mit Blick auf die Unterscheidung zwischen "Sünden" als moralischen Verfehlungen und der "Sünde" als einer Grundverfassung des menschlichen Lebens zu sehen, wie sie in der Lehre von der "Erbsünde" oder im manchmal als "pessimistisch" titulierten Menschenbild Luthers reflektiert wird. Ein Sprachproblem liegt hier auch vor. Insgesamt aber ist beim gesamten Problemkomplex Sünde – Schuld – Rechtfertigung aus tieferliegenden Gründen mit Abwehr und Unverständnis zu rechnen. Zwar stieß – wie schon angedeutet – die Botschaft von der Schuldverstrickung des Menschen gegenüber Gott und von der unverdienbaren Rechtfertigung des Sünders immer schon auf Widerstand, auf den Willen zur Selbstmächtigkeit. Das ist mehr als ein, womöglich nur sprachlich bedingtes, Akzeptanzproblem. Das hat auch nichts mit der wachsenden Unvertrautheit mit dem christlichen Überlieferungswissen zu tun. Lebensweltlich verschwindet der Problemkomplex Sünde – Schuld – Rechtfertigung zwar nicht, aber er verstrickt die Menschen zunehmend in unauflösbare Paradoxien. Die "Grundparadoxie" unserer Kultur, die längst in die Banalität des Alltagslebens eingesickert ist, ist durchaus nicht auf die ökologische Problematik beschränkt, sie wird aber an deren Beispiel am deutlichsten wahrnehmbar: Im gleichen Maße, wie der Machbarkeitsglaube und die tatsächliche Machbarkeit unserer Lebensumstände scheinbar grenzenlos wachsen (ich nenne hier nur exemplarisch die Gentechnologie), werden die Grenzen des Machbaren, des Verfügbaren, des Steuerbaren immer enger. Die Gemachtheit der Welt und unserer Lebensbedingungen drängt sich uns auf, nichts scheint mehr Schicksal zu sein – aber deshalb wird die Welt nicht machbar. Mit der Ausweitung des Möglichkeitshorizontes wachsen die Kontingenzzumutungen, also die Erfahrungen von Zufälligkeit, davon, dass alles auch ganz anders sein könnte als es ist – und gleichzeitig verengen die Sachzwänge jeden Gestaltungsspielraum. "Alles könnte auch ganz anders sein – und nichts kann ich ändern" – so schon die pointierte Zeitdiagnose Niklas Luhmanns in den 70er Jahren. Mit Blick auf die Jugendlichen der 90er Jahre spricht der Kultur- und Erziehungswissenschaftler Thomas Ziehe von (wachsenden) "Optionen" und (gleichzeitig wachsender) "Ohnmacht".

Es ist dieser Zusammenhang, in dem das, was ich die "Unschuldsillusion" nennen möchte, noch einmal kräftig Nahrung erhält – und in dem gleichzeitig die "Wiederkehr des Bösen" bedrückend wahrnehmbar wird. Schon seit den 70er Jahren kann es einem Lehrer passieren, dass ein strenger Blick auf einen Schüler wegen irgendeiner Verfehlung die halb-ernste, halb-ironische Antwort hervorlockt: "Ach, das kommt doch alles von der Gesellschaft". Die Zuschreibung von Verantwortung funktioniert nicht mehr, wo psychologisch gedeutete Schuld in erster Linie den sozialen Strukturen zugerechnet wird. In einem solchen Klima der Anonymisierung von Schuld wächst aber ein großer Teil der Jugendlichen seit langem auf. Alles Handeln erscheint letztlich als entschuldbar, reparabel und ist am Ende folgenlos. Und doch: Nicht erst die Kriegsgräuel im ehemaligen Jugoslawien oder der neue internationale Terrorismus lassen es nicht mehr so einfach zu, nur von gesichtslosen Strukturen des Bösen zu reden. Das Auswandern der Strafe aus den erzieherischen Beziehungen wird begleitet von der irritierenden Beobachtung von Bestrafungsritualen unter Kindern und Jugendlichen. Es scheint, als setze sich dabei das Thema Schuld und Strafe als sonst nicht mehr vorkommendes Lebensproblem unterschwellig doch wieder durch. Und quer zu den Unschuldsillusionen drängt sich mit der ökologischen Problematik die Einsicht auf, dass wir auf Gedeih und Verderb in strengen und verletzlichen Ordnungen leben, in einer gefährdeten Welt, in der das Meiste, was wir tun, unaufhebbare Folgen hat. Aber auch Selbstzurechnungen werden allmählich wieder wahrscheinlicher, und insofern muss ich den Begriff der Unschuldsillusion doch relativieren, weil – hierauf weist in kulturhermeneutischer Perspektive Thomas Ziehe immer wieder hin – im Gegensatz zum Lebensgefühl der 70er Jahre die Lebensbedingungen immer weniger repressiv gedeutet werden können – und es war ja die Wahrnehmung von Repression, die die Zuschiebung der Verantwortung auf Andere ermöglichte ("Wenn mein Vater anders wäre, wäre ich ein anderer Mensch").

Andererseits: Wo alles machbar erscheint und sich zugleich nichts mehr steuern lässt, erhält der Begriff der Schuld zwangsläufig neue Dimensionen. Wenn jemand in einem Auto mit einem schlecht eingestellten Motor zu einem Seitensprung mit einer verheirateten Frau fährt, gilt nicht mehr so sehr der Ehebruch als Schuld, sondern die Beteiligung an der Verunreinigung der Atmosphäre. Wir sind, bei wachsender Reichweite aller Wirkungen unseres Handelns, zugleich global involviert und durch die Komplexität dieses Verstrickungszusammenhangs überfordert. Lineare Problemlösungen in hochkomplexen Systemen erzeugen unkalkulierbare Drittwirkungen, und das wird über die Medien bereits Schulkindern wahrnehmbar. Insofern unsere Intentionen und Handlungsfolgen sich nicht mehr deutlich aufeinander beziehen lassen, wird der Schuldzusammenhang totalisiert und eben damit entmoralisiert, denn wo alle an allem schuldig zu sein scheinen, verliert die Rede von Schuld ihre Bedeutung. Das ließe sich übrigens eindringlich an Unterrichtsmodellen zum Thema "Dritte Welt" (auch und besonders für den Religionsunterricht) zeigen.

In dieser Hinsicht stehen wir in einer merkwürdig unentschiedenen Situation. Die alten Lebenshaltungen, alles für reparabel und kaum jemanden für strafwürdig zu erachten, halten sich noch die Waage mit der Einsicht, dass wir in zerbrechlichen Verantwortungszusammenhängen leben und dass die Ordnungen von Lebensformen nicht nur Bewusstseins- und Gesinnungsmerkmale sein können, sondern sichtbar werden müssen, wenn am Ende Leben bewahrt und geschont werden soll. Meine zentrale These lautet nun: Die Möglichkeiten, die Botschaft vom Kreuz zu verstehen, hängen gegenwärtig und in absehbarer Zukunft wahrscheinlich weniger daran, dass sie mit individuellen existentiellen Schulderfahrungen in Zusammenhang gebracht wird, sondern wie diese Botschaft in einen übergreifenden kulturellen Zusammenhang hinein gesprochen wird. In diesem Zusammenhang sind Erfahrungen neu zu thematisieren: Erfahrungen in den Spannungsfeldern von Gewalt und Friedenssehnsucht, von Scheitern und dem Wunsch nach gelingendem Leben, von Lebensbedrohung durch grenzensprengende Techniken und dem Wunsch nach Leben innerhalb lebensdienlicher Grenzen.

 

Theologische Überlegungen zur Deutungsoffenheit des Kreuzes

Ich schlage nun einen Bogen von dieser kultursoziologischen Betrachtung zurück zur theologischen Reflexion des Kreuzes. Wir stehen längst nicht mehr in der Situation, dass allein die Tatsache, dass ein Glaubensgehalt der christlichen Tradition entstammt, für seine Wahrheit bürgt. Wo damit noch gerechnet wird, kann auch ohnehin keine religiöse Bildung stattfinden, die elementar auf verstehenden Nachvollzug der Tradition angewiesen ist und nicht auf bloßes Fürwahrhalten. Verstehensprobleme entstehen immer dann, wenn das Kreuz mit der Zumutung einer "Heilstatsache" verbunden wird, statt ein deutungsoffenes Zeichen zu sein, für dessen Deutung das Evangelium Möglichkeiten eröffnet – Möglichkeiten, die auf Evidenz angewiesen sind, die aber niemals zwingend sein können wie eine Tatsache oder wie ein Vernunftbeweis. Der vernunftgläubige Aufklärer Lessing stellte die Frage: "Wie kann eine zufällige Geschichtswahrheit der Beweis einer allgemeinen Vernunftwahrheit sein?" Die Antwort liegt auf der Hand: Niemals! Es handelt sich aber – so müsste man gegen Lessing einwenden – beim christlichen Glauben als der Deutung des Christusereignisses auch nicht um eine Vernunftwahrheit. Unsere Vernunft kann den Deutungen nachdenken, sie kann sie sich aber nicht mit rationalen Mitteln ausdenken, weil diese Deutungen sich nicht auf Gedankengebilde, sondern auf ein historisches Ereignis richten. Dessen narrative Ausfaltung und nicht eine dogmatische Lehre bilden historisch und systematisch den Grund der christlichen Religion. Ich meine nun, da ich ja hier aus "evangelischer Sicht" sprechen soll, dass diese vernunftkritische hermeneutische Sicht – vorsichtig formuliert – in der protestantischen Theologie stärker akzentuiert ist. Luther konnte ja immerhin von der Vernunft als "heiliger Hure" sprechen. Es wäre ein eigenes Thema, dieser Frage im Hinblick auf die (freilich begrenzte) Affinität theologischen Denkens zur postmodernen Vernunftdekonstruktion oder zur "Dialektik der Aufklärung" nachzugehen, ohne dabei das Kind Vernunft mit dem Bade auszuschütten.

Deutungen haben immer eine gewisse Offenheit an sich. Eben deshalb sind sie nicht zwingend wie ein Beweis. Vor allem: "Es gibt" keine Bedeutung außerhalb unserer Deutungen. Man könnte auch sagen: Deutungen eröffnen Verstehensspielräume. Die Deutungsoffenheit des Kreuzes ist immer wieder in der Christentumsgeschichte exemplarisch zu erkennen, z.B. im Wechsel von den romanischen Triumphkreuzen zu den gotischen Leidensmännern. Eine verhängnisvolle Rolle in der Christentumsgeschichte hat die Deutung des Kreuzes in der sog. Satisfaktionstheorie des Anselm von Canterbury gespielt: Gott sah sich durch die Schuld der Menschen in seiner Ehre gekränkt, die aber nur durch seinesgleichen, nicht durch seine Geschöpfe, wiederherzustellen war. Also musste er sich selbst durch seinen Sohn Satisfaktion geben. Ohne die Kenntnis des mittelalterlichen ritterlichen Ehrenkodex ist diese Deutung nicht begreifbar – und wo sie unabhängig von diesem kulturellen Kontext Geltung beansprucht, läuft sie auf ein fatales Gottesbild hinaus und auf das Karfreitagsgeschehen als eine religiös verbrämte Barbarei: Gott lässt Versöhnung nur durch ein blutiges Opfer zu.

Wichtig ist nun, dass wir schon im Neuen Testament selbst auf den gleichen Befund stoßen: Die neutestamentlichen Zeugen und Autoren umkreisen gleichsam das unbegreifliche Geschehen am Kreuz mit den ihnen aus der jüdischen Tradition oder der antiken Kultur zu Gebote stehenden Deutungsmustern, die eben nicht unbedingt glatt ineinander aufgehen. Ich nenne hier nur die wichtigsten dieser Deutungsmotive, ohne im Einzelnen näher darauf eingehen zu können: Da ist das Motiv des Sündenbocks, also der stellvertretenden Aussonderung der Schuld aus der Gemeinschaft durch die rituelle Vertreibung eines Schafbocks in die Wüste. Im Kontext des Tempelkults steht die Deutung Jesu als Opferlamm und – so im Hebräerbrief – zugleich als Hoherpriester. Aus der prophetischen Tradition wird das Motiv des leidenden Gerechten herangezogen, insbesondere das Lied vom leidenden Gottesknecht aus dem Buch Jesaja wurde auf Jesus hin gedeutet. Oder aus dem antiken Umfeld konnte die Deutung des Kreuzes analog zur Rechtshandlung des Loskaufs von Sklaven eine gewisse Plausibilität gewinnen. Bemerkenswert ist, dass ein und derselbe Autor, Paulus, sich nicht auf ein Deutungsmotiv festlegt, sondern gleichsam immer wieder neue Deutungsanläufe nimmt.

Angesichts der Hinrichtung Jesu musste in aller Schärfe die Frage aufbrechen, ob damit die Zuwendung Gottes an die Menschen, die Jesus gleichsam verkörperte, als Illusion entlarvt war. Es ist nicht besonders zu betonen und ich sage es deshalb nur am Rande, dass die ersten Christen das Kreuz natürlich auch als bloßes Zeichen des Scheiterns einer Hoffnung, als brutales Signum der Gottverlassenheit hätten deuten können, wenn sie sich nicht durch das Osterereignis, also durch die ebenfalls höchst deutungsbedürftige und deutungshaltige Erfahrung der Lebendigkeit des gestorbenen Jesus, zu den genannten positiven Kreuzesdeutungen geradezu genötigt gefühlt hätten. Noch einmal: Keines der genannten Deutungsmuster hat Priorität oder gilt für sich allein und erst recht ist keine Deutung zu ontologisieren, also als ein von uns Menschen als deutenden Subjekten unabhängiger Sachverhalt zu verstehen.

Zum Schluss dieses Abschnitts möchte ich noch wenigsten kurz eine moderne Interpretation anfügen: Die Deutung des Religions- und Kulturwissenschaftlers René Girard. Die Titel seiner Bücher – und ich nenne nur einige wenige – weisen auf sein Thema hin: "Das Ende der Gewalt" bzw. "Das Heilige und die Gewalt" – auf große Resonanz gestoßen (jedenfalls in den anspruchsvollen Feuilletons) ist vor kurzem sein Buch mit dem Titel "Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums".1  Ich verbinde Girards Untersuchung der Wirkungsgeschichte des Kreuzes mit dem vorhin angedeuteten Gedanken, dass kulturtheoretische Interpretationen des Kreuzes gegenwärtig auf größere Resonanz stoßen können als individuell-existentielle Interpretationen.

Girards Werk ist einer der großen anthropologischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts. In seinem Zentrum steht die Gewalt, insbesondere die von zahlreichen Mythen verarbeitete "Gründungsgewalt", worin sich die für alle Gesellschaften konstitutiven Gewaltpotenziale reflektieren. Ohne Gewalt ist kein soziales Zusammenleben denkbar, aber ungebändigte Gewalt gefährdet zugleich das Zusammenleben. Gegen diese Bedrohung richtet sich die Tendenz zu stellvertretenden kollektiven Gewaltakten an einzelnen "Sündenböcken", deren Opferung zu einem heiligen Akt verklärt wird. Hier liegt nach Girard der Ursprung des Heiligen und des Opfers. Die darin maskierte Gewalt ist keineswegs symbolisch zu verstehen: Es sind reale, historische Gewaltakte, die im Mythos und im Ritus geheiligt und dadurch gerechtfertigt werden. Die christliche Deutung des Kreuzes liest Girard nun als die Durchkreuzung dieses Gewaltmechanismus. Im Kreuz als einem solchen stellvertretenden Gewaltakt wird Gewalt gerade nicht mehr verklärt und gerechtfertigt, sondern ideell ein für alle mal beendet. Künftig gibt es keine kultischen Opfer mehr: In die Gesellschaft selbst wird durch die christliche Religion der Gedanke der Illegitimität von Gewalt eingetragen, was zwar die Gewalt nicht real abschafft, wodurch aber gewaltkritische Gegenkräfte wirksam – und zwar historisch beobachtbar wirksam! – werden.

Man kann sich vor diesem Hintergrund z. B. fragen, was es für unseren Begriff von Menschenwürde bedeutet, dass uns Kruzifixe kulturell begleitet haben und – trotz "Kruzifix-Urteil" – hoffentlich weiter begleiten: Dass nicht dieser geschändete Mensch als würdelos erscheint, sondern als Abbild Gottes! Dass vielmehr seine Mörder würdelos gehandelt haben – darüber aber nicht ihre Menschenwürde verloren haben, indem sie von Jesus in sein Gebet eingeschlossen wurden: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun."

 

Das Kreuz in religiösen Bildungsprozessen

Es hilft wenig, darüber zu klagen, dass wir bei Schülerinnen und Schülern immer weniger Wissen über die Bedeutung des Kreuzes in der christlichen Überlieferung voraussetzen können und zugleich auf immer weniger Verständnis für die Kreuzesbotschaft stoßen. Eines sollte klar geworden sein: Es wäre völlig wirkungslos, wenn wir darauf im Religionsunterricht mit umso massiveren Belehrungen reagieren würden. Man kann zu Recht beklagen, dass ein Blick in die Schulbücher, jedenfalls in die überwiegende Mehrheit der evangelischen Schulbücher, vermuten lässt, dass bestimmten christologischen Themen im Religionsunterricht eher ausgewichen wird, wozu vor allem auch das Kreuz gehört. Es wird aber wenig austragen, auf diesen Themen unter dem Vorzeichen der Vollständigkeit christlicher Lehre und unter dem Kriterium theologischer Richtigkeit zu insistieren. Wichtiger ist die Frage nach didaktischen Anknüpfungspunkten. Dabei geht es mir nicht darum, Schülern keine Fremdheit, keine Befremdung zuzumuten. Die Orientierung an Schülererfahrungen, daran also, was den Kindern und Jugendlichen vertraut ist, hat keine normative Bedeutung, sondern eine didaktisch-pragmatische Bedeutung. Wir werden die Schüler im Religionsunterricht mehr und mehr in fremde Sinngebiete führen müssen und ihnen dabei wie Fremdenführer zunächst einmal das Nichtverstehen erträglich machen müssen, um ihnen das Fremde interessant machen zu können. Aber auch das geht nicht ohne Rücksicht auf die lebensweltlichen Erfahrungshorizonte, die die Grenzen möglichen Verstehens definieren.

Gerhard Büttner, an dessen empirischen Beobachtungen ich mich im folgenden orientiere 2 , hat festgestellt, dass die christologischen Konzepte von Kindern und Jugendlichen, sofern es so etwas überhaupt gibt, sich auf Jesu Wirken vor der Passion konzentrieren. Die Deutungen der Passion oder der Auferstehung sind dabei "in der Regel nicht substanziell enthalten, sondern allenfalls durch ‚Links’ miteinander verbunden". Die Frage, warum Gott Jesus leiden und sterben ließ, wird oft im Sinne familialer Muster beantwortet. Zum Beispiel: "Gott brauchte seinen Sohn wieder im Himmel." Bis in die Sekundarstufe I hinein bleiben die Schüler dem Tun-Ergehens-Zusammenhang verhaftet: "Jesus starb als Strafe für seine Verfehlungen." Dass er für unsere Sünden gestorben sei, ist dann völlig unverständlich.

Auf entwickelteren Kognitionsstufen wird die Passion als ein eigenständiges historisches Ereignis ohne Bedeutung für uns gewertet. Die Schüler lassen sich gleichsam auf das ein, was ihnen als die innere Logik der Story erscheint – wie bei einem Film, bei dem man ja auch nicht immer gleich fragt, ob er ein reales Ereignis abbildet und was er möglicherweise für unser Leben bedeutet. Jesus wird dabei als bewusst handelndes Subjekt gegenüber Gott verstanden. Zum Beispiel: "Jesus wollte nicht mehr auf dieser Erde leben."

Interessant ist die Auswertung eines Unterrichtsgesprächs in einer 9. Gymnasialklasse im Anschluss an die Gethsemane-Geschichte. Die Hypothesen der Schüler lassen erstaunlicherweise viele Analogien zu Deutungsmustern der theologischen Tradition erkennen, zum Beispiel zum Sühne-Konzept des Anselm von Canterbury. Ein Schüler rechnet mit Gottes Zorn und der Verweigerung der Heimkehr in den Himmel, wenn Jesus in seine Passion nicht eingewilligt hätte – zumal "Gott garantiert klüger ist als Jesus selbst". Eine Schülerin deutet die Leidensgeschichte als Teil von "Gottes Plan". Gott müsse ein Opfer dargebracht werden, "wenn möglich halt auch sich selbst". Daneben gibt es allerdings auch Anfragen, was denn das für ein Gott sei, der seinen eigenen Sohn leiden lässt. Die soteriologische Dimension, also die Frage nach der rettenden Bedeutung für uns und unser Heil, bleibt bei allen Schüleräußerungen völlig ausgeblendet. Dieser Befund lässt sich so verstehen, dass die Fähigkeit, Analogien zu theologischen Deutungsmustern zu finden, für sich allein relativ belanglos und eher das Resultat einer gewissen inneren Logik der Story ist, die eben Kinder und mittelalterliche Theologen auf ähnliche Ideen kommen lässt.

Büttner zieht aus seinen Beobachtungen den Schluss, dass für Schüler am Ende der Sekundarstufe I die Entwicklung einer Christologie möglich zu sein scheint, die die Kontinuität des heilvollen Handelns Jesu von seinen Wundertaten bis zum Kreuz erkennen lässt, wenn in dieser Kontinuität die Passion als konsequente Hingabe, als "Selbstopfer", in der Fortsetzung seines Handelns – Zuwendung zu den Schwachen und Geächteten – gedeutet wird. Eine strikte Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem nachösterlichen Christus ist den Schülern dieses Alters nicht nachvollziehbar. Sie wird ja aber auch theologisch heute kaum noch so strikt vertreten, wie die Älteren unter uns Evangelischen es als Entdeckung Rudolf Bultmanns gelernt haben.

Das würde bedeuten: Älteren Kindern und Jugendlichen könnte eine Christologie der Solidarität im Leiden, wie sie etwa bei Dorothee Sölle zu finden ist, zugänglich sein. Aber auch eine Art Vorbildchristologie im Sinne des Christushymnus Phil 2,5ff. – die Selbsterniedrigung als Grund für die Erhöhung durch Gott. Es bleibt dann aber die offene Frage: Wie kann der Aspekt der Sündenvergebung in dieses Deutungsmuster einbezogen werden?

Statt eine Antwort auf diese offene Frage zu geben, will ich Ihnen abschließend eine Geschichte erzählen. Ich bin vor einiger Zeit Zeuge eines eindrucksvollen Gesprächs einer 5. Klasse über diese Geschichte geworden. Nebenbei gesagt halte ich es für didaktisch außerordentlich produktiv, biblische Geschichten in anderen Geschichten zu spiegeln. Nicht, weil diese Geschichten verständlicher wären oder weil sie in der Lage wären, den Erzählgehalt biblischer Geschichten auszuschöpfen. Aber solche Spiegelungen öffnen im Gegenüber zum Bibeltext Deutungsspielräume, die didaktisch das zum Zuge bringen können, was theologisch angemessen ist, sich aber nicht von allein am Bibeltext erschließt. Meine Geschichte: 

"Er erniedrigte sich selbst" :

Ein König gibt ein großes Fest. Viele angesehene Bürger sind eingeladen. Die meisten Gäste kommen mit vornehmen Kutschen. Es beginnt zu regnen. Vor der Toreinfahrt bildet sich eine große Pfütze. Ein vornehm gekleideter, älterer Herr steigt aus, bleibt am Trittbrett hängen und fällt der Länge nach in die Pfütze. Mühsam erhebt er sich wieder. Er ist von oben bis unten beschmutzt und sehr traurig. Denn so kann er sich auf dem Fest ja nicht mehr sehen lassen. Ein paar andere Gäste machen spöttische Bemerkungen. Ein Diener, der den Vorfall beobachtet hat, meldet ihn seinem Herrn, dem König. Dieser eilt sofort hinaus und kann den beschmutzten Gast gerade noch erreichen, als dieser zurückfahren will. Der König bittet den Gast, doch zu bleiben, ihm würde der Schmutz an seinen Kleidern nichts ausmachen. Doch der Gast hat Angst. Da lässt sich der König mit seinen schönen Gewändern in dieselbe Pfütze fallen, so dass auch er von oben bis unten voller Dreck ist. Er nimmt den Gast an der Hand und zieht ihn mit sich. Sie gehen beide, beschmutzt wie sie sind, in den festlich geschmückten Saal.

Ralf Johnen 3

 

Anmerkungen

  1. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt 1992; ders., Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, München 2002.
  2. Gerhard Büttner, Gibt es den religionspädagogischen Fernsehbeweis? "Experimental Teaching" zur Frage der Schülerkonzepte im Hinblick auf die Deutung des Kreuzestodes Jesu, unveröffentl. Manuskript; vgl. ders, Jesus hilft! Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern. Stuttgart 2002.
  3. Aus: Willi Hoffsümmer (Hg.), Kurzgeschichten 4, Mainz 1987, S. 47. Den Hinweis auf diese Geschichte und Beobachtungen zu ihrem religionspädagogischen Einsatz verdanke ich Herrn Pastor Peter Noß-Kolbe, Nienburg. Vgl. auch Peter Noß, Das Kreuz als Zeichen. Ein Unterrichtsentuwrf; in: "Loccumer Pelikan" 1/1997, S. 11-15.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 1/2004

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