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Jan Grossarth: Vom Aussteigen und Ankommen, Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen, Goldmann Verlag München 2012, ISBN: 978-3-442-15741-9, 
320 Seiten, 9,99 €

„Vom Aussteigen und Ankommen“ heißt ein Buch des Journalisten Jan Grossarth. Der Autor berichtet darin von seinen Besuchen bei Menschen, die ein einfaches, ein anderes Leben jenseits der Konventionen wagen. Von einem Waldmensch aus dem Westerland ist da zu lesen, von einem politischen Ökodorf in der Altmark, aber auch vom Leben in einem Kloster der Kölner Altstadt. Der vorliegende Textauszug ist dem Kapitel „Leben ohne Geld in München“ entnommen.

Pavlik hatte keinen festen Wohnsitz. Er stellte mir frei, in welcher Stadt wir uns treffen. Ich entschied mich für München, denn ein Leben ohne Geld in einer Stadt mit viel Geld auszuprobieren erschien mir besonders interessant.
Für »zwischen zehn und zwölf Uhr« hatten wir uns im Biergarten am Chinesischen Turm verabredet. Auf eine exakte Zeit wollte sich Pavlik, der sich »Elf« nannte, nicht einlassen, denn er reiste aus Bochum an, und Reisen ohne Geld hatten den Nachteil, dass die Ankunftszeit vorher nicht feststand.
Im Biergarten standen zwei schwarz gekleidete Sicherheitsleute vor leeren Biertischreihen. Es regnete leicht. Der Elf war schon da, er saß unter dem Dach des Chinesischen Turms auf einer Bierbank, hatte eine grüne Jacke an, eine schmutzige Militärhose mit ausgebeulten Seitentaschen und Rissen an den Knien. Er trug Wanderschuhe, die gegen das Unterwegssein rebellierten, indem sie sich auflösten. Er sah aus wie ein Obdachloser.

Er lebte auch fast so. Aber er tat das freiwillig, er dachte sich etwas dabei. Bereits seit mehr als einem Jahr nannte sich der siebenundzwanzig Jahre alte Pole Pawel Josef Stanczyk nicht mehr »Pawel Josef«, sondern »Elf Pavlik«. Der sollte sein endgültiger postbürgerlicher Name sein. Er roch, wie ein Mensch riecht, der sich und seine Kleider einige Tage und Nächte nicht gewaschen hat. […]

Mehr als Essen, Trinken, Luft und etwas Schlaf brauchte man ja nicht zum Überleben, sagte Elf gut gelaunt. Sehr viel mehr hatte er auch nicht mehr, seit das Geld aus seinem Leben verbannt war. […]

Pavlik warb für eine Welt, in der die Menschen sich nur noch beschenken. Er lehnte nicht nur das Geld, sondern auch Tauschgeschäfte ab.

Im Sommer lebte er eigentlich auf dem Land. Dort half er auf Biohöfen bei der Ernte mit. Er bot seine Arbeit über seine Internetseite jedem an, wofür die Voraussetzung war, dass er sich mit den Zielen der Arbeit identifizieren kann. Seine weiteren Bedingungen waren: Die Unterkunft musste möglichst naturnah sein, er verlangte vegane biologische Verpflegung und war bereit, am Tag maximal drei Stunden körperliche Arbeit zu leisten und dazu bis zu vier Stunden Arbeit am Computer.

Die Nachfrage nach seiner Arbeitskraft war aber gering.

Hielt er sich in einer Stadt auf, lebte er von Armenspeisungen und vom Containering, also von Nahrung, die er in den Abfällen der Supermärkte fand. Das hielt er, anders als Tauschgeschäfte, für korrekt, weil es die Nachfrage nach konventionellen Lebensmitteln nicht erhöhe und somit auch nicht die Produktion. Als er mir erzählte, dass er im urbanen Umfeld von Müll lebe, bereute ich, mich mit ihm in einer Stadt getroffen zu haben. […]

Pavlik lehnte auch Staaten wie überhaupt alle »künstlichen Identitäten« ab, wie er sie nannte. Seinen Personalausweis und Reisepass hatte er deshalb einem Papierwolf zum Fressen gegeben, bevor er sich im Sommer 2009 während eines Aufenthalts in einem Ökodorf in Portugal dazu entschloss, fortan Elf zu sein. Er zeigte sich fest davon überzeugt, dass in wenigen Jahren die Mehrheit der Menschen freiwillig, nur durch vernünftige Einsicht, auf Geld verzichten würde. Damit wären viele Probleme dieser Zeit gelöst: Der Staat könne sich und seine Kriege nicht mehr über Steuern finanzieren, die Zentralbanken könnten so viele Euros drucken, wie sie wollten, und keiner würde sie haben wollen, glaubte Pavlik. […]

Wir erreichten die Bahnhofsmission, die sich links neben den Gleisen versteckt hatte. Die Obdachlosen sahen hier in München gepflegter aus als die in Nürnberg, und es roch nicht nach Schweiß, sondern nach Reinigungsmitteln. An einer Theke schenkte ein Fräulein Tee und Kaffee aus und verteilte Schmalzbrote.

Pavlik trat an den Tresen: »Ich bezeichne mich als Elfen. Ich verwende kein Geld, und er ist ein Journalist und begleitet mich ein paar Tage. Wir lehnen, wie gesagt, den Gebrauch von Geld konsequent ab. Könnten wir bei Ihnen ein Essen bekommen?«

»Zu uns kommen eigentlich Menschen, die kein Geld haben, und nicht Menschen, die keines verwenden wollen. Aber ihr könnt Tee und Brote bekommen, wenn ihr wollt.«

Ich nahm nur einen Früchtetee, Pavlik ließ sich zwei Schmalzbrote geben. Er fragte mich, als er sie in der Hand hielt, was dieser Aufstrich sei. »Schmalz. Das ist Schweinefett, vielleicht auch Fett von Gänsen.«

Er guckte angewidert, als halte er rohes Schneckenfleisch in der Hand, stand auf, ging mit den Broten wieder zum Tresen, gab sie zurück und bekam zwei neue Brote mit Margarine. Der Veganer war fast in eine tierische Falle getappt.

»Ich esse keine Tiere oder tierischen Produkte«, sagte er der Mitarbeiterin.
 

Oliver Friedrich

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2017

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