Vom Lob der Zitate zum Plädoyer für die Ganzschrift - Didaktische Überlegungen zur Bibellektüre im RU

von Peter Müller

 

„Die Bibel ist vielerlei: Sie ist eine Sammlung religiöser Texte aus mehr als einem Jahrtausend; sie ist eine historische Quelle für den antiken Vorderen Orient; sie ist ein kulturgeschichtliches Dokument, das selbst den Charakter eines Kunstwerks hat etc. Für den christlichen Glauben ist die Bibel auch und vor allem die grundlegende Überlieferungsgestalt, durch die die Offenbarung Gottes in Jesus Christus für die Nachgeborenen zugänglich wird.“1 Und nicht zu vergessen: Die Bibel ist ein Buch. Ein Buch – das bezeichnet nicht lediglich eine vorteilhafte Form zur Aufbewahrung von Geschriebenem. Von den Anfängen christlicher Überlieferung an ist dieses Buch die wesentliche Bezugsgröße christlichen Glaubens und Denkens.

Bücher haben es angesichts der heutigen Veränderungen in der Medienlandschaft nicht leicht. Auf der einen Seite werden das Gutenbergzeitalter und damit die Buchform für tot erklärt und das Vergehen der Lesekultur konstatiert. Auf der anderen Seite bringen die Verlage jedes Jahr eine kaum mehr überschaubare Zahl an Neuerscheinungen auf den Markt. Kein Zweifel kann aber daran bestehen, dass sich durch die neuen Medien, insbesondere durch Fernsehen und Internet, unser Verhältnis zur Welt, zum Wissen, zur Tradition und damit auch zum Buch wandelt. Wissen wird portioniert und durch „Links“ erschlossen, deren Fülle aber nur den Kundigen wirklich hilfreich ist. Die Prognose lautet: Die Internetnutzung wird das Buchlesen überholen, Buch- und Zeitungslektüre werden insgesamt flüchtiger.2 Für Victoria Beckham, Ex-Spice-Girl und gegenwärtig Ehefrau des Fußballers David Beckham, scheint das kein Problem zu sein:
„Victoria Beckham hat noch nie ein Buch gelesen. Das sagte sie im Interview mit dem Magazin ‚Chic’, aus dem die britische Sonntagszeitung der ‚Sunday Mirror’ vorab zitierte. Sie habe einfach keine Zeit, ein Buch zu lesen, sagte die 31-Jährige. Außerdem: ‚Ich höre lieber Musik – obwohl ich gerne Modezeitschriften lese.’“3

Angesichts solcher Vorbilder hat das Lesen von Büchern keine große Lobby. „Schock deine Eltern. Lies ein Buch!“ warb dementsprechend vor einigen Jahren eine große Buchhandelskette. Natürlich sind auch die neuen Medien und ist insbesondere das Internet ein anspruchsvolles und hoch komplexes Medium. Aber sie kommen leichter daher und verlangen auf den ersten Blick weniger Eigenaktivität. Bücher dagegen sind anstrengend. Die Religionspädagogik hat selbstverständlich die Zeichen der Zeit erkannt und die Bibel als Buch durch kopierte Arbeitsblätter ersetzt:
„Religion ist, wenn Textblätter verteilt werden. Kopiert aus der Bibel (wenn’s hoch kommt), aus dem SPIEGEL (wenn’s moralisch kommt), aus der Unterrichtshilfe (wenn’s schnell gehen muss), aus dem Kunstband (wenn’s symbolisch wird), aus dem CD-Cover (wenn’s schülerorientiert zugeht), aus der BRAVO (wenn’s peppig wird), aus der Tageszeitung (wenn’s aktuell wird). Kaum auszudenken, was geschehen würde, wenn es unseren Kultusministern … einfiele, aus Kostengründen alle in den Schulen vorhandenen Kopierer ersatzlos einzuziehen! Meine Prognose: Unser Religionsunterricht wäre damit bis auf weiteres methodisch am Ende. Empirisch scheint ein nicht-Kopierpapier-gestützter Unterricht weder denk- noch machbar.“4

Wir grinsen bei der Lektüre dieser Beschreibung von Religionsunterricht und fühlen uns ein wenig ertappt. Denn braucht man die Bibel im Unterricht, muss tatsächlich der Klassensatz oft erst aus dem Lehrerzimmer herbeigeschafft werden. Sehr einladend sehen die Exemplare dann nicht aus, eher zerfranst und verschmutzt. Und außerdem muss man den Schülerinnen und Schülern immer wieder erklären, wie man Exodus 20 oder Lukas 2,1-20 findet, von den kleinen Propheten ganz abgesehen. Das kopierte Arbeitsblatt macht solche Probleme nicht.

 

Ein Lob der Zitate

Bekanntlich ist die Bibel ein Buch, das aus etlichen einzelnen Büchern besteht. „In des alten Bundes Schriften merke dir an erster Stell‘ Mose, Josua und Richter, dazu zwei von Samuel“ – so mussten Schülerinnen und Schüler früherer Zeiten die Reihenfolge der biblischen Büchern lernen bis hin zur Offenbarung: „Endlich schließt die Offenbarung das gesamte Bibelbuch. Mensch, gebrauche, was du liesest, dir zum Segen, nicht zum Fluch!“ Wir basteln Mini-Bücherregale aus Streichholzschachteln oder nehmen die entsprechenden Poster der Bibelgesellschaften zu Hilfe. Aber wie existiert die Bibel in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler? Als Arbeitsblatt möglicherweise. Mag sein, sogar als Buch. Wahrscheinlich als dickes und schweres Buch. Man muss sich Mühe geben, um zu verstehen, was da steht. Oft braucht man Experten (Lehrerin und Lehrer), die es erklären.

Dennoch gilt vielen Kindern und Jugendlichen die Bibel wahrscheinlich auch als Buch, das sie zu kennen glauben. Denn die Tatsache, dass die Bibel in Gottesdiensten ausgelegt, im Unterricht behandelt wird und dass man bekannten Bibelversen immer wieder einmal begegnet, erweckt diesen Eindruck. Tatsächlich begegnen Schülerinnen und Schüler im Lauf einer normalen Schullaufbahn mehrfach den Schöpfungsgeschichten, dem blinden Bartimäus, dem verlorenen Schaf, dem ebenso verlorenen Sohn, dem Verletzten und dem Samariter. Über die verschiedenen Klassenstufen hinweg werden etliche Bibeltexte mehrfach behandelt. Das ist durchaus sinnvoll, weil sich die Texte auf verschiedenen Verstehensniveaus verschieden erschließen. Zugleich verstärkt dies aber die Überzeugung, die wichtigsten Bibeltexte schon einmal gehört zu haben. Und warum sollte man noch einmal lesen, was man schon kennt?

Wahrscheinlich existiert die Bibel in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler auch in Form von Zitaten und Wissensschnipseln: Der gute Hirte, das goldene Kalb, der Sündenbock und (für diejenigen, die im Unterricht besonders gut aufgepasst haben) auch noch Tohuwabohu und die Hände in Unschuld waschen. Verschiedene Bibelzitate gehören zum Weltwissen, nicht zuletzt solche, die in wichtigen und emotional aufgeladenen Situationen zu hören sind („Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück“). Sie werden deshalb auch als bedeutsam erlebt.

Konfirmationssprüche bleiben zu einem erstaunlich hohen Prozentsatz im Gedächtnis.5 „Die Hochschätzung des Denkspruchs“ stellt demnach einen Sachverhalt dar, „in dem sich die bibelorientierte Volkskirchlichkeit besonders deutlich spiegelt.“6 Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob der Rolle des Bibelzitates nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. „Bibelzitat“ soll dabei verstanden werden im Sinne des kurzen, prägnant formulierten, leicht zu behaltenden Textes, der wichtige Gedanken der biblischen Überlieferung anspricht. „Als eine Aufgabe der heutigen ‚Schriftgelehrten‘, der Theologen sowohl als auch der intensiven Leser und Leserinnen in gemeindlichen Kreisen, sehe ich es an, aus dem Schatz der Texte diejenigen herauszufinden, zusammen zu stellen und möglicherweise auch neu zu formulieren, die Menschen heute ansprechen – und dies theologisch verantwortet, möglichst wenig orakelhaft, aber offen für gegenwärtige Fragen.“7 Wenn es stimmt, dass „der Verlust der Bibelkenntnis … den Protestantismus an entscheidender Stelle schwächt“8, und wenn es weiterhin stimmt, dass selbst mehr oder weniger intensive Bibelleser und Bibelleserinnen sich „dem Dickicht dieses Buches gegenüber hilflos“ fühlen9, „dann muss dem bewussten Bibelzitat, dem kleinen Abschnitt, der sachbezogenen Sammlung abseits von dem nur innerkirchlich rezipierten Schriftenmaterial mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.“10

 

Auf Zusammenhänge achten

Und jetzt kommt das Gegenteil von dem, was ich gerade geschrieben habe. Denn die Tatsache, dass Bibelkenntnis bei Schülerinnen und Schülern vornehmlich in Form von Zitaten und Bruchstücken vorhanden ist, kann als bibeldidaktische Zielvorstellung kaum genügen.11 Wohl kann das einzelne Bibelwort eine hohe persönliche Bedeutung gewinnen. Es reicht aber nicht aus, um sich in der Bibel zurechtzufinden, um Querverbindungen und „rote Fäden“ zu erkennen. Auch wird es weder der Bibel als ganzer noch den einzelnen biblischen Schriften gerecht. Zwar verweisen viele biblische Bücher jeweils aufeinander. Dies hebt aber nicht auf, dass sie eigenständige literarische Werke sind mit jeweils eigenen Aussageabsichten.

An den Evangelien des Neuen Testaments kann man das exemplarisch erkennen. Die drei ersten vertreten eine „gemeinsame Sicht“ der Ereignisse um Jesus und werden deshalb Synoptiker genannt. Trotz großer Übereinstimmungen in Aufbau und Inhalt setzen sie jedoch je eigene und charakteristische Akzente. Für Matthäus12 ist Jesus nicht nur, aber in besonderer Weise ein Redner und Lehrer. Deshalb fasst er die überlieferten Jesusworte in fünf großen Reden zusammen (Mt 5-7.10.13.18.24-25). Und am Schluss des Evangeliums sendet der auferstandene Jesus seine Jünger in alle Welt, damit sie alle Völker zu halten lehren, was er ihnen aufgetragen hat (Mt 28,18-20). Auch für Markus spielt die Lehre Jesu eine wichtige Rolle (vgl. Mk 4,1f.). Aber er zeigt zugleich, dass Jesus als Lehrer seiner Auffassung nach nicht hinreichend beschrieben ist. In der Erzählung von der Sturmstillung (Mk 4,35-41) wird das deutlich: Die Jünger haben gerade (4,1-34) Jesus als Lehrer und Gleichniserzähler kennengelernt. Jetzt, in Seenot, klagen sie: „Lehrer13, kümmert es dich nicht, dass wir verderben?“ Am Ende des Abschnitts, als Jesus den Sturm auf wunderbare Weise beruhigt hat, fragen sie: „Wer ist dieser, dass Wind und Wellen ihm gehorchen?“ Sie fragen so, weil sie merken, dass Jesus zwar ein Lehrer ist, zugleich aber mehr als ein Lehrer. Und man kann zeigen, dass sich die Frage „Wer ist dieser?“ mit verschiedenen Antwortversuchen durch das ganze Markusevangelium hindurch zieht.14 Auch Lukas setzt eigene Akzente, beispielsweise in den Gleichnissen vom Verlorenen (Kapitel 15), bei der Zuwendung Jesu zu den Randsiedlern der Gesellschaft oder insgesamt darin, dass er seinem Evangelium ein zweites Werk, die Apostelgeschichte, folgen lässt. Schon in den ersten Versen des Evangeliums stellt er sich als Geschichtsschreiber vor (1,1-4.5 und dann 2,1f.; 3,1f.23), der die Ereignisse, „die unter uns geschehen sind“, in angemessener Ordnung darstellen will. Wenn man das Johannesevangelium liest, tritt man demgegenüber in eine andere Welt ein, die sich schon im Prolog (Joh 1,1-18) zeigt, wo das Wesen und das Kommen Jesu in die Welt in hymnischer Sprache beschrieben wird. Hier tritt Jesus als derjenige auf, den Gott gesandt hat und der in Werken, Gesprächen und Reden Gott offenbart. Dass die Wundertaten Jesu im Johannesevangelium (und nur hier) „Zeichen“ genannt werden, bringt einen wesentlichen Aspekt der theologischen Konzeption dieses Evangeliums zur Sprache: Sie weisen darauf hin, dass Jesus von Gott kommt.

Um diesen Sachverhalt und seine Tragweite noch an einem Beispiel zu verdeutlichen, wähle ich den schon genannten Schlussabschnitt des Matthäusevangeliums (Mt 28,16-20). Diese kleine Erzählung ist für das gesamte Evangelium von außerordentlicher Bedeutung. Fast jedes Wort verweist auf frühere Worte und Begebenheiten. Insofern handelt es sich um einen sehr „dichten“ Text mit vielen Querverweisen(vergl. Abb.).

Mt 28,18-20 ist als sogenannter Tauf- oder Missionsbefehl recht bekannt, zumal er häufig im Rahmen der Taufliturgie verlesen wird. Die vielfältigen Beziehungen innerhalb des Evangeliums zeigen aber, dass wesentliche Aspekte dieses Jesuswortes gar nicht in den Blick kommen, wenn es als isoliertes Zitat verwendet wird. Ich greife nur die „große Inklusion“ heraus, in der Mt 28,20 mit 1,23f. verbunden ist. Mit dem Namen Immanuel (Gott mit uns) in der Geburtsgeschichte wird sozusagen ein „Namensprogramm“ vorgestellt, das am Ende mit „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ wieder aufgegriffen wird. Beide Abschnitte verweisen aufeinander und rahmen das ganze Evangelium ein.

Der Schlussabschnitt weist auch auf die Gesamtkonzeption dieses Evangeliums im Vergleich mit den beiden anderen Synoptikern hin. Das Markusevangelium endet in 16,8 (das ist der ursprüngliche Markusschluss) mit der Auferstehung. Das Lukasevangelium fügt an die Auferstehung eine Himmelfahrtsgeschichte an, die am Beginn der Apostelgeschichte wieder aufgegriffen wird. Matthäus beendet sein Evangelium weder mit der Auferstehung noch erzählt er eine Himmelfahrt. Warum ist das so? Nach Mt 28,18-20 sollen die Jünger alle Völker lehren, was Jesus ihnen aufgetragen hat. Dabei dient das Handeln Jesu, wie Matthäus es in den Erzählungen entfaltet, und sein Reden vor allem in der Bergpredigt als Maßstab. Mit der Verheißung „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt“ schließt das Evangelium ab. Am Ende steht demnach der auferstandene Jesus mit seiner Botschaft. Es ist dieselbe Botschaft, wie sie im Evangelium niedergelegt ist. Eine Entrückung oder Himmelfahrt wird nicht erzählt und ist für Matthäus auch nicht notwendig, denn Jesus bleibt ja in seinem Wort und seinem Auftrag bei denen, die sich daran orientieren – bis ans Ende der Welt.15

 

Ein Plädoyer für die Lektüre von Ganzschriften

In der nach wie vor wirksamen Tradition einer „biblischen Geschichte“ ist es üblich, einzelne Abschnitte, sogar einzelne Verse aus den vier Evangelien ohne Rücksicht auf die jeweiligen Kontexte miteinander zu kombinieren. Die „sieben Worte Jesu am Kreuz“ sind das vielleicht bekannteste Beispiel, mit dessen Hilfe sich alle charakteristischen Eigenheiten der Passionsgeschichten in den Evangelien einebnen lassen. Dass dabei, wie einst bei Tatian16, eine Evangelienharmonie herauskommt, kann man bezweifeln. Eher wird es ein Evangelienmischmasch sein, in dem am Ende nichts zueinander passt. Manche Seiten in Religionsbüchern sehen – zumindest für Schüleraugen – dementsprechend aus; denn die Querverbindungen, die den Autoren bewusst sind, bleiben den Schülerinnen und Schülern meist verschlossen. Ich plädiere deshalb dafür, Ganzschriften im Unterricht zu behandeln.

Dafür gibt es verschiedene Gründe, vor allem einen lernpsychologischen und einen literarischen. David Ausubel, der 1960 die Theorie der sogenannten „advanced organizers“ vorstellte17, geht davon aus, dass verstehendes und Bedeutung gewinnendes Lesen immer in Kontexten geschieht und eine bestimmte Organisation des Wissens um Bedeutungen und Konzepte herum erfordert. Deshalb plädiert er dafür, den Lernenden vorab einen Überblick über die Inhalte und Ziele des Lernens zu geben. Metaphorisch gesprochen sollen die Schülerinnen und Schüler vor den Einzelheiten das große Bild sehen, auf das hin sie lernen, damit sie Themen und Inhalte zuordnen und Neues mit bereits erworbenem Wissen verknüpfen können. Im Anschluss an diese Theorie haben sich verschiedene Formen der Wissensorganisation entwickelt. Die bekannteste ist die Mindmap-Methode. Überträgt man diese Erkenntnisse auf die Organisation von biblischem Wissen, liegt auf der Hand, dass sich die Kenntnis von Details und die Fähigkeit, sie in einen größeren Rahmen einzuordnen, gegenseitig bedingen. So gesehen geht es darum, Wissensstrukturen aufzubauen, mit deren Hilfe die Komplexität der biblischen Überlieferung reduziert, ein biblisches Rahmenwissen aufgebaut werden kann und Einordnungshilfen für neue biblische Aussagen entstehen. Eine solche Struktur war beispielsweise das Konzept der Heilsgeschichte, in das man von der Schöpfung und dem Sündenfall bis zur endzeitlichen Erlösung alle biblischen Aussagen einordnen konnte. Solche „Superstrukturen“ sind uns heute eher suspekt, weil sie die Besonderheiten der einzelnen biblischen Autoren sehr stark nivellieren. Hier kommt nun das literarische Argument ins Spiel. Die Bücher der Bibel sind eigenständige Werke. Zwar sind sie im Kanon des Alten und Neuen Testaments zusammengefasst und innerhalb dieses Rahmens aufeinander bezogen.18 Gleichwohl haben sie ein jeweils eigenes literarisches Profil. Dem Spannungsbogen, den Markus von der Taufe Jesu in 1,9-11 oder dem Tötungsbeschluss seiner Gegner in 3,6 bis hin zu Kreuzigung und Auferstehung spannt, kommt man mit Einzelversen nicht auf die Spur. Einen solchen Spannungsbogen zu verfolgen hilft im Gegenteil dazu, einzelne Verse und Abschnitte einzuordnen und sie in vergleichbaren Werken wiederzuentdecken. Das gilt nicht nur für die Evangelien, sondern ebenso für prophetische Bücher im Alten Testament oder für die Urgeschichte in Gen 1-11.

Der kritischen Einwände bin ich mir durchaus bewusst. Kann man tatsächlich im Unterricht mit Ganzschriften, etwa dem Markusevangelium, arbeiten? Ist es denkbar, mit Schülerinnen und Schülern, die bisweilen schon bei kurzen Texten Konzentrations- und Verstehensschwierigkeiten haben, einen so relativ langen Text zu behandeln? Oder gar in der Grundschule, also bei Kindern, die das verstehende Lesen erst nach und nach lernen und üben? Können, wenn man ein solches Gewicht auf das Markusevangelium legt, die anderen Evangelien mit ihren wichtigen Texten, etwa die Bergpredigt bei Matthäus oder die verschiedenen Texte über die Geringen und Verachteten bei Lukas, noch zu ihrem Recht kommen? Diese Fragen sind ernst zu nehmen. In ihrem Horizont kann die Forderung nach einer Ganzschriftlektüre präzisiert werden. Ich tue das exemplarisch für das Markusevangelium.

 

Der „ganze Markus“

Den „ganzen Markus“ im Unterricht zu behandeln heißt nicht notwendigerweise, das gesamte Evangelium kursorisch zu lesen (auch wenn ich das in höheren Klassen der Sekundarstufe I durchaus für möglich halte; die Bücher, die im Fach Deutsch gelesen werden sollen, sind erheblich umfangreicher). Es heißt vielmehr, bei der Auswahl von Einzelabschnitten tendenziell das gesamte Evangelium mit zu berücksichtigen. Man kann das an verschiedenen Sinnlinien des Evangeliums gut zeigen.

Wer bei der Sturmstillung in 4,35-41 auf die Frage nach Jesus stößt (V. 41), wird aufmerksam auf ähnliche Fragen an anderen Stellen. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze Evangelium hindurch (1,21-28; 4,35-41; 6,1-6; 8,27-33.34-91; 9,2-13; 10,46-52; 14,61f.; 15,39). Ich bin überzeugt davon, dass die Frage „Wer ist Jesus?“ für Markus eine leitende Fragestellung beim Verfassen seines Evangeliums war.

Wer den „blinden Bartimäus“ (10,46-52) behandelt, wird entdecken, dass am Anfang und am Ende dieser Erzählung „der Weg“ vorkommt. Am Anfang sitzt Bartimäus am Weg, am Ende folgt er Jesus auf dem Weg. Darauf aufmerksam geworden kann man nach anderen „Weg-Stellen“ bei Markus suchen – und wird sie vor allem zwischen 8,27 und 10,52 finden. In diesem Mittelteil ist Jesus nicht nur mit seinen Jüngern auf dem Weg von Galiläa nach Jerusalem; auf diesem Weg werden Fragen behandelt, die auch für „den Weg“ der Christen zur Zeit des Markus von Bedeutung waren (z.B. die Fragen nach Ehe, Besitz und dem Umgang mit Kindern in Kapitel 10). Außerdem kann man von Bartimäus aus noch andere Erzählungen entdecken, in denen religiös, gesundheitlich oder altersmäßig Benachteiligte von Jesus angesprochen werden (etwa 7,24-30 oder 10,13-16). Von den Reich-Gottes-Gleichnissen in Kapitel 4 ergeben sich Querverbindungen sowohl zu der umfassenden Überschrift in 1,14f.19 als auch zu der Reaktion der Menge auf Jesu Wunder in 7,37 oder zu Kapitel 13. Solche Verbindungen entdecken zu können setzt voraus, dass das Markusevangelium in einer Bibelausgabe gelesen wird, nicht nur in kleinen Portionen im Religionsbuch oder auf kopierten Arbeitsblättern. Es setzt ebenso ein genaues und langsames Lesen voraus, das auch auf unscheinbare Textsignale achtet. Dass ein solches Lesen geübt werden muss, versteht sich angesichts heutiger Rezeptionsbedingungen von selbst; weil es aber Entdeckungen verspricht, sollte es auch geübt werden. Ich halte es jedenfalls für sinnvoller, an einem Textzusammenhang eigene Entdeckungen machen zu können als bei vielen kleinen Einzeltexten den Überblick zu verlieren. Wer es mit dem „ganzen Markus“ zu tun haben will, wird sich deshalb an Texten orientieren, in denen die Intentionen des Erzählers Markus besonders deutlich zum Vorschein kommen. Dies sind beispielsweise die Abschnitte, die die Frage nach Jesus ausdrücklich thematisieren (besonders 4,35-41; 8,27-30), aber auch die Gleichnisse (4,1-34), bestimmte Wundererzählungen (auf jeden Fall 10,46-52), Abschnitte aus der Passionsgeschichte (Kapitel 14f, dazu kommen verschiedene Hinweise auf das Leiden Jesu schon ab 2,7 und 3,6) und schließlich auch die Auferstehungsgeschichte in 16,1-8. Es handelt sich zum Teil um sehr geläufige und häufig behandelte Markusperikopen, in jedem Fall aber um Passagen, an denen die Aussageabsichten des ganzen Evangeliums exemplarisch hervortreten. Man kann die Lektüre dieser Abschnitte als in sich abgerundete, kleine Einheiten konzipieren; sie verweisen aber aufeinander und können deshalb auch als Gesamtentwurf Verwendung finden, der dann einen bereits recht umfassenden Überblick über das ganze Markusevangelium ermöglicht. Wenn das Markusevangelium als Ganzes gelesen wird, empfiehlt es sich, diese Abschnitte vertieft, zum Beispiel in Stationsarbeit, zu behandeln.

Schließlich beinhaltet die Forderung, den „ganzen Markus“ im Unterricht zu behandeln, auch einen möglichst großen Verzicht auf eine oft unbedachte Harmonisierung der Evangelien. Die Episode von der Sturmstillung ist hierfür ein Paradebeispiel. In vielen Religionsbüchern wird sie in der Markusfassung (Mk 4,35-41) abgedruckt oder nacherzählt. Im Anschluss daran wird aber nach Matthäus (8,22-27) interpretiert, häufig in Verbindung mit dem bekannten Lied „Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt“. Sieht man genauer hin, lässt sich leicht feststellen, dass Matthäus diese Geschichte tatsächlich auf die Frage der Jüngerschaft hin auslegt; insofern wäre das Lied für die Matthäus durchaus angemessen. Nicht angemessen ist es aber bei Markus, denn er hat die Erzählung ganz auf die Christologie hin konzentriert. Unabhängig davon sind natürlich Textvergleiche mit den parallelen Matthäus- und Lukastexten durchaus sinnvoll. Aber der synoptische Vergleich dient ja nicht dazu, die Eigenheiten bestimmter Textes zu verwischen, sondern versucht gerade, sie wahrzunehmen. Wenn also Markusperikopen ausgewählt werden, sind sie nach ihrer eigenen Intention auszulegen und nicht im Sinne einer unreflektierten Evangelienharmonie.

 

Das Eine tun, aber vor allem das Andere nicht lassen

Das Lob der Zitate und das Plädoyer für die Lektüre von Ganzschriften – passt das zusammen? Ich denke schon, und zwar vor allem dann, wenn man nicht von dem Einen erwartet, was das Andere besser kann. Bibelsprüche und Zitate haben punktuellen Charakter. Sie können bestimmte Situationen beleuchten, Erfahrungen prägnant zusammenfassen, Wünsche und Hoffnungen in einer Weise zum Ausdruck bringen, die mit eigenen Worten oft nicht möglich ist. Sie sind zudem leicht fasslich, begegnen einem immer wieder einmal und haben deshalb hohen Wiedererkennungswert. Es ist gut einen kleinen Schatz an Bibelzitaten zu haben. Warum sollte man nicht ein kleines Buch mit wichtigen Versen aus der Bibel zusammenstellen, als Einzelarbeit oder auch als „gesammeltes Werk“ der Klasse? Oder versuchen, Bibelzitate bestimmten Situationen zuzuordnen (Trauer, Freude, Verliebtsein, Leiden, Leistung, Niederlage usw.). Es kann sehr sinnvoll sein, bei der Behandlung biblischer Texte danach zu fragen, welcher Vers davon behalten werden soll.

Was man von Zitaten aber nicht erwarten sollte, ist, dass sie Zusammenhänge sichtbar machen, einen großen Bogen verdeutlichen oder die Bibel als Buch erschließen. Dazu sind größere Texteinheiten notwendig, bis hin zu Ganzschriften. Sie zu erschließen macht mehr Mühe, bietet aber die Chance, Verknüpfungen zu erkennen, einen Spannungsbogen nachzuempfinden und sich mit einem biblischen Buch auf Entdeckungsreise zu machen. Ich denke, dass man damit auch der Bibel als Buch gerechter wird als durch ein portioniertes Lesen.

 

Anmerkungen

  1. Härle, Wilfried: Dogmatik, Berlin/New York 2000, S. 28.
  2. So Heinz Bonfadelli, http://www.lch.ch/bildungschweiz/pdfs/ 2005/artikel/11/Lesen_14.pdf, am 10.3.06.
  3. http://www.tagesschau.de/aktuell/meldungen/0,1185,OID4630094 _REF1,00.html am 1.3.2006.
  4. Klie, Thomas: Religion zu lernen geben: Das Wort in Form bringen, in: Loccumer Pelikan 3/2006, S. 103-109, hier S. 105.
  5. Daiber, Karl-Fritz / Lukatis, Ingrid: Bibelfrömmigkeit als Gestalt gelebter Religion (Texte und Arbeiten zur Bibel 6), Bielefeld 1991, S. 94ff.
  6. Daiber / Lukatis: Bibelfrömmigkeit, S. 195.
  7. Müller, Peter: „Verstehst du auch, was du liest?“ Lesen und Verstehen im Neuen Testament, Darmstadt 1994, S. 153.
  8. Honecker, Martin: Kirche ohne Protestanten? Evangelisch in der Zivilgesellschaft, in: Evangelische Kommentare 26/1993, S.479-483, hier, S. 481f.
  9. Ebeling, Gerhard: Wiederentdeckung der Bibel in der Reformation – Verlust der Bibel heute?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Beiheft 5/1981, S. 1-19, hier S. 7.
  10. Müller: Verstehst du auch …, S. 154.
  11. Zu diesen Zielvorstellungen und zu den Wegen, auf denen sie erreicht werden können, verweise ich auf meine Bibeldidaktik, die voraussichtlich im Jahr 2009 erscheinen wird.
  12. Die Evangelien sind ursprünglich anonym überliefert. Der Einfachheit halber bezeichne ich sie aber mit den herkömmlichen Verfassernamen.
  13. In manchen Bibelübersetzungen steht hier „Meister“. Das ist aber eine eindeutig falsche Übersetzung. Im griechischen Text sprechen die Jünger Jesus tatsächlich als Lehrer an.
  14. In den Büchern „Wer ist dieser? Jesus im Markusevangelium“ (BthSt 27), Neukirchen-Vluyn 1995, und „Mit Markus erzählen. Das Markusevangelium im Religionsunterricht“, Stuttgart 1999, habe ich dies zu zeigen versucht.
  15. In dem Band „Matthäus. Lesen und Deuten. Kopiervorlagen für den Religionsunterricht ab Klasse 10“, Göttingen 2008, habe ich einen Durchgang durch das Matthäusevangelium vorgelegt.
  16. Tatian war ein christlicher Apologet im 2. Jahrhundert. Sein bekanntestes Werk ist das „Diatessaron“, eine Evangelienharmonie (entstanden um 170), die sich am Aufbau des Johannesevangeliums orientiert und aus den Synoptikern alles einfügt, was Johannes nicht kennt.
  17. Ausubel, David P.: The use of advance organizers in the learning and retention of meaningful verbal material, in: Journal of Educational Psychology 51/1960, S. 267-272.
  18. n den verschiedenen Konzepten einer Biblischen Theologie geht es darum, die einzelnen Schriften als Teil eines gemeinsamen Kanons zu verstehen. Dies hebt die Eigenständigkeit der Einzelschriften aber nicht auf.
  19. In 1,15 ist die Predigt Jesu in einem Satz zusammengefasst: „Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nah herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ Was es mit dem Reich Gottes auf sich hat, wird dann in den Gleichnissen in Kapitel 4 ausgeführt.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2008

PDF