Vier Fragen an Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu zu ihrem Impulsreferat
auf der Loccumer Konferenz für Elternvertreter*innen Niedersachsens am RPI Loccum im November 2024
RPI: Ihr Impulsvortrag heißt „Schule als Willkommensraum in der Migrationsgesellschaft.“ Welche Rolle können und sollen die Eltern / Erziehungsberechtigten neben Lehrkräften und Schüler*innen dabei spielen?
Y. Karakaşoğlu: Eltern sind wichtige Mitwirkende in der Schulentwicklung und ein Korrektiv gegenüber Fehlentwicklungen in der Schulkultur. Sie sind zentrale Ansprechpartner*innen, wenn es darum geht, Erwartungen von Eltern und Kindern an Schule zu kommunizieren. Neuzugewanderte Eltern sollten in den Elternvertretungen von Schulen emphatische Ansprechpartner*innen sehen können: Ansprechpartner*innen, die ihre Informationsbedürfnisse und ggf. auch Sorgen gegenüber einem System, das ihnen neu ist und das sie vielfach als Fremdkörper wahrnimmt, ernst nehmen und ihnen vielsprachige Wege der Beteiligung aufzeigen. Es ist wichtig, dass sich Schule ihnen als Ort präsentiert, an dem Sie willkommen sind. Als einen Ort, den sie nicht nur betreten dürfen, sondern sogar sollen, an dem Ihnen Verständnis begegnet und an dem sie nicht als Störenfriede des regulären Ablaufes wahrgenommen werden. Elternsprechzimmer, Elterncafés, mehrsprachige Aushänge, Wegeleitsysteme sind Teil davon – hier könnten alle gemeinsam daran arbeiten, diese zu verbessern.
RPI: Die aktuelle politische Situation erschüttert national und international sicher geglaubte Fundamente der Demokratie. Besonders das Thema Migration gewinnt ja sowohl in Deutschland nach dem Ampel-Aus als auch in den USA durch die Wiederwahl Donald Trumps an Brisanz. Wie kann Ihrer Meinung nach Schule da reagieren? Welche Aufgaben fallen den Unterrichtenden und den Eltern / Erziehungsberechtigten (und auch den Schüler*innen) dabei zu?
Y. Karakaşoğlu: Schule kann angesichts dieser massiven weltgesellschaftlichen Umbrüche und Unsicherheiten nicht unbeteiligt bleiben. Sie sollte sich als wichtiger gesellschaftlicher Ort verstehen, der ja für die Schüler*innen nicht nur Lern-, sondern auch Sozialraum ist. Schule sollte ein Ort sein, an dem im Respekt voreinander und mit Verständnis für unterschiedliche Lebenserfahrungen und biografische, globale Verbindungen auch Kontroversen ausgetragen werden können – und müssen. Hier müssen die Ängste der Schüler*innen vor ungewisser Zukunft und auch die unterschiedlichen Erfahrungen mit Krieg und Flucht zur Sprache kommen und bearbeitet werden können.
Schule ist ja gleichzeitig auch ein Ort, der für die Schüler*innen verpflichtend ist. Sie können sich gegenseitig (und den Anforderungen, die hier an sie gestellt werden) nicht aus dem Weg gehen. Schule sollte daher ein Ort sein, an dem auch vermittelt wird, wie Kontroversen, unterschiedliche Lebensperspektiven und -erfahrungen ausgedrückt und miteinander besprochen werden können.
Wir brauchen für die aktuelle Situation mehr denn je eine Stärkung von friedens- und konfliktpädagogogischen, demokratiepädagogischen Ansätzen. Es braucht Pädagog*innen, die keine Angst vor schwierigen, vielschichtigen Themen haben. Und es braucht das Vertrauen der Eltern in die Institution. Wo, wenn nicht hier, können wir lernen, miteinander in Würde und Respekt zu leben?
Eine Vertrauensbeziehung zwischen Schule und Elternhaus ist wichtig, damit dies geleistet werden kann, und dafür essenziell ist die Kommunikation. Oft sind hierfür viel zu wenig Zeit und es gibt auch zu wenig Ressourcen (wie mehrsprachigen, multiprofessionelles Personal) im Schulalltag, so dass unausgesprochene Erwartungen, aber auch Vorurteile die Beziehung beeinträchtigen. Wir sehen das insbesondere im Umgang von Schule mit neuzugewanderten Eltern.
RPI: Die Stimmung in der Gesellschaft heizt sich in Richtung Rechts immer weiter auf. Das zeigen Jugendstudien und das Wahlverhalten junger Menschen. Was kann helfen, diesem Trend entgegenzusteuern?
Y. Karakaşoğlu: Schule kann die Versäumnisse der Politik bei der Bekämpfung rechtsextremistischer und rassistischer Haltungen und Strukturen in der Gesellschaft nicht kompensieren. Aber sie kann und muss ihrem demokratischen Bildungsauftrag gerecht werden. Schule muss Schüler*innen ebenso Kenntnisse über globale Zusammenhänge von Politik, Wirtschaft, Klima, kulturellem Austausch und der menschengeschichtlichen Normalität von Migration vermitteln.
Schule muss vermitteln, was es heißt, sich als politisch bewusster Mensch in einer pluralen Demokratie informiert und politikkompetent, kritisch reflektierend zu bewegen und sich an der Gesellschaft aktiv zu beteiligen. Eine falsch verstandene ´Neutralität´ von Schule gegenüber menschenverachtenden politischen und weltanschaulichen Äußerungen von Mitgliedern der Schule – egal, ob pädagogisches Personal, Eltern oder Schüler*innen – verhindert, dass Schüler*innen die Schule als Ort gelebter Demokratie und auch ihrer Verteidigung erleben.
Dazu gehört auch die Vermittlung eines kenntnisreichen und kritischen Umgangs mit jeder Art von Medien, insbesondere der „sozialen Medien“, in denen Populist*innen ihre Anhängerschaft rekrutieren.
RPI: Die Teilnehmer*innen der Tagung sind engagierte und aktive Eltern / Erziehungsberechtigte. Sehen Sie eine Chance, auch desinteressierte Eltern / Erziehungsberechtige ins Boot zu holen, um Schule als Willkommensraum weiter und größer zu gestalten?
Y. Karakaşoğlu: Ich glaube, dass alle Eltern/Erziehungsberechtigten grundsätzlich an der Erziehung und Bildung ihrer Kinder interessiert sind, daher spreche ich nicht gerne von ´desinteressierten Eltern´. Aber nicht alle wissen, welche aktiven Möglichkeiten sie haben, die Beziehung zwischen Schule und Elternhaus mitzugestalten – und Schule als Lern- und Sozialraum und auch als kulturelle Begegnungsstätte weiterzuentwickeln. Das gilt insbesondere für Eltern, die selbst nicht in Deutschland zur Schule gegangen sind und für solche Eltern, die (auch in Deutschland!) Schule selbst nicht als freundlichen, ihnen zugewandten Ort erlebt haben als Schüler*innen, sondern als angstbesetzten Ort.
Diese gilt es über unterschiedlichste Kommunikationswege zu erreichen und zur Mitwirkung zu gewinnen. Das geht von mehrsprachigen Angeboten der Information über niedrigschwellige Angebote des Zusammenkommens in Schule (etwa Elterncafés, gemeinsames Schulfrühstück zu Beginn des Schuljahres, gemeinsame Aktionen zur Gestaltung schulischer Räume) bis hin zur aktiven Werbung für die Mitwirkung in den Gremien, die Eltern als Orte kennenlernen sollten, an denen ihre Meinungen und ihre Erfahrungen gefragt sind. Damit sie so zur positiven Veränderung der Schule ihrer Kinder beitragen können.
RPI: Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Interview und Foto: Öffentlichkeitsarbeit RPI
Interview und Foto: Bianca Reineke, Öffentlichkeitsarbeit RPI