Emotionales Lernen: Psychosoziale Aspekte beim Lernen

von Stefanie Brida

 

Woran kannst du dich erinnern? Was ist hängen geblieben von den 13 Jahren Schule? Was hat dich nachhaltig geprägt, deinem Leben Perspektive gegeben und dir die Entwicklung deiner Persönlichkeit und deiner Begabungen ermöglicht?

Im Gespräch mit Freundinnen tauchen immer wieder ähnliche Schulzeiterinnerungen auf: die Klassenfahrten zum Skifahren und nach Berlin, der Austausch mit Italien, die lange vorbereiteten Theateraufführungen, die spontane Demonstration gegen den Golfkrieg, und zum krönenden Abschluss: die Abirede.

Im Gegenzug tauchen auch unangenehme Erinnerungen auf: peinliche Situationen im Sportunterricht, Lästereien und Cliquenbildung, Angst vor der strengen Mathelehrerin in der 7. Klasse, die beklemmende Stille kurz bevor jemand an die Tafel zur Abfrage gerufen wurde und das höhnische Grinsen des Chemielehrers, der die Schülerinnen und Schüler des neusprachlichen Zweiges des Gymnasiums mit den Worten begrüßte: „Alle Neusprachler sind in Chemie die absoluten Nullen!“

Die Erinnerung speichert einige Situationen glasklar, und jederzeit können Bilder, Kognitionen und Gefühle durch einen Trigger aktiviert werden. Manchmal reicht ein bestimmter Herrenduft, der uns an einen gemeinen Lehrer erinnert, um ein unangenehmes Gefühl von Versagen zu erzeugen.

In meine psychotherapeutische Praxis kommen regelmäßig Eltern mit Kindern, die von Ängsten berichten; Angst vor bestimmten Fächern beziehungsweise vor Lehrkräften, vor Prüfungen, vor dem Mitmachen beim Sportunterricht, vor dem Melden im Unterricht, vor Mitschülern, die lästern und negative Gerüchte verbreiten. Es scheint allen naheliegend, dass diese starken Gefühle zu „Lernblockaden“ führen. Manchmal ist das Erkennen der Gefühle etwas verborgen, und die Kinder reagieren mit vermehrten Kopf- und Bauchschmerzen, Konzentrationsproblemen oder Leistungsvermeidung. Prüfungsängste, soziale Ängste und psychosomatische Erkrankungen sind, meiner Beobachtung nach, nicht nur bei Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in den letzten fünf Jahren deutlich häufiger ein Vorstellungsgrund in kinder- und jugendpsychotherapeutischen Praxen. Sehr belastend wird es für alle Beteiligten, wenn ein Kind schließlich die Schule ganz verweigert und je nach Einzelfall einen stationären Aufenthalt in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie benötigt.

Schule und Lernen sind aus verschiedenen Gründen für viele Menschen mit Angst verbunden. Angst verhindert Kreativität. Verschiedene wissenschaftliche Studien belegen, dass die Angst einen bestimmten kognitiven Stil produziert, der das rasche Ausführen einfacher erlernter Routinen erleichtert und das lockere Assoziieren erschwert (z.B. Fiedler 1999). Eltern berichten, dass ihre Kinder zuhause alles gut gelernt haben und sicher wiedergeben konnten. In der Prüfungssituation haben die Kinder Schwierigkeiten, die einfachen, etwas veränderten Aufgaben zu lösen, die einen Transfer, einen Anwendungsbezug oder eine eigene Stellungnahme erfordern.

Ziel sollte es demnach sein, eine angenehme Lernatmosphäre, emotionale Geborgenheit und eine positive Grundstimmung in der Schule und beim Üben zu Hause herzustellen.

Wie kann die Umsetzung dieses Ziels gelingen, in Klassen mit einer Klassenstärke von über 30 Kindern und einem straffen Lehrplan, der wenig Zeit lässt für das Wahrnehmen von emotionalen Themen der Kinder und Jugendlichen? Es liegt ein hoher Erwartungsdruck auf den Lehrkräften, den vorgegebenen Stoff zu vermitteln, und auf den Schülerinnen und Schülern, die Erwartungen von Eltern, Lehrkräften und Mitschülern zu erfüllen. Lernen findet immer statt in einem inneren Milieu zwischen der persönlichen emotionalen Befindlichkeit der Lehrperson (z. B. kritische Lebensereignisse, Erschöpfung), dem Klassenklima (z. B. negative Gruppendynamik, Mobbing) und der persönlichen emotionalen Verfassung des Schülers oder der Schülerin (z. B. Anpassung an Trennung der Eltern, Mangel an emotionaler Verfügbarkeit der Eltern, Trauer).

Wie kann man erwarten, dass ein Kind, dessen Eltern im Trennungsprozess stehen, seine vollen Leistungsmöglichkeiten in der Schule ausschöpft? Mit hoher Wahrscheinlichkeit reagiert ein Kind oder ein Jugendlicher auf die emotional instabile Situation im häuslichen Setting mit Verhaltensänderungen in der Schule. Bei vielen zeigt sich dies in einer erhöhten Empfindsamkeit. Die Konzentration auf den Unterrichtsstoff fällt schwerer, und negative Bemerkungen von anderen und schlechte Schulnoten werden nicht mehr so leicht weggesteckt. Wie bei Erwachsenen im Trauer- bzw. Anpassungsprozess kann die Belastbarkeit sinken, und das Einspeichern von Lerninhalten ist behindert. Manchmal bietet der regelmäßige Schulbesuch jedoch auch einen sicheren inneren Halt für ein Kind, wenn sich zuhause alles verändert.

Die Herausforderung für Kinder und Jugendliche neben dem Wissenserwerb in der Schule ist das Finden eines persönlichen Platzes in der Klassen- und Schulgemeinschaft. Sehr viele Kinder und Jugendliche berichten von Ausgrenzungen einzelner Mitschüler oder Mitschülerinnen. Teilweise aktivieren bestimmte Drahtzieher andere mit der versteckten Ansage: „Den darfst du ärgern!“, mit der Verbreitung von bösen Gerüchten im Internet und einer regelrechten Hetze, bei der viele sich nicht trauen, sich auf die Seite der Minderheit zu stellen. Eine Klassengemeinschaft, in der eine solche Dynamik Fuß gefasst hat, erfüllt die Kriterien für eine optimale Lernatmosphäre nicht. Wo keine emotionale Geborgenheit herrscht, regiert leicht die Angst vor sozialer Ausgrenzung. Die Vermittlung von Wissen sollte in einem solchen Falle zweitrangig sein. Zunächst geht es um die Verbesserung des Miteinanders in der Klasse, dann können sich Schülerinnen und Schüler auch wieder im Lernprozess trauen, Fehler zu machen und peinliche Situationen auszuhalten. Manchmal bedarf es einer systemischen Betrachtungsweise von außerhalb, z.B. in Form von Supervision, um der Lehrkraft Ideen für die Lösung von negativen Gruppendynamiken zu geben.

Ich halte es zudem für sehr wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer überprüfen, wie stabil sie im Umgang mit dauerhaften Provokationen und mit Lustlosigkeit seitens der Schülerinnen und Schüler sind, vor allem, wenn sie im privaten Bereich zur gleichen Zeit durch eine persönliche Krise gehen. In manchen Fällen kann auch ein bestimmtes Verhalten der Schülerinnen und Schüler (z. B. blamierende Kritik, falsche Gerüchte, Verweigerung, Lächerlich machen) sehr negative Gefühle (z. B. Rache, Hilflosigkeit, Sinnlosigkeit) bei Lehrenden auslösen, auf die eine affektive Reaktion folgt, die der Lernbeziehung schadet.

Lehrerinnen und Lehrer gehören häufig zu den wichtigen externen Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen. Man weiß, dass sie einen entscheidenden Einfluss auf die positive Entwicklung eines Menschen nehmen können. Sie dienen als wichtiger Schutzfaktor zur Bewältigung kritischer Lebensereignisse und zur Entwicklung einer gefestigten Persönlichkeit. Sie zeigen den Kindern und Jugendlichen, was in ihnen steckt und eröffnen ihnen einen Zugang zum Wissen und zu ihren Begabungen.

Meine Empfehlungen für den Schulalltag:

  1. Achten Sie auf Ihre eigene emotionale Befindlichkeit!
  2. Gehen Sie achtsam mit den Gefühlen der Schülerinnen und Schüler um, nehmen Sie sie wahr und sprechen Sie ihn gegebenenfalls darauf an!
  3. Nehmen Sie die Gruppendynamik in Ihrer Klasse ernst!
  4. Nützen Sie die Möglichkeiten des Coachings, der kollegialen Intervision oder Supervision!
  5. In allen didaktischen Überlegungen sollte die emotionale Aktivierung durch den Unterrichtsstoff eine wichtige Rolle spielen.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2011

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