‘Zeichen der Transzendenz’ ein Vorschlag für das schriftliche Abitur zu einem Text von P. L. Berger

von Carolin Schaper

 

Schon vor den Weihnachtsferien beginnt die Zeit der Suche nach brauchbaren Texten für die schriftliche Abiturprüfung. Nicht nur junge Kolleginnen und Kollegen, die dem Fehler erlegen sind, gute Texte bereits bei normalen Klausuren ‘verheizt’ zu haben, stehen dann wieder vor der Frage, welche Texte geeignet sind. Sie müssen sich thematisch auf mehrere Semester beziehen, dürfen nicht zu schwierig, nicht zu leicht sein und sollen auch noch das Schülerinteresse wecken ...

Der Abiturvorschlag von Carolin Schaper, ehemals Unterrichtende am Kranich-Gymnasium in Salzgitter, kann hier gewiss als Orientierungshilfe dienen. 

Zeichen der Transzendenz, Peter L. Berger

Zeichen der Transzendenz nenne ich Phänomene der ‘natürlichen’ Wirklichkeit, die über diese hinauszuweisen scheinen. Man denke nur an die wohl fundamentalste aller Ordnung stiftenden Gesten - die der ihr ängstliches Kind beruhigende Mutter.
Das Kind erwacht - vielleicht aus schweren Träumen - und findet sich allein, von nächtlicher Dunkelheit umgeben, namenloser Angst ausgeliefert. Die vertrauten Umrisse der Wirklichkeit sind verwischt, ja unsichtbar. Chaos will hereinbrechen. Das Kind schreit nach der Mutter. In einem solchen Augenblick ist der Ruf nach der Mutter, ohne Übertreibung, der Ruf nach einer Hohepriesterin der Ordnung. Die Mutter - und vielleicht nur sie - hat die Macht, das Chaos zu bannen und die Welt in ihrer Wohlgestalt wiederherzustellen. Genau das tut eine Mutter. Sie nimmt das Kind in den Arm und wiegt es in der zeitlosen Gebärde der magna mater, die unsere Madonna geworden ist. Sie zündet ein Licht an, und warmer, Sicherheit verheißender Schein umgibt sie und ihr Kind. Sie spricht zu ihrem Kind, sie singt ihm ein Schlummerlied. Und der Grundtenor ist auf der ganzen Welt immer und immer derselbe: "Hab’ keine Angst"; "alles in Ordnung"; "alles ist wieder gut". Das Kind schluchzt vielleicht noch ein paar mal auf und gibt sich allmählich zufrieden. Sein Vertrauen zur Wirklichkeit ist zurückgewonnen, und in diesem Vertrauen kann es wieder einschlafen.

Dergleichen gehört zur Routine des Alltags und bedarf natürlich keiner artikulierten religiösen Grundlage. Aber gerade dass es so gewöhnlich ist, wirft die keineswegs gewöhnliche Frage auf - eine Frage, die unmittelbar in eine religiöse Dimension reicht: Belügt die Mutter das Kind? Nur wenn ein religiöses Verständnis des menschlichen Daseins Wahrheit enthält, kann die Antwort aus vollem Herzen "Nein" lauten. Ist dagegen umgekehrt das "Natürliche" die einzige Wirklichkeit, so lügt die Mutter. Sie lügt zwar aus Liebe, und deshalb lügt sie auch wieder nicht. Nimmt man sie jedoch statt der Liebe beim Worte und analysiert es radikal, so ist, was sie sagt, eine Lüge. Warum? Weil der Trost, den sie gibt, über sie und ihr Kind, über die Zufälligkeit der Personen und der Situation hinausreicht und eine Behauptung über Wirklichkeit als solche enthält.

Elternwerden heißt die Rolle von Welterbauern und Weltschützern annehmen. Ganz offen tritt das darin zutage, dass die Eltern jene Umgebung schaffen, in der die Sozialisation des Kindes stattfindet. Insofern sind sie für ihr Kind die Vermittler der Gesellschaft, zu des gehört. Welterbauer und Weltschützer sind sie jedoch auch in einem noch tieferen Sinne, der sich in der soeben beschriebenen Szene so einfach wie geheimnisvoll zu erkennen gibt. Die Rolle, die Eltern ihrem Kind gegenüber annehmen, ist die von Repräsentanten nicht nur irgendeiner Gesellschaftsordnung, sondern von Ordnung als solcher, jener Grundordnung (oder Regel) der Welt (oder des Universums), dass unser Vertrauen einen Sinn hat (oder sinnhaft ist). Diese Rolle ist es, die Eltern zu Hohepriestern macht. Die Mutter in unserer Szene spielt diese Rolle, einerlei ob sie ihrer gewahr ist (wahrscheinlich ist sie es nicht), ohne dass sie weiß, dass und was sie repräsentiert. "Alles ist in Ordnung"; "alles ist wieder gut" - das ist die Grundformel mütterlichen, elterlichen Trostes. Nicht nur diese eine Angst, dieser eine Schmerz - nein, alles ist in Ordnung. Man kann die Formel, ohne sie in irgendeiner Weise anzutasten, in eine kosmische Aussage übersetzen: "Vertraue dem Sein."

Worterklärung: magna mater (lat.): große Mutter
Fundstelle der Textvorlage: Peter L. Berger, Auf den Spuren der Engel, Frankfurt/M. 1970, S. 79ff

Aufgaben:

  1. Formulieren Sie mit Hilfe des im Text gegebenen Beispiels, was P. L. Berger unter "Zeichen der Transzendenz" versteht.
  2. a: Zeigen Sie Bezüge zwischen der von P. L. Berger benannten Erfahrung der "Ordnung" und dem religionspsychologisch beschriebenen Urvertrauen auf.
    b: Erläutern Sie die Bedeutung dieser Erfahrungen für die Einstellung eines Menschen zu Religion.
  3. Beurteilen Sie den Wahrheitsgehalt der Aussage der Mutter.

 

Bezug zum vorausgegangenen Unterricht:

Kursthema 12.1:
Fragen nach Gott (A/C)
Kursinhalte u. a.:

  • Gottesbilder
  • Gotteserfahrungen; Urvertrauen; krankmachende Gottesvorstellungen am Beispiel T. Mosers (Elementarer Aspekt 1.1; 4.5)
  • Stufen religiöser Entwicklung nach A. Bucher - kindliche Gottesvorstellungen (EA 1.1)
  • "Glauben"; Glaubensbekenntnisse (EA 1.2)

Lernziele: A2; A4; B1; c1-4

 

Kursthema 12.2:
Religion und Wissenschaft (B/C)
Kursinhalte u. a.: Sprache der Religion (EA 1.2; 1.4; 3.4; 3.5)

  • "Wahrheitsfrage" (EA 1.3; 1.4)
  • Wirklichkeitsverständnis von Religion und Naturwissenschaft (EA 3.4)

Lernziele: A2; A4; B1-4; C3

 

Kursthema 13.1:
Jesus Christus (A/D)
Kursinhalte u. a.: Verkündigung Jesu vom Reich Gottes (EA 2.1; 2.2)
Lernziele: A1; A2; A4; B2; C1-4; D1

 

Erwartete Prüfungsleistung:

zu Aufgabe 1:

P. L. Berger versteht unter "Zeichen der Transzendenz" empirisch feststellbare Phänomene alltäglicher menschlicher Vorstellungen oder Verhaltensweisen, die auf eine übergeordnete religiöse Dimension verweisen.

Am Beispiel des verängstigten Kindes, das von seiner Mutter getröstet wird, wird der menschliche Wunsch nach sicheren, "geordneten" Verhältnissen aufgezeigt. Dieser Wunsch hat seine transzendente Entsprechung in der Hoffnung auf ein von Gott grundsätzlich geordnetes und gehaltenes Weltganzes, in dem eine sinnhafte menschliche Existenz möglich ist.

 

zu Aufgabe 2 a:

Folgende Bezüge können aufgezeigt werden:

  • das religionspsychologisch beschriebene Urvertrauen kann in seiner strukturellen Entsprechung zum religiösen Gottvertrauen als ein weiteres Beispiel für die von Berger dargestellte Verschränkung von anthropologischem und theologischem Bezugsrahmen angesehen werden - vergleichbar der im Text angeführten Erfahrung der "Ordnung"
  • inhaltlich besteht ein enger Bezug zwischen beiden Beispielen: Eltern, die ihre Kinder eine grundsätzlich vertrauenswürdige und sinnhafte Welt-Ordnung erfahren lassen, verstärken kindliches Urvertrauen und schaffen damit Voraussetzungen für ein späteres Gottvertrauen; die Nähe der beiden Erfahrungen zeigt sich auch darin, dass Berger die Aussage "Vertraue dem Sein" als "kosmische" Variante der elterlichen Grundformel "Alles ist in Ordnung" deklarieren kann.

 

zu Aufgabe 2 b:

Mögliche Aspekte einer Erläuterung:

  • Urvertrauen als Voraussetzung für die Entwicklungen religiöser Rezeptionsfähigkeit; Frustrationstoleranz; realistisches Gottvertrauen
  • die Bedeutung biographischer Einflüsse für die religiöse Sozialisation; Abgrenzung gegen krankmachende Erfahrungen von Religion
  • Stufen religiöser Entwicklung
  • Umgang mit der Theodizeefrage

Grundsätzlich besteht auch die Möglichkeit, die Bedeutsamkeit der zugrundegelegten Erfahrungen für die menschliche Einstellung zu Religion kritisch zu relativieren.

Erwartet wird die Aufnahme von zwei möglichen Aspekten.

 

zu Aufgabe 3:

Ansatzpunkte einer Beurteilung:

Textbezüge:

  • Differenzierung zwischen einem religiösen und einem ausschließlich auf die menschliche Existenz bezogenem Wirklichkeitsverständnis und des sich diesbezüglich verändernden Wahrheitsgehaltes der Aussage der Mutter.
  • Ethische Unterscheidung: Eine Lüge aus Liebe sei nicht als solche anzusehen.

 

Weiterführende Aspekte:

Abgrenzung des naturwissenschaftlichen oder historisch-faktischen Wahrheitsbegriffes gegenüber dem religiösen

  • evtl.: kritische Bezugnahme auf die Methodik empirischer Wissenschaften; Relativierung der Annahme einer objektiven Wirklichkeitserfassung
  • Bezugnahme auf die "Wahrheitsfrage" hinsichtlich der Existenz Gottes: "Glaube" als Möglichkeit der Entscheidung des Menschen für eine bestimmte Wirklichkeitsrezeption
  • Berücksichtigung einer perspektivischen Wahrnehmung der Aussage der Mutter: Das Kind erfährt die Aussage innerhalb seines Bezugsrahmens als wahr.
  • "Zeichen der Transzendenz" als wirksame und erfahrbare Spuren eines übernatürlichen Bezugsrahmens, deren Wahrheit jedoch nicht abzuleiten oder zu begründen ist.

Die Bearbeitung der Aufgabe kann sich an der Argumentation des Textes orientieren, sollte jedoch zwei darüber hinausgehende Aspekte aufgreifen bzw. aus dem Text herangezogene Argumente vertiefen.

 

Anforderungsbereiche und vorgesehene Gewichtung der Aufgaben:

1.    AFB I/II      20%

2.a  AFB II         25%

3.   AFB II/III     30%