Frieden und „Verdraagsamkeit“ – Eine Andacht über das Kirchenfenster in der Grote Kerk St. Bavo, Haarlem (Niederlande)

Von Silke Leonhard

 

Liebe Gemeinde,

hinter vielen der politischen Slogans verbergen sich Bilder von der Welt. America first! Yes, we can! Ja, wir schaffen das! Friede den Hütten, Krieg den Palästen! Manche Slogans, die auch dazu aufrufen, reißen Menschen mit. Und sie stoßen uns in politischer wie in religiöser Hinsicht auf die Frage, was sich hinter ihnen verbirgt: Was sind die Visionen, die uns leiten? Woran können wir glauben, welchen Weltsichten können wir vertrauen? Manche rufen zu Sieg gegenüber den anderen auf, sie verführen zu dem vermeintlichen Glauben, die Welt wäre heiler, wenn nur wir schneller, höher, weiter, klüger, erfolgreicher, wirtschaftlicher, ja besser sind.

Noch einmal: Was sind die Visionen, die uns leiten?

Die Bibel hat ein besonderes Verhältnis zu Visionen. Amos ist ein Prophet, der hinschaut. Kein Vorhersager, wie wir immer sagten, sondern ein Hervorsager. Als Prophet aus dem anderen Land sieht er manches Elend, was man selbstverständlich vielleicht übersieht – soziale Ungerechtigkeit, die Scheren zwischen Reich und Arm, die Unruhen und Kriege, die Machtstreitigkeiten. Gott lässt ihn schauen, so ist seine Berufung, Unheilsvisionen zu haben. Er sagt etliche Plagen voraus und den Untergang des Nordreiches. Das Fenster, durch das er schaut, ist das der Gerechtigkeit – und durch dieses Fenster hindurch sieht die Welt nicht heile aus.

Diese Realitätsschau hat so mehrere Seiten. Dazu gehört: Hingucken und kritisch sehen, in die Welt schauen und die Ungerechtigkeiten sehen. Zwischen den Staaten und Völkern, Gesettelten und Flüchtenden, Ost und West, Machtgefechten hier und da wach sein ist vielleicht auch eine Berufung für uns, die wir in Kirche und als Kirche auf der Welt in der Welt unterwegs sind.

Mich hat eine andere Art von Vision inspiriert – eine Vision auf Glas und durch Glas hindurch. Nicht von ungefähr kreieren Glaskünstler nicht nur die Blicke auf, aber auch durch etwas hindurch.

Manchmal ist man aber nicht draußen in der Welt, woanders, sondern innen, so wie hier. Wenn man in kirchlichen und anderen Gebäuden ist, geht die Konzentration in das Innen. Schauen kann man in die Welt durch die Fenster.

Die Vision, die sich mir – gar nicht in meinem Inneren, sondern ganz architektonisch eben im und durch das Fenster – auftat, war vor kurzem in der Grote Kerk in Haarlem, Niederlande. Von innen zieht ein Seitenfenster die Aufmerksamkeit auf sich und durch sich hindurch: Ein großes, buntes Fenster zur Welt durch seine fast chagallblau getönten Scheiben hindurch. Der Blick in die Welt ist wie ein Einblick in den Himmel, eine Verheißung, ein Lichtblick nach oben, der die ganze Kirche färbt. Ich lächle, als ich das Fenster erblicke und schaue drauf und durch. Den wichtigsten Ausschnitt haben Sie vor sich. Die Erde im Himmel ein Gesicht mit vielfältigen Gesichtern, mit einem Kleid voller leuchtender Blumen, Rosen und Tulpen. Die bunten Weltfetzen, die darunter sind in diesem gotischen Fenster, fügen sich ein in das Weltenmeer und werden fast wie von den Blumen nach oben gezogen. Es strömt nach oben. Scheint manchmal alles Leid, alle Schwermut, Ungerechtigkeit innen krasser, so wird es hier aufgehoben in der freundlichen Gestalt.

Die Welt gehalten vom Miteinander der Blumen. Michel van Overbeekes Fenster heißt „vrede en verdraagsamkeit“. Frieden und … : Toleranz? Gerechtigkeit? Verdraagsamkeit lässt sich nicht so einfach übersetzen. Toleranz hat man übersetzt als ein übergreifendes. Verdraagsamkeit ist kein billiger Friede, vielmehr muss man es aushalten, verbunden zu sein, auch wenn man aneinanderstößt. Verdraagsamkeit heißt, gemeinsam im Lebensfluss zu sein. Es ist ein Bild, eine Durchsicht eines Künstlers, der Armut kennt. Das ganze Chaos der Welt verhindert nicht, dass sich die Schöpfungselemente der Welt versammeln und vertragen.
Nein, so einfach ist es aber nicht, werden wir sagen, so einfach, so schön. Nein, so ist es nicht, das hat auch Amos gesehen. Er hat Unheilsvisionen gehabt.

Aber an dieser einen Stelle kommt auch bei Amos das durch, was seinen Blick prägt und was auch im dem Fenster ein Kleid bekommt: die Gerechtigkeit: Es ströme das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach, so sagt Amos. Diese Verheißung ist mehr und anders als eine Utopie. Sie hat ein Gesicht und ein farbiges Kleid, zieht inmitten des Chaos die Schöpfungskräfte zusammen. Sie verändert den Blick.

Michel van Overbeekes Fenster kann auch unseren Blick verändern: auf das Visionäre, auf die Hoffnung und die Utopie, dahin, wo schon in Farbe ist, was wir noch in Schwarzweiß ahnen: Frieden und Verdraagsamkeit, Recht wie Wasser. Dann fällt auch die Arbeit an der gemeinsamen Welt leichter.
Es ströme die Verdraagsamkeit. Amen.

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Detail eines Kirchenfensters des Haarlemer Künstlers Michel van Overbeeke in der Grote Kerk St. Bavo, Haarlem, Niederland. © Michel van Overbeeke