Von Lüchow nach Wolfsburg - Eine kirchenpädagogische Exkursion mit Konfirmandinnen und Konfirmanden

von Volker Dobers

 

Im Rahmen ihrer Konfirmandenzeit wollte ich Lüchower Konfirmandinnen und Konfirmanden ermöglichen, “moderne” evangelische Kirchen in erreichbarer Nähe kennen zu lernen. Wolfsburger Kirchen stehen exemplarisch für das Spektrum des evangelischen Kirchenbaus nach 1945. Die Verbindung von Lüchow nach Wolfburg war durch das Wirken der Architekten Langmaack gegeben.1 Von der ersten zu einer der letzten Bauaufgaben der Langmaacks in Niedersachsen führte die Spur. Das jüngste Kirchenprojekt dieses Hamburger Architekturbüros im Bereich der Hannoverschen Landeskirche stellte die Renovierung und Umgestaltung der St.-Johannis-Kirche in Lüchow unter Federführung von Dieter Langmaack dar. Der erste evangelische Kirchenneubau überhaupt nach dem Kriege in der Hannoverschen Landeskirche – die Christuskirche in Wolfsburg – entstand nach Plänen von Gerhard Langmaack. Eine interessante Facette bedeutete darüber hinaus, dass mit der Pauluskirche eine weitere Kirche aus dem Büro Langmaack in Wolfsburg zu finden ist.

Zusätzliche Beweggründe traten hinzu: Die beiden einzigen Kirchen des finnischen Architekten Alvar Aalto in Deutschland befinden sich in Wolfburg.2 Schließlich hat der Bildhauer Stephan Balkenhol im jüngsten Kirchenbau Wolfsburgs den Altarraum gestaltet.



Der Ausgangspunkt: St.-Johannis-Kirche Lüchow (Raum-Umgestaltung 1993)
Architekt Dieter Langmaack in Verbindung mit Bildhauer Karl Imfeld

Die meisten meiner Konfirmandinnen und Konfirmanden kannten lediglich die ihnen vertraute St.-Johannis-Kirche, ein 1298 erstmals erwähntes Gotteshaus, das 1866 durch Conrad-Wilhelm Hase im neugotischen Stil einschneidend verändert worden ist. Die jüngste Neuordnung des Innenraums, mit der Dieter Langmaack beauftragt worden war, brachte ein neues liturgisches Zentrum mit den durch den Schweizer Bildhauer Karl Imfeld geschaffenen Stücken Tauf­beckenschale, Osterkreuz, Ambo und “Tisch des Herrn”.3 Das Zusammenspiel der verschiedenen Epochen, die Erfahrung von Alt und Neu im Dialog, von Tradition und Gegenwart, konnte als motivierende Voraussetzung genutzt werden, um sich von Lüchow aus nach Wolfsburg auf den Weg zu machen.

Im Vorfeld der geplanten Exkursion hatten sich die Konfirmandinnen und Konfirmanden im Rahmen einer Unterrichtsstunde im Unterrichtsraum zu acht Fragen zum Bereich Kirchenbau zu äußern, die nach und nach diktiert und dann jeweils un­mittelbar darauf schriftlich beantwortet wurden.4 Interessant zu beobachten war, dass bei einer der Fragestellungen, in der es um eine Ideenskizze für einen Kirchen­entwurf ging, nahezu alle Beteiligten fraglos Formelemente der vertrauten “Heimatkirche” aufnahmen.

Im Anschluss an die Beantwortung der Fragen und die Präsentation der entstandenen Entwürfe wurde ein Arbeitsblatt ausgegeben, das neben dem Grundriss der den Konfirmandinnen und Konfirmanden vertrauten Kirche die Grundrisse der vier ausgewählten Wolfsburger Kirchen zeigte.5 Wir haben die Grundrissformen spontan ohne eine anschließende Auswertung verglichen,6 haben den Namen der Kirche jeweils hinzugesetzt und am Beispiel der Pauluskirche wichtige Prinzipalstücke und die Orgel zuzuordnen versucht und entsprechend beschriftet.


St. Johannis-Kirche Lüchow
aus: Kunst und kirche 1/94 (“Orte de rLiturgie”), Darmstadt 1994, S. 53



Ziele der Reise

  • Die Konfirmandinnen und Konfirmanden sollen fünf verschiedene Kirchenräume auf sich wirken lassen. Dabei ist der Raumeindruck im Vergleich von zentraler Bedeutung, nicht eine detaillierte Erschließung jeder der fünf Kirchen.7
  • Die Konfirmandinnen und Konfirmanden sollen anfangs “rein gefühlsmäßig” und intuitiv Charakter, Ausstrahlung, Stimmungswert und Kraftfelder der jeweiligen Kirche erfassen.
  •  Die Beteiligten sollen spüren, dass es so etwas gibt wie ein tiefes Zutrauen zur ausdrucksstarken “Sprache” der jeweiligen Kirche. Jede Kirche erzählt von sich, symbolisiert in Form und Anlage Aspekte von Gottesbildern.
  • Den Konfirmandinnen und Konfirmanden soll in der Begegnung mit fünf unterschiedlichen Kirchen ein Freiraum für eigene Eindrücke ermöglicht werden. Diese Eindrücke sollen als solche respektiert und geschützt werden ohne unmittelbare Notwendigkeit einer anschließenden Versprachlichung, d.h. ohne drohende Instrumentalisierung der Eindrücke (“Verwendungszweck”).
  • Einzelne liturgische Elemente sollen Teil der Begegnung mit den Kirchen sein.




Christuskirche (1951)
Architekt Gerhard Langmaack


Wir gehen von Westen her auf die Kirche zu. Erste Eindrücke stellen sich ein: Das Bruchsteinmauerwerk fällt ins Auge, der Giebel über dem Eingang auf der Schmalseite der Kirche wird durch eine Christusfigur in der Haltung des Auferstandenen bestimmt. Mit ausgebreiteten Armen empfängt dieser Christus uns als Ankommende. Die Haltung der Arme nimmt die Neigung des Kirchendachs auf. Die Grundform der Kirche wird in Umrissen erkennbar. Der nebenstehende, schlanke Kirchturm weist erhaben nach oben. Wir umgehen die Christuskirche, bemerken die vergleichsweise kleinen Fenster im oberen Drittel des Baukörpers. Im Südosten verhindert das angrenzende Gebäude des Kindergartens (1975/76) unseren weiteren Umgang. Wir kehren um. Äußere Proportionen, Materialwirkung, “Charakter” des Gebäudes prägen sich ein. Wir steigen die Stufen zum Eingang hinauf. Wir entdecken den mit einer Christusfigur gestalteten Türgriff der Kirche.8

Die “Schwellensituation” vom Außenraum hin zum Innenraum wird mit der Frage aufgenommen: “Was erwartet uns jetzt wohl? Was meint ihr?” Wir verabreden, zunächst im Vorraum innezuhalten. Angesichts der vergleichsweise kleinen Fenster der Längsseiten empfängt uns im Innern ein erstaunlich helles Licht, das vom Feierraum der Kirche schon in unseren durch einen Glaseinbau abgetrennten Vorraum fällt.

Unsere kleine Gruppe formiert sich, um bewusst in die Kirche einzuziehen. Wir zünden eine Kerze an und wagen eine kleine Prozession mit einem Element der Osternachtliturgie: Mit dem im Vorfeld vertraut gemachten Wechselgesang “Christus, Licht der Welt! Gott sei ewig Dank!” ziehen wir in die Kirche ein: Es wird eine langsam schreitende Bewegung auf das zentrale, große farbige Glasfenster am anderen Ende der Kirche zu. Was für ein Weg! Und was für ein Klang unseres “Chores” in dieser Kirche! Am Taufbecken, in der “Vierung”, endet unser kleiner Wandelgang. Wie weit erscheint der Altar immer noch entfernt! Um einige Stufen erhöht, steht er wie auf einer Bühne da. Vom großen Ostfenster fällt Licht auf den Altar.

Uns begegnet vom Raummuster her ein längsgerichteter Raum, eine klar strukturierte Hallenkirche mit deutlichen Anklängen an die Basilika. Zwölf achteckige schlanke “Pilzkopf”-Säulen tragen die ebene Decke und teilen die Kirche in ein großes Mittelschiff und zwei schlanke Seitenschiffe.9 Im “Querhaus”, das aus der Hallenkirche eine Basilika werden lässt, finden sich auf der einen Seite die Orgel und Raum für einen Chor, auf der anderen Seite Platz für weitere Mitwirkende im Gottesdienst.

Die Christuskirche: eine Prozessionskirche, ein Richtungsraum, ein Weg ins Licht, ein Weg auf den zu, dessen Namen die Kirche trägt.10 Es bietet sich an, nun die Kerze auf den Altartisch zu stellen und angesichts des bestimmenden farbigen Fensters11 die in den Bibeln der Konfir­mandinnen und Konfirmanden fettgedruckten Passagen aus Offb. 1, 8.17-18 zu lesen.

Nach einer Phase der selbstbestimmten Erkundung des Raumes (“Geh hin, wohin es Dich zieht!”) wird das Arbeitsblatt “Kirchenbau-Konzeptionen im Vergleich” ausgegeben, dem eine Schlüsselfunktion im Verlauf der Exkursion zukommt.12 Mit Hilfe dieses Arbeitsblattes (M 1) werden die Raum-Eindrücke von vier der fünf Kirchen schriftlich festgehalten und kommunizierbar.


Christuskirche Wolfsburg
aus: Langmaack, Gerhard: Evangelischer Kirchenbau im 19. und 20. Jahrhundert, Kassel 1971, S. 345



Pauluskirche (1960)
Architekten Gerhard und Dieter Langmaack

Knapp zehn Jahre liegen zwischen den Planungen für die Christus- und die Pauluskirche aus demselben Architektur­büro. Wieder begegnen die Fenster des Kirchenkorpus vor allem im oberen Teil der Längsseiten, wappenähnlich in der Formgebung. Erneut zeigt sich ein imposanter Kirchturm. Doch während sich bei der Christuskirche von “Bühnenarchitektur” sprechen ließe, zeigt sich die Pauluskirche als “Bewegungsarchitektur”.13 Die Außenwände der jüngeren Kirche initiieren Schwingung.14 Wir versuchen, die Formensprache der Kirche körperlich umzusetzen. Doch die Konfirmandinnen und Konfirmanden sind gehemmt. Eine schwingende Bewegung mit ihrem eigenen Körper auf­zugrei­fen und zum Ausdruck zu bringen, kommt ihnen dann doch albern vor. Wir umrunden die Kirche, was hier, anders als bei Wolfsburg-Christus, ohne weiteres möglich ist.

Weiche Formen begegnen uns im Innern: eine ge­schwungene Empore, ein “Taufrund”, auch Decke und Altarwand sind “bewegt”. Die Konfirmandinnen und Konfirmanden haben die Aufgabe, gemeinsam mit Hilfe eines langen Seils den Grundriss der Kirche nachzuempfinden und “auszulegen”. In relativ kurzer Zeit lösen sie diese Aufgabe, übersehen aber, dass die Altarwand ebenfalls und in diesem Fall nach innen einschwingt. Nach der “vorliegenden” Form gefragt, fällt bald das Stichwort “Herz”, das über Jahrzehnte hindurch eine durchgängige Metapher in der Formensprache der Langmaacks bleiben sollte.15

Die Gemeinde ist “nah dran” in dieser Kirche: Nah dran am andern und am Geschehen um den Altar herum. Licht fällt auf die Taufe und die Gemeinde. Die Gemeinde steht wie die Prinzipalstücke “im Licht”. Nicht nur der Liturg handelt am Altar, die Gemeinde selbst “spielt mit”! Für diese Kirche steht die Gemeinde als Bau-Leitbild.

Hier kann einem “warm ums Herz” werden. Eine sinnen-hafte, sinnen-volle Architektur begegnet.16 Kontraproduktiv wirkt allein die massive, später hinzugekommene gut 40 Quadratmeter große Textilarbeit mit einem Sensenmotiv aus der Offenbarung des Johannes.17 Manche der Konfirmandinnen und Konfirmanden irritiert die “Botschaft” der Arbeit, andere übergehen dieses den Raum bestimmende Element.

Ein Gespräch über die Raumwirkung anhand des am Ende ausgefüllten Arbeitsblattes “Kirchenbaukonzeptionen im Vergleich” macht deutlich, wie die klare Sprache einer Architektur durch ein nachträglich hinzugekommenes Element verunklart wird und Irritationen auslöst. Wo ur­sprünglich Wort, Sakrament, Musik und Gemeinde eng beieinander waren, bringt das “Altarbild” eine Art längsachsialer Ausrichtung. Der Christus mitten unter uns – das gegenwärtige Geschehen – wird zum wiederkommenden Herrn – zukünftiges Geschehen –, zum apokalyptischen Sensenmann.

Allerdings: Im Vorraum der Kirche finden sich je eine Glasarbeit mit der Gestalt des Mose die Zehn Gebote haltend und Johannes der Täufer18, was die Frage offen hält, ob nicht doch auch ein Wegemotiv (einst/Verheißungen – gegenwärtig im Mahl – zukünftig wiederkommender Herr) von vornherein intendiert war.19


Pauluskirche Wolfsburg
Quelle: Bartels, Olaf: Die Architekten Langmaack, Planen und Bauen in 75 Jahren, Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Hamburg 1998., S. 68



Kreuzkirche (1957)
Architekt Gustav Gsaenger

Nach den beiden “Langmaack-Kirchen” und einer Mittagspause in der Stadt suchen wir die Kreuzkirche auf. Wie eine Burganlage wirkt das Ensemble von Kirche, Gemeindehaus und Pfarrwohnung. Das Dach der Kirche ist tief heruntergezogen und erscheint mit seinen runden Ausläufern von der Formgebung wie Reet gedeckt. Uns empfängt der dortige Pastor: Ein neues Gesicht, eine andere Stimme, jemand, der “leibhaftig” für die Kreuzkirche steht. Nachdem im Innenraum Zeit ist, Gedanken und Empfindungen auf dem Arbeitsblatt zu notieren, erleben wir miteinander die Akustik durch ein gemeinsam gesungenes Lied. Die Kirche zeigt eine verwirrende Vielfalt in den Materialien, der Raumführung und den zahlreichen “Sehangeboten”. Farbige Glasfenster lassen spärliches Licht in den Raum. Das großflächige Altarmosaik20 zeigt das “Himmlische Jerusalem”. Im Gespräch stellen wir bei aller Unterschiedlichkeit der Räume eine Linie der Altarwand-Motive von der Christus- über die Paulus- hin zur Kreuzkirche fest: Alle Arbeiten nehmen auf Bibelstellen aus dem letzten Buch der Bibel Bezug, wählen im einen Fall Glas, im anderen Textil und im dritten den Mosaikstein als Material. Immer wird erzählt, dass noch etwas aussteht, dass Gottes Reich noch nicht vollends aufgerichtet ist, dass wir Christus einst sehen werden, wie er ist (1Joh. 3,2).

Unser Gastgeber sagt: “In der Kirche findet ihr den Grundstein, der beim Bau der Kirche als erster gesetzt worden ist. Er verrät euch das Alter unserer Kreuzkirche.” Nach eingehender Suche entdecken die Jugendlichen nach und nach den Grundstein an der rückwärtigen Sockelseite des Altars: “1955” ist zu entziffern. Wir hören, dass die Kirche nach zweijähriger Bauzeit am Reformationstag 1957 eingeweiht worden ist.

“Kirche als Bauwerk ist ummauerte Zufluchtstätte aus dem täglichen Einerlei menschlichen Daseins”21, so hatte der Architekt 1951 im Rahmen eines Vortrags gesagt. Und hatte gemeint, sie sei “eine Stätte der Weihe und der Andacht und verlangt deshalb eine gewisse Raumstimmung” und forderte eine “sakrale Wirkung”22. Die Auswertung der Äußerungen der Konfirmandinnen und Konfirmanden zeigen am Ende ein ambivalentes Bild: dunkel, gleichzeitig geborgen – das Stichwort “Gewölbe” fällt –, “ummauert”, aber auch eingeschlossen. Die Säulen des Raumes werden, anders als in der Christuskirche, teilweise als “störend” empfunden, da sie den Blick verstellten.

Inwieweit bei der Planung der Kreuzkirche die “Liturgie als Bauherrin”23 – anders als z.B. in der Christuskirche – eine Rolle gespielt hat, darüber gibt der Kirchenraum nicht eindeutig Aufschluss.24


Kreuzkirche Wolfsburg
aus: Amt für Bau- und Kunstpflege, Celle



Heilig-Geist-Kirche (1962)
Architekt Alvar Aalto

Wie bei den beiden ersten Kirchen, so wählen wir als Annäherung an die außen weiß geschlämmte Kirche einen “Umgang”. Von außen nach innen soll uns der Weg führen. Auch zu dieser Kirche gehört ein markanter Turm, der wie eine Stimmgabel in den Himmel ragt25. Als sei die Kirche aus der Erde erwachsen, so erhebt sie sich und nimmt die Bewegung des topografischen Umfeldes des Klieversbergs auf, wird zu einem Teil der sie umgebenden Landschaft.

Es ist für die Konfirmandinnen und Konfirmanden nicht ganz leicht, die Eingangstür der Kirche zu entdecken, so un­scheinbar wie sie “daherkommt”. Im drei mal vier Meter kleinen Zugangsraum, in dem Gesangbücher und Gästebuch ihren Platz finden, sammeln wir uns, stellen uns einander je zu viert gegenüber und lesen, wie die Jugendlichen das zuhause als Teil des unterrichtlichen Eingangsrituals kennen, einen Psalm. Psalm 84 findet sich in den in unmittelbarer Nähe ausliegenden Gesangbüchern. Im “Vorhof” der Kirche sprechen wir den Text von den “Wohnungen Gottes”, von “Altären”, von der “Tür in Gottes Haus” und davon, dass Gott “Sonne und Schild” ist: ein bewusst im “Windfang-Eingangstunnel” der Kirche gewähltes Ritual, ein retardierendes Element “auf der Schwelle”, um nach den drei vorangegangenen Kirchenbesuchen nicht blindlings in die nächste Kirche zu stürzen und um gleichzeitig angesichts einer weiteren Kirche im Vorfeld so etwas wie einen geistlichen Raum zu eröffnen, ein vertrautes spirituelles Element zu nutzen.

Wir behalten die Gesangbücher und treten in den eigentlichen Kirchenraum ein. Ein lichtdurchfluteter, weiter Raum tut sich auf. Was für ein Gegensatz zur beengten Eingangssituation oder auch zur zuvor aufgesuchten “schummrig” anmutenden Kreuzkirche! Der Hauptgang läuft weder auf den Altar noch auf die Kanzel zu. Wort und Sakrament erscheinen gleichwertig. Einzelne aus der Gruppe lesen von verschiedenen Stellen des Kirchen­raumes aus eine Passage des erwähnten Psalms. “Denn Gott der Herr ist Sonne und Schild; der Herr gibt Gnade und Ehre”, so erklingt es auf Höhe der Bankreihen, vom Altar her, von der Kanzel, aus der Taufecke. Überall erleben wir eine gute Sicht- und Hörbarkeit der Beteiligten. Wir treffen uns an den Altarstufen und singen miteinander von dem Lied “Du höchstes Licht, du ew’ger Schein” zwei Strophen (Evangelisches Gesangbuch 441, Str. 1+3).

Der klare, helle, fächerförmig sich weitende Kirchenraum zeigt sich antisentimental26 und wirkt von der Lichtführung und vom ganzen “Auftritt” her nicht künstlich inszeniert. Profan und heilig sind nicht dualistisch wie noch in Gsaengers Kreuzkirche verstanden. In seinen Proportionen weist der Raum in Richtung Westen über sich hinaus in Welt und Schöpfung und zum Gesamtensemble Gemeindehaus, (Pfarr-) Wohnung und Kindergarten.27

Wir versuchen, die Bewegung der Decke im Innern aufzunehmen und zu deuten. Wir vollziehen diese Bewegung körperlich nach und entdecken, dass Aalto offensichtlich mit der Gebärde eines Segensgestus arbeitet, der Sammlung wie Sendung gleichermaßen “verkörpert”.28

Am Ende ist Zeit für Eintragungen ins schon genannte Arbeitsblatt und ins Gästebuch der Kirche.


Heilig-Geist-Kirche Wolfsburg
aus: Alvar Aalto, Bd. 2 des Gesamtwerks, 1963-1970, Basel/Boston/Berlin 31995, S. 158



Abschluss

Zum Abschluss des Konfirmandentages in Wolfsburg nehmen wir uns außerhalb der Kirche Zeit, nennen einander im Rückblick unsere “Lieblingskirche” und erläutern dies kurz.29 Am Ende scheinen die erwähnten Ziele der Reise in der Begegnung mit den Kirchen eingelöst, vor allem als Ver- oder Anmutungen. Als Spagat habe ich das Respektieren des je eigenen Eindrucks der jeweiligen Kirche ohne “Verbalisierungsdruck” auf der einen und die Chance eines gemeinsamen – nun eben auch verbalen – Austauschs auf der anderen Seite empfunden.
 

 

M 1

Das Arbeitsblatt lädt die Konfirmandinnen und Konfirmanden ein, ihre Eindrücke einer Kirche oder verschiedener Kirchen im Vergleich anhand der folgenden Fragen zu beschreiben:

  • Der Kirchenraum wirkt …
  • Der Architekt hat sich die Kirche vorgestellt als …
  • Mein Gesamteindruck ist …
  • Die Gemeinde soll sich in dieser Kirche …
  • Welche geometrischen Figuren zeigt der Grundriss dieser Kirche?
  • Raumschwerpunkt ist …
  • Wirkt diese Kirche eher offen oder geschlossen?
  • Welche Eigenart Gottes zeigt sich in dieser Kirche in besonderer Weise?
  • Kommst du dir eher groß oder klein vor in dieser Kirche?
  • Welche Kleidung sollte in dieser Kirche getragen werden?
  • Sind die Wege in dieser Kirche lang oder kurz?
  • Das Auffälligste ist …
  • Wohin fällt das Licht?
  • Wozu lädt die Kirche ein?

 

 Anmerkungen

  1. Bartels, Olaf: Die Architekten Langmaack. Planen und Bauen in 75 Jahren, Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Hamburg 1998.
  2. Brülls, Holger: Alvar Aaltos Kirchen. Schriftenreihe der Stadtbild- und Denkmalpflege Wolfsburg, Nr.3, Braunschweig 1999.
  3. Dobers, Volker / Langmaack, Dieter: Raum-Umgestaltung. Ein Fallbeispiel für das Gemeinde- und Gottesdienstverständnis, in: kunst und kirche 1/1994, S. 52ff.
  4. Die Fragen greifen teilweise zurück auf Anregungen in Erika Grünewalds Artikel “Kirchenpädagogik in der ‚Kirche um die Ecke‘”, in: Kirchenpädagogik 2/2003, S. 6ff.

    Wenn du die Augen schließt und an das Wort “Kirche” denkst, was erwartest du zu sehen?

    Du hast die Chance bekommen, als Architektin oder als Architekt eine Kirche zu entwerfen. Zeichne einen Entwurf (Grundriss) mit den nötigen Ausstattungsstücken auf einem gesonderten Blatt Papier!

    Welches ist für dich der stärkste optische Orientierungspunkt in einer Kirche?

    Welche Sitzform entspricht deiner Vorstellung vom Gottesdienst? Beschreibe oder skizziere diese Sitzform! (Diese Frage wirkte für manche aufstörend: Sie begannen, ihre Grundrisszeichnung zu modifizieren.)

    Gibt es möglicherweise eine oder mehrere Farben, die du mit Kirche, Gemeinde, Gottesdienst verbindest und die dein Gefühl oder deine Stimmung dafür treffen?

    Setze den Satz fort: Ein Kirchenraum wirkt auf mich wie …

    Welche sichtbaren Baumaterialien sollten deiner Meinung nach einen Gottesdienstraum bestimmen?

    Wenn du einen Gast durch unsere Lüchower St.-Johannis-Kirche zu führen hättest, der sie noch nie von innen gesehen hätte, worauf würdest du ihn hinweisen?
     
  5. Vgl. zur Grundrissentwicklung grundsätzlich: Kahle, Barbara: Deutsche Kirchenbaukunst des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1990, S. 87ff., und Andreas Schenk: Kirchenbau als Teilnahme. Liturgische Reform und Grundrissentwicklung, in: kunst und kirche 4/98, S. 222ff.
  6. St. Johannis: Rechteck mit Apsis-Rund; Christus: T-Form, Kreuzform; Paulus: Kelch, Herz; Kreuz: Oval; Heilig-Geist: Trapez.
  7. Eine detaillierte Erschließung wäre eine Projektwoche z.B. mit älteren Jugendlichen oder Schülerinnen und Schülern wert (etwa auch mit der Aufgabe der Informationsbeschaffung zu Leben, Werk und Anliegen der beteiligten Architekten bzw. Künstlerinnen und Künstler und Zugang zu den Archiven der einzelnen Gemeinden).
  8.  Hier böte sich unter Umständen auch der Einsatz von Metallprägefolie an, um den Übergang in die Kirche bewusster als “Eintritt” zu gestalten.
  9. Ähnliche Stahlbetonpfeiler mit ebener Decke schafft Gerhard Langmaack zeitgleich auch für die St. Nikolaikirche in Kiel, dokumentiert in: Langmaack, Gerhard: Evangelischer Kirchenbau im 19. und 20. Jahrhundert, Kassel 1971, S. 71.
  10. Nach den bitteren Erfahrungen von Krieg und Verblendung in der 1938 gegründeten “Stadt des KdF-Wagens”, in deren unmittelbarer Nähe vor 1945 lediglich die St.-Annen-Kirche (um 1250) und die St.-Marien-Kirche (ursprünglich 1434) existierten, lässt sich dies als Ausdruck der Sehnsucht nach klarer Orientierung verstehen. Vom 31. März 1940 datiert ein “Führerbefehl”, der neue Kirchen verbietet (vgl. Städke, Herbert: Die Geschichte des Laagbergs. Von den Anfängen bis zur Einweihung der Paulus-Kirche, in: 30 Jahre Paulus-Gemeinde Wolfsburg 1960-1990, ohne Seitenangabe).
  11. Der Entwurf des Fensters stammt von Johanna Schütz-Wolff. Auch an der Fertigung des Fensters ist sie maßgeblich beteiligt (vgl. Schneider, Katja: Johanna Schütz-Wolff. Textil und Grafik zum 100. Geburtstag, Halle 1996, S. 10). Ursprünglich war das Fenster nicht farbig gefasst (vgl. dazu 50 Jahre Evangelisch-lutherische Christus-Kirchengemeinde in Wolfsburg. Festschrift, 2001, S. 3). In der Beschäftigung mit dem Werk der Künstlerin könnte ein Schwerpunkt einer intensiveren Beschäftigung mit dem Kirchenraum oder eines gesonderten Zugangs über die Werke von Schütz-Wolff in der Christus- und der Pauluskirche liegen.
  12. Die Konfirmandinnen und Konfirmanden sind auf diesem Arbeitsblatt eingeladen, ihre Eindrücke schriftlich zu fixieren. Für eine Exkursion zu anderen Kirchen wäre eine vergleichbare Zusam­menstellung zu erstellen.
  13. Volp, Rainer: Gerhard Langmaacks Vision vom Hause Gottes, in: Bartels, Olaf: Die Architekten Langmaack. Planen und Bauen in 75 Jahren, Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Hamburg 1998, S. 82.
  14. Ebd., S. 83. Zum architektonischen Konzept vgl. Karweik, Hans-Adelbert: Im Spannungsfeld von Licht, Höhe und Form. Zur Architektur der Paulus-Kirche in Wolfsburg, in: 30 Jahre Paulus-Gemeinde Wolfsburg 1960-1990, ohne Seitenangabe. (Der Beitrag von Karweik bietet ausgezeichnete Hintergrundinformationen, die in kirchenpädagogischer Hinsicht von Nutzen sind!)
  15. Zeitgleich mit dem Pauluskirchenprojekt entsteht in Lübeck die Paul-Gerhardt-Kirche mit ähnlich herzförmigem Grundriss, dokumentiert in: Langmaack, Gerhard: Evangelischer Kirchenbau im 19. und 20. Jahrhundert, Kassel 1971, S. 102. Jahrzehnte später (1996) findet sich dieser Ansatz erneut im Entwurf des “Forums” für das Ev. Bildungszentrum Bad Bederkesa (vgl. Grünberg, Wolfgang: Erleben – Verstehen – Gestalten. Dieter Langmaack als “Sinnenmensch”, Akademischer Lehrbeauftragter und Architekt, in: Bartels, Olaf: Die Architekten Langmaack. Planen und Bauen in 75 Jahren, Schriftenreihe des Hamburgischen Architekturarchivs, Hamburg 1998, S. 75).
  16. Vgl. zu diesem Ansatz Langmaack, Dieter: Vom Höhlenerlebnis zur Arbeitsarchitektur: Beispiele für eine nutzerbetonte, sinnen-volle Planung, in: Organisationsentwicklung 3/92, S. 18ff., und: Ders.: Architektur als Erlebnis, in: Green, Friedemann u.a.: Um der Hoffnung willen. Praktische Theologie mit Leidenschaft, Festschrift für Wolfgang Grünberg zum 60. Geburtstag, Hamburg 2000, S. 78ff.
  17. Textilarbeit von Johanna Schütz-Wolff im Format 7,80 x 5,25 m mit einem Motiv zu Offb. 14, 14ff. (vgl. Ein Geschenk der Stadt: Wandschmuck über dem Altar. 40 Quadratmeter großer Teppich – Schwieriges Webverfahren, in: 30 Jahre Paulus-Gemeinde Wolfsburg 1960-1990, ohne Seitenangabe), nach Katja Schneider der letzte monumentale Bildteppich der Künstlerin (vgl. Schneider, Katja: Johanna Schütz-Wolff. Textil und Grafik zum 100. Geburtstag, Halle 1996, S. 10. Hier lauten die Maßangaben des Bildteppichs 7,65 x 5,30 m).
  18. Alle Glasarbeiten der Kirche von Emil Grassert, Lübeck, geschaffen. Auch hier lohnte sich – wie bei Johanna Schütz-Wolff – eine intensivere Beschäftigung bzw. ein eigenständiger Schwerpunkt. Tauffenster mit den Motiven “Arche Noah”, “Drei Männer im Feuerofen” und “Fische” als Christus-Symbol gestaltet.
  19. 1968 wird nach Entwurf der Architekten Langmaack die Friedenskirche in Flensburg-Weiche errichtet. Gerhard Langmaack schreibt dazu: “Der Innenraum der Kirche mit seiner bewegten Spannung soll die Gemeinde sowohl ausrichten auf Altar, Kanzel, Taufe, als auch zusammenschließen”. In: Langmaack, Gerhard: Evangelischer Kirchenbau im 19. und 20. Jahrhundert, Kassel 1971, S. 127.
  20. Entwurf: Angela Gsaenger (Tochter des Architekten)
  21. Gsaenger, Gustav: Die Kleinkirche als architektonische Aufgabe, in: Heyer, Walther: Evangelische Kirchenbautagung Rummelsberg 1951, Berlin 1951, S. 138.
  22. Ebd., S. 139 und 140.
  23. Cornelius Gurlitt hat den Begriff “gebaute Liturgie” 1906 eingeführt. Vgl. Schwebel, Horst: Eine Scheu vor großen Gesten. Protestantischer Kirchenbau aus theologisch-liturgischer Sicht, in: Stock, Wolfgang Jean: Europäischer Kirchenbau 1950-2000, München 2002, S. 212.
  24. In einem Brief der Tochter des Architekten, Angela Gsaenger, an den Verfasser vom 19.11.2001 heißt es: “Ich bin nicht überzeugt, dass der Architekt bei der Planung von liturgischen und theologischen Konzeptionen ausgeht. Ausschlaggebend bei der Planung ist der Bauplatz, die Größe der Gemeinde und die vorhandenen Geldmittel. Ich weiß nur bestimmt, dass mein Vater bei der Planung, wenn es möglich war, davon ausgegangen ist, dass die Kirche ‚geostet’ ist. Er hat nie die Mode (wenn ich es sagen darf) mitgemacht, den Altar in die Mitte zu stellen und die Gemeinde drumherum zu platzieren.” Zu Gustav Gsaenger weiter vgl. auch Gaenßler, Antina: Gustav Gsaenger 1900-1989, in: Detail 3/1992, S. 224ff.
  25. Das Thema Kirchturm wäre eine gesonderte kirchenpädagogische Beschäftigung wert!
  26. Brülls, Holger: Alvar Aaltos Kirchen für Wolfsburg, Lindenberg 1999, S. 16. (Die Veröffentlichung von Brülls ist eine ausgezeichnete, v.a. auch kirchenpädagogisch brauchbare Hinführung!)
  27. Vgl. dazu Stadt Wolfsburg/Institut für Museen und Stadtgeschichte: Ich baue. Der Architekt Alvar Aalto in Wolfsburg, hrsg. v. Klaus-Jörg Siegfried u.a., Wolfsburg und Braunschweig 2000, S. 23.
  28. Ebd.
  29. Ich kann mich an ein sehr divergentes Resümee erinnern. Es gab keine eindeutige “Favoritin”. Gründe für die gewählte Kirche wurden am Ende nicht genannt.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2007

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