'Was willst du, dass ich für dich tun soll?' - Die Geschichte von der Heilung des Blinden

von Christine Labusch

 

Gesundsein – Heilsein – Lebendigsein

Kinder in unserem Kulturkreis machen schon früh die Erfahrung, dass etwas mit ihrer körperlichen oder seelischen Gesundheit nicht in Ordnung sein könnte. Medikamente, Psychopharmaka, therapeutische Maßnahmen, Diäten und unterschiedliche Fördermaßnahmen werden ihnen von erwachsenen Bezugspersonen verordnet. Die Auswirkungen auf das Selbstbild des Kindes liegen auf der Hand: Sie entwickeln einen defizitären Blick auf die eigene Person. "Da habe ich Ergotherapie… – oder "Diese Tabletten muss ich nehmen, wenn ich wieder Kopfschmerzen kriege…" oder "Meine Schwester hat Neurodermitis, vielleicht kriege ich das auch…". Pathologisierende Einflüsse und Tendenzen finden sich genug. Dagegen fehlt es an Erfahrungsräumen, in denen die unverletzbare Lebenskraft zum Vorschein kommen darf, in denen das Vertrauen in den eigenen Weg wachsen kann.

Die eigenen gesunden, lebensbejahenden Seiten wahrzunehmen, ist ein schulisches Ziel, für das der Religionsunterricht mit den neutestamentlichen Heilungsgeschichten einen besonderen Reichtum an Hoffnungsgeschichten zu bieten hat.

Eine solche Zielperspektive setzt auf Bekräftigung, Bestätigung und Ermutigung der Kinder, dass sie den Herausforderungen des Lebens im Vertrauen auf die ihnen innewohnenden Kräfte begegnen. Ein starkes Selbstwertgefühl "von innen heraus" macht sie unabhängiger von oberflächlichen und destruktiven Angeboten, die von außen an Kinder herangetragen werden.

 

Hellungsgeschichten erschließen

Die in der Geschichte des blinden Bartimäus enthaltenen Befreiungserfahrungen können von Kindern nur durch eine Übersetzung erschlossen werden, damit sie etwas von ihrer Wirkkraft entfalten können. Die körperliche Dimension der Wunderheilung wird besonders bedeutsam, denn "wer körperfremd von Heilungen, Vertrauen und überwundener Angst unterrichtet, wird Mühe haben, den Schülern etwas vom Erfahrungs- und Sinnpotential der Wundergeschichten zu vermitteln."2

Im Blick auf die Geschichte vom blinden Bartimäus sollte die Lehrerin oder der Lehrer eine Engführung im Sinne von "blind = schlecht, sehend = gut" vermeiden, weil sie dem tieferen Anliegen der Erzählung nicht gerecht wird. Stattdessen sollten die Kinder verschiedene Facetten von Blindheit bzw. von Sehfähigkeit entdecken, so dass sich ihnen ein größerer Erfahrungsraum öffnet. Dann geht es in der Geschichte nicht mehr nur um die Blindheit und das Sehen des Protagonisten Bartimäus, sondern der Blick der Kinder weitet sich auch für die anderen Personen der Geschichte.

 

Umsetzung im Unterricht

Die folgenden Unterrichtsbausteine zu den sechs Abschnitten der Geschichte enthalten neben verschiedenen Zugängen für die Kinder auch Reflexionsanstöße für die Lehrerinnen und Lehrer.

Der Erschließungsweg für die Kinder führt über die vielen Wunder in der einen Wundergeschichte. Deshalb sollte die Lehrperson zunächst jeweils für sich geklärt haben, was sie selbst als "Wunder" ansieht. Wenn sie sich der mehrfachen Dimensionierung des Wunderbaren vergewissert hat, kann sie weiterführende Wege mit den Kindern gehen.

Diese Impulse dienen der Selbstreflexion der Unterrichtenden:

  • Wofür bin ich blind?
  • Was sind meine blinden Flecken?
  • Was kann ich nicht mit ansehen?
  • Wann schaue ich lieber weg?
  • Wie würde ich meine Blindheit beschreiben?

Die folgenden Impulse helfen bei der Erschließung der Geschichte mit den Schülerinnen und Schülern: Die Kinder verbinden sich die Augen und erfahren in verschiedenen Übungen, die auch als Lernzirkel angeordnet sein können, differenziert die Phänomene "Blindheit" und "Sehfähigkeit". "Blinde" und "sehende" Kinder arbeiten als Partner zusammen: Sie führen sich gegenseitig im Klassenraum, im Schulgebäude, draußen über ein angrenzendes Gelände.

Im Klassenraum bewegen sich "Blinde" und "Sehende" und werden von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern beobachtet. Die Szene sollte offen gestaltet sein und sich frei entwickeln. Die Zuschauer passen auf und notieren, was geschieht. Anschließend werden im Gespräch die Beobachtungen ausgewertet. Die Akteure berichten, wie es ihnen ergangen ist.

Wenn man blind ist, verändert sich die Wahrnehmung über die anderen Sinne Tasten, Schmecken, Riechen, Hören. In Partner- oder Gruppenkonstellationen erleben "Blinde", dass "Sehende" ihnen Dinge anbieten wie Gerüche (Duftöl, Gewürze, Lavendel), Geschmackseindrücke (Brot, Früchte, Nüsse), Tasteindrücke (Münzen für den Bettler, Erde und Steinchen, Stoffe, Fell), Hörbares (Stimmen, Gesang, Namen, Glocken, Schritte). Anschließend berichten sie: Was wurde als angenehm oder unangenehm erlebt?

In einer anderen Übung sitzt ein Kind mit verbundenen Augen am Boden. Zwei andere Kinder gehen an ihm vorbei. Anschließend tauschen die Kinder zwei Mal die Rollen und berichten sich gegenseitig von ihren Eindrücke.

In einer weiteren Übung erforschen die Kinder die Vielfalt unserer Sehfähigkeit, insbesondere den Unterschied zwischen "Sehen" und "Betrachten". Sie bringen eine Blume, einen Zweig oder einen Stein mit. Nach dem ersten Sehen schauen sie noch einmal genau hin und versuchen, mit den Augen zu forschen. Ziel ist es, dass "Sehen auf den zweiten Blick" zu erfahren.

Im dunkeln Raum im Schein eines Kerzenlichts betrachten die Kinder einander. Sie beobachten, was sich verändert, wenn die Abdunklung des

Raumes langsam aufgehoben wird. Die Kinder reiben die Hände aneinander bis sie warm sind, legen die Handballen auf die Augen und schauen in die Dunkelheit. Dann berichten sie, was sich verändert hat.

Nach dem Ende dieser erfahrungsbezogenen Übungen reflektieren die Kinder ihre Eindrücke und beantworten die Frage: "Sehen mit geschlossenen Augen und ‚Blindsein‘ mit offenen Augen: geht das?"

 

Impulse für die Selbstreflexion der Unterrichtenden:

  • Ein Mensch nimmt wahr, wie erbärmlich es ihm geht und bittet um Erbarmen. Das Wegschauen vor dem eigenen Leid wird überwunden. Kenne ich eine Blindheit gegenüber meinen eigentlichen Bedürfnissen, gegenüber meinem wirklichen Leid?
  • Wie laut wage ich es, für die Verbesserung meiner Lebens- (und Arbeits-) bedingungen die Stimme zu erheben?
  • Was ist die für mich typische Art meine Not auszudrücken und um Hilfe zu rufen?
  • Wie reagiere ich auf Kinder, die lauthals für ihre Bedürfnisse eintreten?

 
Impulse für die Erschließung mit den Schülerinnen und Schülern:

Die Kinder führen folgende Partnerübung möglichst langsam durch:

  • Der "Blinde" sitzt auf dem Boden, sein Partner holt ihn ab und bringt ihn zu seinem Stuhl.
  • Der "Blinde" sitzt auf dem Boden. Der Partner steht am anderen Ende des Raumes. Der Blinde ruft mehrmals nach seinem Partner bis er kommt und ihn zu seinem Stuhl bringt.
  • Wechsel der Rollen.
  • Austausch über die Erfahrungen und den Unterschied der Rollen.

Anschließend versuchen die Kinder folgende Frage zu beantworten: "Der Blinde ruft einfach nach Jesus, weil er will, dass sich für ihn etwas ändert. Was belastet oder behindert dich? Was könntest du tun, damit sich etwas verändert?"

 

Impulse für die Selbstreflexion der Lehrenden:

  • Kenne ich das: im Gewirr der unzähligen Stimmen im Schulalltag eine einzelne Stimme heraushören, die mich in besonderer Weise berührt? Wann folge ich dem vordergründigen Tumult, wann folge ich dem Ruf, der mich tiefer erreicht?
  • Die Reaktion von Jesus bewirkt bei der Menge eine Kehrtwende. Die Menge sieht erst weg, ist blind für die Not des Blinden und kann ihn dann sehen, weil einer nicht weggeschaut hat. – Ein häufiges Phänomen in der Schule?
  • Was bedeutet für mich "mit dem Herzen sehen"? Wie ändert sich mein Blick? Welches Kind in der Klasse würde ich gern mal mit dem Blick des Herzens betrachten?

 

Impulse für die Erschließung mit den Kindern:

Die Kinder beschäftigen sich genauer mit dem liebenden Blick. Sie bringen ein Foto von einer geliebten Person mit und versuchen folgende Frage zu beantworten: "Wie schaut ihr jemanden an, den ihr sehr lieb habt? Und was sagt ihr?".

Dann schreiben die Kinder kurze Botschaften wie beispielsweise: "Mit dir kann ich toll spielen. Du bist mein Freund." Dann sollen die Kinder über die Redewendung "mit dem Herzen sehen" nachdenken. Ein Beispiel aus der indianischen Zeichensprache verdeutlicht ihnen die Bedeutung: Die Indianer stellen den Begriff "denken" als Bewegung vom Herzen aus dar.

Die Kinder ahmen die Bewegung nach: Stehend legen sie die rechte Handfläche auf ihr Herz. Dann machen sie mit der rechten Hand und dem rechten Arm eine weite Kreisbewegung nach außen und nehmen vor dem Körper die Hand zum Herzen zurück.

Die Bewegungen werden mit den Worten "hinaus in die Welt" und "zum eigenen Herzen zurück" unterstrichen und einige Male eventuell mit ruhiger Musik im Hintergrund wiederholt.

 

Impuls für die Selbstreflexion der Unterrichtenden:

Der Mantel ist ein Symbol für die "alte" Lebensführung. Was sind meine "überholten" Besitztümer, die eine Zeit lang lebensnotwendig waren und über die ich nun hinausgewachsen bin? Für was ist es Zeit, dass ich es loslasse?

 

Impulse für die Erschließung mit den Schülerinnen und Schülern:

Die Kinder sollen das Gefühl der Befreiung in einer Partnerübung nachempfinden: Ein Kind sitzt auf dem Boden und bekommt von den anderen nach und nach immer mehr "Hüllen" umgehängt. Das können Jacken oder Decken sein. Eventuell werden dem Kind auch Sandsäckchen auf die Schultern gelegt. Achtung: Das sitzende Kind muss signalisieren, wenn es ihr oder ihm zu viel wird. Es soll wahrnehmen, wie die Last sich anfühlt. Nach einem Rollenwechsel tauschen sich die Kinder über ihre Empfindungen aus.

Danach erzählen die Kinder von ihren persönlichen Entwicklungsschritten, z. B. allein laufen, schwimmen können, allein verreisen, oder sie schreiben auf, wie sich so ein Entwicklungssprung anfühlte, ob sie Angst hatten und wie sie es dennoch geschafft haben. Ein Ausblick auf anstehende Entwicklungen schließt diese Phase ab.

 

Impulse für die Selbstreflexion der Unterrichtenden:

  • Welchem Menschen würden sie gern mal die Frage stellen würden: "Was willst du, dass ich für dich tue?"
  • Wie verändert sich der Blick auf den "Bedürftigen", wenn man ihm zutraut, für sich selbst einzustehen?

 

Impulse für die Erschließung mit den Schülerinnen und Schülern:

Die Kinder erfahren dieses Gefühl in einer Partner- oder Kleingruppenübung: Ein Kind wird von ein bis drei anderen gefragt: "Was möchtest du, dass wir für dich tun?" Das Kind darf einen Wunsch äußern.

Nach der Erfüllung des Wunsches wird gewechselt. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die Zeit gerecht verteilt ist. Eventuell kann Material zur Verfügung stehen wie z. B. eine Wärmflasche, Duftkissen, Kerzen, Bücher, Spiele, Seifenblasen, Musikkassetten oder Massageöl.

 

Impulse für die Selbstreflexion der Unterrichtenden:

Der Blick wird frei, der Gewinn, der aus der Blindheit gezogen wurde, wird drangegeben.

  • Was hat das "neue Sehen" bewirkt? War es Glaube, Vertrauen, Kontakt oder gelungene Kommunikation?
  • Wissen wir das bei den Wundern unseres Lebens, in denen wir neu sehen können?
  • Wenn ich den Blick wieder frei bekomme, auf welches andere Leben hoffe ich?
  • Welche Erfahrungen habe ich mit Perspektivwechseln?

 

Impulse für die Erschließung mit den Schülerinnen und Schülern:

Die Kindern erproben den Wechsel der Blickrichtung und sollen mit den "alten" Augen "neu" sehen. Einige stehen auf einem Tisch, die übrige Gruppe sitzt am Boden. Jeder fragt sich, wie er die anderen sieht. Alternativ steht die Gruppe im Kreis, einzelne sitzen oder liegen in der Mitte.

Die Lehrerin oder der Lehrer sollte stets zum Wahrnehmen anleiten: "Wie ist das? Was hat sich verändert?" Auf eine Bewertung der Empfindungen (,,Was war schöner?") sollte verzichtet werden.

Anschließend können die Kinder ihre Fähigkeit, sehen zu können, genießen. Sie können eine "Augenweide" gestalten, z. B. im Schulgarten ein Bild aus Naturmaterialien legen, im Klassenraum einen wunderschön gedeckten Tisch herrichten oder ein Bild malen. Alternativ kann jedes Kind ein Lieblingsbild mitbringen, oder es sucht sich aus einer Sammlung eines aus. Dann beschreiben die Kinder einander die Bilder, so dass die zuhörenden Kinder innere Bilder entwickeln können.

Anschließend wird das Bild betrachtet und mit den imaginär entwickelten Bildern verglichen.

Zum Abschluss dieser Sequenz wird die Geschichte von Bartimäus noch einmal im Zusammenhang gelesen und mit den Bildern der Kinder in Beziehung gesetzt.


M 1 Die Heilung eines Blinden bei Jericho

1. Und sie kamen nach Jericho. Und als er aus Jericho wegging, er und seine Jünger und eine große Menge, da saß ein blinder Bettler am Wege, Bartimäus, der Sohn des Timäus.

2. Und als er hörte, dass es Jesus von Nazareth war, fing er an zu schreien und zu sagen: "Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!" Und viele fuhren ihn an, er solle stillschweigen. Er aber schrie noch viel mehr: "Du Sohn Davids, erbarme dich meiner!"

3. Und Jesus blieb stehen und sprach: "Ruft ihn her!" Und sie riefen den Blinden und sprachen zu ihm: "Sei getrost, steh auf! Er ruft dich!"

4. Da warf er seinen Mantel von sich, sprang auf und kam zu Jesus.

5. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: "Was willst du, dass ich für dich tun soll?" Der Blinde sprach zu ihm: "Rabbuni, dass ich sehend werde." Jesus aber sprach zu ihm: "Geh hin, dein Glaube hat dir geholfen."

6. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege.

Mk. 10,46-52. Lutherbibel 1984

 

 Anmerkungen

  1.  Der Beitrag wurde bereits veröffentlicht in: Grundschule Religion, Heft 7/2004, S. 10-14.
  2. Walter Kern/Lothar Kuld, zitiert in: Hans-Joachim Blum: Biblische Wunder – heute. Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 1997, S. 212

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2005

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