Wie viel Raum ist zwischen Frage und Antwort - Unterrichtsbausteine zur Kultur des Fragens

von Christine Labusch 

 

"Was bedeutet es, einen Menschen zu lieben?" Auf diese Frage antwortete jemand folgendermaßen: "Einen Menschen zu lieben heißt, ihm alles sagen zu dürfen, aber vor allem: ihn alles fragen zu dürfen." Weshalb wird die Möglichkeit, alles fragen zu dürfen, noch höher eingeschätzt als die Tatsache, dass man alles sagen kann? Offenbar haben Fragen mit einer tiefen Verbundenheit zu anderen Menschen zu tun. Eine Frage zu stellen setzt Vertrauen voraus. Deshalb ist etwas zu fragen noch näher mit dem Innersten des Fragenden verbunden als eine offene Aussage. In der Frage drückt sich etwas von der Verletzlichkeit des Nichtwissens aus. Als Fragende signalisiere ich die Bereitschaft, mich für Neues zu öffnen, dem Gegenüber Zutritt zu einem wichtigen Teil meines Selbst zu gewähren und ihn für fähig zu halten, mich an den Stellen zu bereichern, an denen ich mich gerade selbst einem Zweifel stelle.

Auf diesem Hintergrund ist es eine eigene, immer wieder neue Aufgabe, Kinder zu Fragen zu ermutigen und sich als Erwachsener mit in diese Fragewelten hineinzubegeben. Es gilt, Fragen wertzuschätzen und vielleicht auch mit Achtung und Wohlwollen auf Fragen zu reagieren, die schwere Erinnerungen an die eigene zurückliegende Kindheit wachrufen, in der Erwachsene auf ähnliche Fragen unter Umständen keine befriedigenden Antworten erhalten haben. Den Mut zur Unwissenheit wieder neu lernen, damit aus Fragen neue Entwicklungen entstehen können – dies ist eine Lernchance für Erwachsene in Gegenwart von denjenigen Kindern, die alles fragen dürfen.

Kinder brauchen Erklärungen von Erwachsenen und sie brauchen Raum, um ihre Fragen stellen zu können. Erwachsene brauchen eine Haltung, in der sie sich von dem Unerwarteten in den Kinderfragen überraschen und bereichern lassen, mitgehen mit der Frage und bereit sind, auf einen gemeinsamen Forscherpfad mit den Kindern einzusteigen.

Kinder fragen, um Antworten zu bekommen, die ihnen bestätigen, dass auf der Welt alles gut und richtig ist, so wie es ist. Sie suchen nach Anhaltspunkten dafür, dass sie sicher und geborgen leben können, Freiraum für ihre Entfaltung finden und dass dies nicht nur heute gilt, sondern an jedem neuen Tag. Daher auch die sich stets wiederholenden Fragen, oder auch der Wunsch, bekannte Geschichten mehrmals aufs Neue zu hören.

Zugleich bleibt Kindern nicht verborgen, dass die Welt, in der sie leben, auch schrecklich ist. Am Wochenende nach dem blutigen Geiseldrama an einer Schule in Beslan haben mehr als hundert besorgte deutsche Kinder beim WDR-Hörfunk angerufen, um ihre Fragen und Ängste loszuwerden. Viele Fragen waren Ausdruck einer tiefen Irritation. "Warum tun die das?" "Kann das auch bei uns passieren?" "Was ist eigentlich eine Geiselnahme?" "Warum waren auch Frauen unter den Geiselnehmern?" Oft ist schon sehr viel damit getan, dass Kinder ihre Fragen aussprechen und die Fragen damit aus ihrem Inneren nach außen geben können. Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer in diesem Kontext ist es, immer wieder Lernarrangements zu schaffen, die die Entwicklung von Fragen fördern und die zu Fragen ermutigen. So werden Lehrende zu Anwälten der Fragwürdigkeit, zu Mitfragenden, Mitlehrenden, weniger zu Antwortgebern. Manche Kinderfrage erhält auf diesem Wege einen anderen Horizont: Sie verlangt nicht immer in erster Linie eine Antwort, immer jedoch Zuwendung, Kontakt, Gespräch. Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist das Moment der Entschleunigung. Indem nicht zu schnell auf die Frage eine Antwort erfolgt, eröffnet sich der Zwischenraum zwischen Frage und Antwort. Es gilt, um mit Martin Heidegger zu sprechen, Raum zu schaffen für das denkende Erstaunen, das seine sprachliche Ausdrucksform in Fragen findet. Dieses denkende Erstauen braucht Zeit, um sich zu entfalten, um durch alle Sinne zu wandern, um sich mit sich selbst zu befassen, um sich zu verlieren in diesem spannenden Zustand des Auf-der-Spur-Seins aber Noch-nicht-fertig-Seins. Rilke drückt dies in einem Brief an einen jungen Dichter wunderbar aus:

"Sie sind so jung, so vor allem Anfang und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages, in die Antwort hinein". (Rainer Maria Rilke: Briefe an einen jungen Dichter)

Der Schwerpunkt der hier vorgestellten Unterrichtsimpulse liegt auf der erwünschten Fragwürdigkeit, die entsteht, wenn Widersprüche des Lebens zugelassen und einer Bearbeitung mit Kindern zugeführt werden. Die Fragen erwachsen aus der Paradoxie, dass die Welt, in der wir leben, einerseits vollkommen schön und wunderbar ist, andererseits aber auch schrecklich, beängstigend und fehlerhaft. Beides existiert gleichzeitig im Erfahrungshorizont der Kinder. Deshalb sollen im ersten Schritt diese beiden Seiten der einen Welt ins Bewusstsein gehoben werden.

 

Das Leben ist schön – das Leben ist schrecklich – Gestaltungsmöglichkeiten mit Hilfe der angegebenen Medien

M 1
Der Psalm 104 in der hier vorgestellten Form gibt in seiner bildreichen, kindgerechten Sprache Anstöße für die Wahrnehmung der Vollkommenheit der Schöpfung. Kinder können sich hier z.B. mit einzelnen Aussagen (malend) auseinandersetzen oder den Text mit Fotos, Bildern, Naturgegenständen usw. illustrieren.

M 2
Die Bildfolge mit Zeichnungen weckt Assoziationen zu Glückserfahrungen auf der Beziehungsebene im alltäglichen Leben der Kinder. Kommentare können in die Zeichnung hineingeschrieben werden, Denk- oder Sprechblasen können eingefügt werden und mit Worten beschriftet werden, durch die die Kinder ihre Identifikation ausdrücken.

M 3
Die Kinderhände bieten eine Vorlage, in der eine Aufzählung stattfinden kann. Die Gründe, weshalb es schön ist, auf der Welt zu sein, werden in einer Aufzählung (unbewusst) mit der leiblichen Ebene (Handlungsdimension) verbunden.


M 4
Für die "dunklen" Seiten des Lebens kann ebenfalls ein Psalm – in diesem Fall ein Klagepsalm – aufgegriffen werden. Die Schrecken und Nöte im Tagesgeschehen der Welt lassen sich unschwer aus Magazinen und Tageszeitungen sammeln und zu Collagen zusammenstellen.

M 5
Die Bilderfolge mit Zeichnungen, in denen sich Trauer ausdrückt, soll wiederum anregen zu Gedanken, Kommentaren, Ergänzungen der Schülerinnen und Schüler.

 

Weiterarbeit mit den Medien: Komposition eines Bodenbildes

1. Schritt
Die beiden Seiten der zugleich schönen und schrecklichen Welt sollen nun nebeneinander gestellt und dabei weder in eine Hierarchie noch in eine Auflösung gebracht werden. Dies kann z.B. geschehen, indem im Klassenraum die Arbeitsergebnisse der hellen Seite auf ein gelbes Tuch, die der dunklen Seite auf ein schwarzes Tuch am Boden ausgebreitet werden. Zwischen beiden sollte genügend Platz sein für die weitere Gestaltung. Das Aushalten der Tatsache, dass beides, der Schrecken und das Glück so offensichtlich zugleich existieren, ist schon eine hohe Anforderung. Wir tendieren leicht dazu, in positiven Momenten das Leid auszublenden und in negativen Erfahrungen so zu "versinken", dass das Positive unerreichbar scheint. Im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern wird es darum gehen, dass Eindrücke in diesem Kontext noch einmal neu geäußert werden können. Geschichten oder Erlebnisse, die wachgerufen werden, können erzählt werden. Fragen, die bereits hier auftauchen, sollen zunächst nur als solche gewürdigt werden, mit dem Hinweis darauf, dass sie im nächsten Schritt im Mittelpunkt stehen werden.

2. Schritt
Zwischen die helle und die dunkle Seite wird nun ein großes Fragezeichen (Stoff, Papier) gelegt, auf dem viele einzelne Papiere aufliegen (gut geeignet sind Meterplankarten oder Papierkreise). Die Schülerinnen und Schüler erhalten den Auftrag, sich nun (zunächst allein) ihren Fragen zuzuwenden. Jedes Kind schreibt seine Frage auf einen Papierkreis bzw. eine Karte auf, schreibt seinen Namen dazu und kehrt in den Gesprächskreis zurück.

3. Schritt
Wenn möglich sollte nun Zeit gegeben werden dass sich jeweils zwei Kinder über ihre Fragen austauschen, bevor nacheinander jede Schülerin und jeder Schüler Zeit bekommt, seine Frage den anderen vorzustellen und sie auf dem großen Fragezeichen in der Mitte abzulegen.

Bevor auf die Fragen inhaltlich eingegangen wird, folgt ein Gespräch zur Würdigung des Fragens an sich. Es kann z.B. darüber gesprochen werden, dass verschiedene Kinder ganz verschiedene Fragen haben (Vielfalt statt Wertung). Evtl. auch, dass mehrere Kinder dieselbe Frage bewegt. Dass es Fragen gibt, die eine Information wünschen und solche, in denen es um Gefühle geht (evtl. Beispiele nennen), Fragen, die viele Kinder bewegen, Fragen, die Einzelne betreffen.

4. Schritt
Nun schauen die Schülerinnen und Schüler, ob es eine Frage gibt, die sie persönlich besonders anspricht und mit der sie sich weiter beschäftigen wollen. Dieses Papier nehmen sie an sich. Es sollte auch erlaubt sein, die eigene Frage zu nehmen. Bei Nichtaufgehen kann eine Frage mehrmals aufgeschrieben werden oder ein Kind kann evtl. mehrere Fragen an sich nehmen. Wichtig ist, dass keine Frage mit Absender unbeachtet auf dem Fragezeichen liegen bleibt.

Jede Schülerin, jeder Schüler überlegt sich nun einen Brief als Reaktion auf die Frage der Mitschülerinnen und Mitschüler. Es soll ein persönlich an den Absender gerichteter Brief sein, in dem einige Gedanken zu der Frage der Mitschülerin bzw. des Mitschülers aufgeschrieben werden. Alternativ dazu kann auch ein Bild, ein Gedicht oder ähnliches entstehen.

Der Brief wird zusammen mit dem Fragepapier in einen persönlich gestalteten (selbstgemachten?) Briefumschlag gesteckt, verschlossen, adressiert und auf das große Fragezeichen zurückgelegt.
Jedes Kind nimmt seinen Brief an sich, öffnet und liest seine Post.

5. Schritt
Im Anschluss sollte Zeit gegeben werden, dass sich Adressaten und Absender beieinander bedanken oder noch über Ungeklärtes austauschen können. In der gesamten Gruppe kann sich ein Gespräch darüber anschließen, was sich durch das Fragen und durch das Beantworten per Post für jeden verändert hat.

Diese Impulse können ein Anfang für eine weiterführende Arbeit werden, in der die Kultur des Fragens vertieft wird. Z.B. kann ein "Großes Buch der Fragen" für die Klasse angeschafft und ausgelegt werden, in dem jedes Kind, wenn es möchte, Fragen eintragen kann oder auch die Fragen der Mitschülerinnen und Mitschüler lesen. Über einen Briefkasten, in den weitere Fragebriefe geworfen werden, kann die hier geschriebene Arbeit zu späteren Zeiten wiederholt werden, indem der Briefkasten geleert und eine neue Runde zu den Kinderfragen und -antworten eröffnet wird.

 

M 1

Du, mein Gott, du bist so groß.
Du bist im Licht versteckt.
Das Licht ist dein Kleid.
Wie ein Zeltdach spanntest du den
Himmel über der Erde.
Auf der Erde gab es nur Wasser –
eine große Flut.
Doch du kamst im Sturm und im Wind.
Und das Wasser floh,
es wich zur Seite, scheu.
Das Wasser sammelte sich da, wo du es wolltest.
Und Berge erhoben sich,
dazwischen lagen Täler.
Es gab Erde.
Und auf der Erde lebten Tiere:
Esel, Vögel, Steinböcke.
Auf der Erde wuchsen Pflanzen:
Gras und Bäume.
Und du machtest die Sonne, Gott.
Und den Mond.
Du machtest den Tag und die Nacht.
In dieser Welt
lässt du Menschen leben –
immer wieder neue,
auch mich.


Quelle: Regine Schindler, Svtevpán Zavrvel, Mit Gott unterwegs. Die Bibel für Kinder und Erwachsene neu erzählt, bohem press, Zürich 1996, S. 10

 

M 2 





Aus: Aliki, Gefühle sind wie Farben. 1987. Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim & Basel

 

 

M 3


 

M 4

Klagen und dunkle Seiten des Lebens in Psalmen:

"Mit meiner Kraft bin ich völlig am Ende, die Qual ist zu groß, ich kann nur noch schreien." 
(nach Psalm 38,9)

"Gott, hilf mir, denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke im tiefen Schlamm, meine Füße finden keinen Halt. Ich bin im tiefen Wasser und die Flut will mich ersäufen. Bis zur Erschöpfung habe ich geschrieen, meine Kehle ist davon ganz entzündet."
(nach Psalm 69, 2-4)

"Die Schmach bricht mir das Herz, ich bin zutiefst verwundet. Ich habe auf Mitgefühl gewartet, doch niemand hat es mir erwiesen. Ich habe einen gesucht, der mich tröstet, und keinen einzigen gefunden."
(nach Psalm 69, 21)

"Aus der Tiefe meiner Not schreie ich zu dir. Herr, höre mich doch! Sei nicht taub für meinen Hilferuf!"
(nach Psalm 130)

 

M 5

 

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2004

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