Performativer Religionsunterricht – Von der Notwendigkeit des Gestaltens und Handelns im Religionsunterricht

von Thomas Klie 

 

1. Performanz als eine neue Sicht auf Unterricht

1.1 Was angesagt ist

Die um schmückende Adjektive noch nie verlegene Religionspädagogik scheint derzeit um ein weiteres Etikett reicher zu werden. Im Religionsunterricht – so lassen sich die neuesten Überlegungen zur Didaktik unseres Faches wohl am ehesten zusammenfassen – kommt es wohl mehr und mehr auf die Umgangsformen an:

  • auf die Formen, über die man methodisch seine SchülerInnen ins Spiel bringt
  • auf die Formen, unter denen unser Gegenstand, die Religion evangelischer Spielart, im Unterricht Gestalt annimmt, und schließlich
  • auf die Formen, in denen sich diese unsere Religion den Lehrerinnen und Lehrern selbst darstellt.

Alle drei für jede Form von schulischer Lehre relevanten Größen sind unter den Bedingungen unserer durch und durch ästhetisierten Lebenswelt am ehesten aufeinander beziehbar – dieser Schluss drängt sich einem bei der Durchsicht der jüngsten Veröffentlichungen auf –, wenn man sie innerhalb eines performativ ausgelegten Rahmens betrachtet. Evangelische Religion ist didaktisch offenbar dann "up to date", wenn man sie als szenisches Phänomen für wahr nimmt. Als etwas, das zunächst einmal – vor allem anderen – wahrnehmbare Außenseiten aufweist. Unsere Religion kommt dann angemessen zu sich selbst, wenn man sie als ein Formenspiel begreift und entsprechend gestaltet, behandelt. "Performativ" – so definieren die Kommunikationswissenschaften – nennt man eine sprachliche Handlung, bei der mit dem Verlauten bereits eine Wirklichkeit mitgesetzt ist. "Performativ" meint einen Sprech-Akt. Eine "Performance" ist zunächst einmal ganz allgemein eine Art Ausdruckshandlung.

Christoph Bizer hat in vielen seiner religionspädagogischen Etüden dieses alltägliche Phänomen aufgezeigt am "Guten-Morgen!"-Gruß.1  Was passiert eigentlich, wenn man jemandem einen "guten Morgen" wünscht? Der reine Informationsgehalt eines beiläufig gehörten "Guten Morgen" tendiert ja bekanntermaßen gegen Null. Ob ein Morgen gut oder weniger gut ist, kann einem keiner sagen. Auch der Aspekt der Kontaktaufnahme ist für diesen Gruß eher zu vernachlässigen. Dafür würde ja ein mit einem Blickkontakt angereicherter Grunzlaut vollkommen ausreichen. (Nicht wenige morgendlichen Kontaktaufnahmen im Lehrerzimmer haben ja auch eine ähnliche Qualität.) Nein, das "Guten-Morgen!" lässt den Morgen des Angesprochenen im Moment der Ansprache verheißungsvoll gut sein. Performative Wortlaute setzen, was sie sagen. Die Verheißung bewirkt dieses "Gut-Sein" dadurch, dass es spontan erklingt und situativ vernommen wird – vorausgesetzt, der Angesprochene schenkt diesem Versprechen Glauben und bewahrheitet es so.

Ein "Guten-Morgen!"-Gruß – ebenso ein Versprechen, ein Lob, ein Fluch, ein Segen, eine Ernennung – bewirken, was sie in Rede stellen: eine gesegnete Zeit, eine freudige Erwartung, ein Hochgefühl, eine Niedergeschlagenheit, eine getroste Hoffnung oder eine Statusveränderung.

Zurück zur religiösen performance. Allem Anschein nach verdichten sich im Performanz-Begriff so viele Unterrichtserfahrungen, Argumentationslinien und Suchbewegungen, dass er sich im aktuellen didaktischen Diskurs ebenso unspektakulär wie selbstbewusst einsichtig macht. Wofür aber steht dieses Kürzel? Welche Wahrnehmungen und Beobachtungen greift er auf, um sie argumentativ zu stützen?

 

1.2 Alles "nur" Theater!

Ihren klassischen Ausdruck finden performative Sprech-Akte – wie wir alle wissen – in der Welt des Theaters. Auf der Schaubühne werden Texte in Szene gesetzt und in eine ansehnliche Handlung übertragen. Mit den Mitteln einer Inszenierung verwandelt man Gedrucktes im Gestus des Spiels in Sprech-Akte. Inszenierungen sind Vorgänge, bei denen etwas prozesshaft "in Form" kommt. Und sich eben dadurch auch mitteilt oder zeigt. Religiöse Inszenierungen teilen sich mit durch ihre Performanz. Es macht darum in unserem Zusammenhang durchaus Sinn, Inszenierung und performance synonym zu verwenden. Eine performance geschieht vor jemandem und für jemanden. Der Theaterwissenschaftler Eric Bentley definiert: "Die theatralische Situation auf ihren geringsten Nenner gebracht besteht darin, dass A den B verkörpert, während C zusieht." 2  Im Extremfall spielen die Akteure "nur" für sich selbst. Bei mehr als einem Schauspieler schaut man sich dann eben selbst zu.

In jedem Fall aber sind die Wortaufführungen auf Anschauung und aktive Teilhabe aus. Im Theater werden Wortkunstwerke sichtbar und vernehmbar gemacht. Manchmal sogar ruchbar. Die Lektüre eines theatralen Textes wirkt mehrdimensional. Und wie immer, wenn unsere Sinne ins Spiel kommen, betätigen wir uns als äußerst kreative Konstrukteure der uns vorgespielten Welt. Indem wir dem Wahrgenommenen objektive Bedeutung zumessen, füllen wir es mit subjektiver Bedeutsamkeit auf. Kein Theater der Welt kann ohne mitempfindende Zuschauer sein. Denn erst im aktiven Zuschauen konstituiert sich das Stück. Wolfgang Iser3  und andere Rezeptionsästhetiker haben uns ja darüber aufgeklärt, dass das Lesen weniger ein rezeptiver als vielmehr ein kreativer Akt ist. Wir kennen längst nicht alle denselben "Wilhelm Tell", dieselbe "Mutter Courage", denselben "Barmherzigen Samariter" – so sehr wir als Lehrende auch dieses Lernziel unseren Lerngruppen hermeneutisch verordnen.

Indem ein theatrales Spiel etwas zur Schau stellt, gibt es zu sehr unterschiedlichen Deutungen Anlass. Handlungen wollen begriffen, Gesten erkannt und Sätze zugeordnet werden. So gesehen besteht zwischen Theater und Theorie sehr viel mehr als nur ein etymologischer Zusammenhang: griech. "thea" bzw. "theorein" steht für das Schauen. Theaterbesucher und Theoretiker verbindet die Anschauung.

Um eine Betrachtung auslösen zu können, beansprucht eine performance zunächst einmal eine Spielvorlage: ein Sujet bzw. ein Stück, das sie mit einer ihm angemessenen Dramaturgie versieht. Eine performance braucht zudem einen ausgegrenzten Raum ("Bühne") und natürlich eine abgesonderte Zeit, denn kein Spiel ist von Dauer. Wäre es das, ginge es sofort nur noch bitterernst zu. Und natürlich lebt eine performance von den handelnden Personen (den Akteuren), die durch ihr Sprech-Handeln den besonderen Zeit-Raum mit Bedeutung füllen. Fasst man nun diese theatralen Basissätze zusammen, dann ergibt sich: Eine performance ist, wenn vor und mit anderen ein Sujet innerhalb eines bestimmten Spielraumes in eine Folge von Ausdruckshandlungen übersetzt wird. – Soweit zur Theorie des Theaters.

Was aber macht nun den Unterricht in Sachen Religion zu einem performativen Gebilde? Lässt sich unser Fach so ohne weiteres als ein ästhetischer Selbstvollzug beschreiben? Und falls ja: Welcher Erkenntnisgewinn wäre damit verbunden, Religion und deren Vermittlung als ein theatrales Geschehen zu begreifen? Unterricht als didaktische Aufführung, als Inszenierung von Lehrstücken? Religionsunterricht als performance? Bleibt womöglich sogar die gerade versuchte Definition korrekt, wenn man sie mit Schul-Vokabeln auffüllt? Etwa so: Unterricht ist, wenn vor und mit Schülern ein Thema innerhalb eines bestimmten Schulraumes und für die Dauer einer Schulstunde in eine methodisch formatierte Folge von Lernhandlungen übersetzt wird.

Im Folgenden soll diese Spur aufgenommen und weiter verfolgt werden.

Doch zunächst bleibt festzuhalten: Selbst wenn bei genauerer Betrachtung nicht wenige Begriffe aus dem pädagogischen Feld (denken wir nur an "Unterrichtsregie", an "Lehrer-/Schülerrolle", an "Handlungsorientierung" etc.) die Wirklichkeitsnähe dieser zunächst einmal irritierenden Sichtweise zu belegen scheinen, spricht doch viel dafür, die begrifflichen Anleihen aus der Welt des Theaters nicht einfach nur didaktisch zu doppeln. Das Theater folgt natürlich einer anderen Logik als die Bereitstellung von Bildungsangeboten. Es hat eine andere Geschichte, eine andere Ästhetik und einen anderen kulturellen Ort. Zudem bedient es andere Zielgruppen.

Wenn man überhaupt das Dramaturgische praktisch-theologisch in Anspruch nehmen will, dann läge die Verbindung zur Liturgie schon sehr viel näher. Denn hier ließe sich die Affinität zum Spielgeschehen zumindest historisch ableiten. So setzte etwa im 10. Jh. der mittelalterliche Oster-Tropus* eine Dynamik frei, der immerhin das gesamte mittelalterliche Theater seine Entstehung verdankt. "Als der [liturgische] Dialog [zwischen den Marien und den Engeln] anstatt von zwei Halbchören, von den Engeln und den Marien selbst gesungen wurde, die dazu szenisch handelnd aus beiden Gruppen heraustraten, war die dramatische Osterfeier geboren." 4  Die kultische Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte, etwa in der Dramaturgie des Kirchenjahres oder in der Inszenierung des Gottesdienstes, ist durchaus ein wichtiges Indiz für die latente Performanz des Evangeliums.

Wirkungsgeschichtlich betrachtet wird man sagen müssen, und das mag religiös abständige Zeitgenossen irritieren, dass die Liturgie die Keimzelle des darstellenden Spiels ist. Das Theater war geboren, als die traditionellen Responsorien in der Frühmesse am Ostermorgen nicht mehr nur gesungen wurden, sondern in Handlungen übersetzt wurden und so eine szenische Gestalt erhielten (vgl. Lk 24).

Den Religionsunterricht als ein inszenatorisches Handeln zu verstehen – performativ eben –, wird sich demgegenüber eher auf funktionale Analogien berufen müssen. Denn Unterricht ist wie das Theater ein leibhaftes und raumgreifendes Geschehen: In ihm nehmen Lernen und Lehren wahrnehmbare Formen an. Lerngegenstände sind gemeinsam einzuordnen, Deutungshandlungen hervorzubringen, Zeiträume zu gestalten und Denkbewegungen zu vollziehen.

 

2. Nichts Neues unter der Sonne: Traditionsstränge

Der Akzent auf die leib-räumlichen Aspekte des Religionsunterrichts ist natürlich nicht neu. Bereits Hubertus Halbfas und Peter Biehl haben die Reichweite eines reinen Textunterrichts in ihren symbol-didaktischen Entwürfen stark in Frage gestellt. Durch die unterrichtliche Arbeit mit "Symbolen" wurden die traditionellen texthermeneutischen Methoden um andere, zumeist ästhetisch ausgelegte Lernwege erweitert. Im Ganzheitlichkeitsgestus der 80er Jahre setzte man auf Expressivität und Wirkung. Im Vordergrund stand der Transzendenzbezug bzw. dessen vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten.

Und so hielten vor etwa 20 Jahren Meditationen und Bildbearbeitungen auf breiter Front Einzug in den Religionsunterricht. Bald schon kamen auch Begehungen und Ausdrucksübungen, Rituale und Bibliodramen dazu. An der Grundschule hatte man mit einem solchen Methodenzuschnitt natürlich schon lange vorher gute Erfahrungen gemacht, aber mit dem Etikett "Symboldidaktik" bekamen diese Lehrformen eine letztlich auch gymnasial akzeptable Theoriegestalt.

Die "kreativen" Methoden, an denen man zunächst einmal das Neue dieser Neuerung nach außen hin ablesen konnte, wurden notwendig, weil mit dem "Symbol" eine Vermittlungsinstanz in den Mittelpunkt rückte, deren Bedeutung unmittelbar in der ihr zugeschriebenen Repräsentationsfunktion gesehen wurde. "Symbole geben zu lernen" 5  – so formulierte es Peter Biehl 1989 programmatisch. Er verband mit dieser Formulierung die Vorstellung, dass Sinnbilder grundsätzlich Anteil geben an dem, was sie zeigen und wodurch sie dieses Was zeigen. Indem man sie unterrichtlich in Gebrauch nimmt, setzen "Symbole" frei, was sie in sich gleichsam an religiöser Energie gespeichert haben.

Ob und wie sie dies bewirken, ist zwar nach wie vor theoretisch strittig, ganz und gar unstrittig ist jedoch die Einsicht in die Gestaltungsnotwendigkeit religiöser Lerngegenstände. Wie Religion "funktioniert" – so die unhintergehbare Einsicht der Symboldidaktiken – vermittelt sich unterrichtlich nur über ihre Gebrauchszusammenhänge. Religion gibt nur dann zu lernen, wenn ihre Formen ernst genommen und entsprechend wahrgenommen werden. Und dies geschieht immer dann, wenn sie angemessen "in Form" kommt, d.h. wenn man diesen didaktischen Gestaltungsimperativ anmisst an den vorfindlichen Alltagsgestalten des Religiösen.

Das war damals für religionspädagogisch engagierte Protestanten eine durchaus neue Sicht, denn das gemeinsame preußisch-pietistisches Erbe suggeriert – im Grunde genommen bis heute –, dass Religion eine Herzenssache oder bestenfalls eine Einstellungssache sei. So oder so: Evangelisch ist man, wenn überhaupt, "innen drin" und keinesfalls aber "nach außen hin". Und wenn sich schon Evangelisches äußert, dann in moralischer Hinsicht, keineswegs jedoch religiös. Evangelisch sein, heißt – zugespitzt formuliert – die Formlosigkeit zum religiösen Programm zu erheben.

Die Symboldidaktiken machten nun auf ihre Weise darauf aufmerksam, dass Religion in erster Linie "Formsache" ist, Religion also allererst eine Praxis ist. Sie behaupteten Religion als einen Handlungsvollzug, als ein ästhetisch herausragendes Formenspiel mit durchaus erkenn- und gestaltbaren "Außenseiten". Man wies darauf hin, dass Religion darum auch "schön" sein könne (mitunter allerdings auch weniger schön) und dass Religiöses nicht nur dem reformatorischen Haupt-Organ, dem Ohr, sondern auch der Hand, dem Auge, mitunter sogar der Nase schmeicheln könne.

Auf diesen Grundsatz berufen sich in je unterschiedlicher Weise auch all diejenigen Didaktik-Konzepte, die in symboldidaktischer Tradition den Prozesscharakter religiösen Lernens und Lehrens stark machen. Was sich derzeit als Performative Religionspädagogik formiert, lässt sich nicht nur als eine Fortschreibung der herkömmlichen Symbolkunde mit anderen Mitteln verstehen. Der Inszenierungsgedanke speist sich auch noch aus anderen Quellen: 6 

Da ist in diesem Zusammenhang zunächst einmal die sog. Zeichendidaktik7 zu nennen. Sie nahm Mitte der 90er Jahre ihren Anfang in der semiotischen Kritik an dem in den Symboldidaktiken vorausgesetzten Symbol-Begriff. Der Zeichendidaktik geht es darum, Religion als ein Ensemble grundsätzlich deutungsoffener Zeichen zu verstehen. Religion kommt hier als eine in Kultur eingelagerte Praxis in den Blick, die je nach Vorwissen und Vorerfahrung unterschiedliche Lesarten hervorbringen kann. Wie bei allen ästhetischen Zeichensystemen (z.B. bei Kunstbildern, Musik- oder Theaterstücken etc.), so ist auch die Deutung religiöser Zeichen (bspw. Gleichnisse, Gebete, Kirchenräume etc.) tendenziell unabschließbar. Deutung gibt es nur im Plural individueller Erfahrungen mit den entsprechenden Zeichen. Die je individuelle Zeichenlektüre wird dabei stimuliert und begrenzt durch die mit den Zeichen mitgesetzten Deutungsüblichkeiten. Im Gegensatz zum Hermeneutischen Religionsunterricht oder auch zur Symboldidaktik Biehls hielt die Produktion von Lesarten auf eine religiöse Deutungskompetenz, die sich nicht nur auf semantische oder syntaktische Gehalte konzentriert. Man fragt also nicht: "Was bedeutet das?", sondern: "Was bedeutet das für wen und unter welchen Umständen?" Es öffnet sich damit der Blick für die pragmatische Zeichendimension. Der Zeichendidaktik geht es primär um die kulturell bedingten Deutungen derjenigen Handlungsformen und -umstände, in denen sich Religion ästhetisch darstellt.

Eine deutlich performative Ausrichtung hat auch die post-strukturalistische ("profane") Religionspädagogik.

Sie wurde maßgeblich von D. Zilleßen und B. Beuscher in Köln entwickelt. 8  Unter Bezug auf Lacan, Derrida und v.a. Tillich soll hier der Umgang mit dem in der Wahrnehmung Verdrängten, mit dem Fremden im Eigenen geübt werden. Zeichen sollen gelesen werden – nicht etwa um deren Sinn festzustellen, sondern um ihn fortwährend zu "verflüssigen". Bedeutung gilt hier nicht wie in der Zeichendidaktik als das Ergebnis einer bestimmten Lesart, sondern sie ist Ausdruck einer Differenz, die sich in den Zeichen selber abspielt. Dieser Gedankengang lässt sich am besten am Beispiel des sog. "Freud’schen Fehler" nachvollziehen: Ohne Beeinflussung durch das denkende Subjekt verschieben sich beim Sprechen plötzlich Begriffe gegeneinander; genauer: die Signifikanten "driften" ab und erzeugen andere Signifikate. Mit jeder Abdrift ergibt sich ein neuer Sinn – aber auch der ist nur von kurzer Dauer. Jede Deutung bleibt darum immer vage, vorläufig und brüchig. Folglich bleiben auch die Lernziele, bleiben auch die religionspädagogischen Medien und Methoden "schwankend". Der Religionsunterricht zeigt sich hier spielerisch-unbestimmt – dies nicht etwa als Bezeichnung eines Ist-Zustandes, sondern als die Zielvorgabe der "profanen" Religionspädagogik. Das ganze Unterrichtsszenario befindet sich in einer fortlaufenden Bedeutungsdrift. Der Lehr-Lernprozess ist bestimmt durch das Experiment und das Spiel.

Wichtige Impulse für die Performative Religionspädagogik kommen schließlich aus der gestaltpädagogisch gedeuteten "Theologie des Wortes". Protagonist dieser didaktischen Spielform ist Christoph Bizer. 9  Er plädiert für eine der Heiligkeit des Gotteswortes angemessene Behandlung der Bibel. Er polemisiert dabei gegen zwei schulisch äußerst beliebte Fehlformen: Die Bibel als historischen Quellentext zu behandeln (wie z. B. die Thematisierung der 2-Quellen-Theorie in der 11. Klasse), verfehlt ihren evangelisch-pädagogischen Gebrauch genauso wie der weit verbreitete Missbrauch, sie lediglich als Informationsträger für "hinter" ihr liegende, "eigentliche" Mitteilungen zu nehmen. Dagegen Bizer: Nicht als "Text", sondern als Bündel zu gestaltender "Wortlaute" zeigt sich das unterscheidend Religiöse der Schrift. Reduziert man die Heilige Schrift auf einen "Text", dann hat man das Wesentliche schon verfehlt. Ähnlich desorientiert wäre ein Sportunterricht, der seine Gegenstände etwa auf das Hebelgesetz reduzierte, oder ein Musikunterricht, der sich in der Harmonielehre erschöpfte. Erst in Klanggestalt gebracht, erst im je aktuellen Verlauten ist die Bibel religionspädagogisch von Belang. Unterrichtsgegenstand ist also die ihren religiösen Gebrauch leitende Struktur. Im expressiven Nachbuchstabieren und im Gestalten ihrer Vorgaben bleibt evangelische Religion bei sich und wird probeweise begehbar.

Damit gelangen zwangsläufig auch liturgische Verläufe in die Reichweite einer religiösen Didaktik und Methodik. In der Religionsdidaktik Bizers verschränken sich gleichsam die historischen und systematischen Aspekte von Performanz.

 

3. Performanz als didaktisches Programm – Fünf Thesen 

1. Der didaktische Ort der Performativen Religionspädagogik:

Religion zum Sprechen bringen ist mehr als das Reden über Religion. Ohne konkrete Wahrnehmungen von gelebter Religion ist religiöses Lernen nicht darstellbar.

Gelebte Religion" meint die Bewegung in ihren Räumen und den leiblichen Kontakt mit ihren Formen. Als Lehrer säße man einem schlimmen Missverständnis auf, verwechselte man seinen Unterrichtsgegenstand mit einer Ansammlung von – möglicherweise noch fotokopierten – Texten. Gegenstand des Religionsunterrichts kann nur eine je konkret vollzogene Religion sein. Gelebte Religion wird aber nur über Erfahrungen und Handlungen gelernt und gelehrt. Man lernt sie gleichsam von außen nach innen. Man kommt ihr didaktisch nahe, wenn sie in ihren Erscheinungen (und Verdunkelungen) vernommen und leibräumlich gestaltet wird: ein Prophetenwort muss deklamiert, "herausposaunt" werden, ein Klagepsalm gehört an eine schulisch angemessene Klagemauer und ein Gebet muss leib-räumlich durchgespielt werden (im Sitzen, im Stehen, im Liegen, im Knien; in einer Kirche, auf einer großen Freifläche, "im stillen Kämmerlein" etc.).

Ein solcher Ansatz spricht nicht grundsätzlich gegen die Arbeit an Texten. Oftmals sind religiöse Erfahrungen und Erscheinungen ja auch gar nicht anders zugänglich als über textgebundene Mitteilungen. Nur sollte man hier – wie im "richtigen" Leben – nicht die Speisekarte mit der konkreten Mahlzeit verwechseln: Um einen Text als "unbedingt angehend" wahrnehmen zu können, muss er zuvor entsprechend "angerichtet" werden. In Form einer biblischen "Speisekarte" bleibt er gewissermaßen geschmacksneutral und ohne Resonanz. Religiöse Texte sind auf Veräußerlichungen aus.

Unterricht nimmt durch Körperhaltungen und vorgehaltene Räume Gestalt an. Jeder Text, jeder Sachverhalt muss, um gelernt zu werden, zuvor zwischen Lehr- und Lernkörpern kommuniziert werden. Traditionell dienen dazu als "Requisiten" Lehrbuch, Arbeitsblätter, Tafel und andere Medien. Bei diesen alltäglichen Präsentationsmitteln wird der Aspekt des Leibhaften häufig unterschätzt: der (lange) Weg zur Wandtafel, das Austeilen von Arbeitsblättern (begleitet von diversen Anweisungen), das (beschwerliche) Aufschlagen der Bibel – all dies sind elementare Unterrichtsakte, die von den Akteuren zunächst einmal leiblich vollzogen werden (müssen).

Auch auf den ersten Blick zunächst einmal "rein kognitive" Unterrichtsformen unterliegen den Bedingungen szenischer Darstellung. So kann bspw. kein Text rezipiert werden, der nicht zuvor gelesen wurde. Dieser Satz ist lerntheoretisch trivial, inszenatorisch aber von großer Bedeutung. Denn der Lesevorgang, die schulische Lernform schlechthin, erweist sich bei genauem Hinsehen als ein zutiefst leiblicher und räumlicher Vollzug: Die Augen folgen einer perlenschnurähnlich aufgereihten Wortreihe, eine Blickbewegung, die zu einer bestimmten Haltung des Kopfes bzw. des Oberkörpers nötigt. Fortlaufend erzeugt die Lektüre innere Bilder – also zwei- oder dreidimensionale Raum-Vorstellungen, ohne die kaum ein Wort mit Bedeutung belehnt werden kann.

Wie also lassen wir lesen? Auf einem eilig kopierten "Zettel", wie Arbeitsblätter oftmals benannt werden, zeigt sich ein Bibel-Text anders als in der (mehr oder weniger mühsam) aufzuschlagenden Schulbibel oder in Gestalt etwa eines Textbausteins, der sich neben vielen anderen nichtbiblischen Inhalts auf der Doppelseite eines Religionsbuches wieder findet. Schon die bloße Präsentationsform beinhaltet eine Vorentscheidung über die veranschlagten Lehr-Ziele und Lern-Chancen. Function follows form. Formen aber sind methodisch durchaus variabel. Unterrichtende können ja schließlich festlegen, in welcher Weise die gewünschte Textfunktion zum Ausdruck gebracht werden soll: als gehörte, d. h. erzählte oder vorgelesene oder gar gemeinsam gesungene Bibelverse; als Stillarbeit oder als für alle vernehmliches Vorlesen; oder gar als szenisch dargestellte oder einfach nur gemalte bzw. kalligraphierte Bibelworte. Methoden variieren immer auch Inhaltserwartungen. 

2. Der theologische Ort: Zwischen protestantischem Wortverständnis und ästhetischer Erfahrung besteht ein enges Wechselverhältnis. Die systematisch-theologische Rede vom Wort-Ereignis hat auch eine religionspädagogische Außenseite.

Es war Luthers feste Überzeugung, dass das Bibelwort solange nicht Evangelium ist, bis es verlautet, gehört und als solches realisiert wird. Die leib-räumliche Gestalt ist konstitutiv für das Wortgeschehen. Das macht die Hermeneutik des sola scriptura abbildbar auf die der ästhetischen Wirkung.

Das verbum externum, das äußerliche Wort, ist für Luther das sinnliche Zeichen göttlicher Selbstmitteilung. In ihm nimmt der redende Gott für den hörenden Menschen verheißungsvoll Gestalt an. Der Zuspruch der Gnade ergeht in Form der Darstellung. Vor und außerhalb dieses Inszenierungsrahmens, also unabhängig von der Mündlichkeit des Gotteswortes, kann der Adressat nicht wirklich erreicht werden. Das Lesen vermag eben nicht soviel wie das Hören – lectio non proficit tantum, quantum auditio." 10  Die Kirche ist darum auch eher "Mundhaus" denn "Federhaus". 11 

Evangelischerseits ist die Heilige Schrift wesentlich Anrede, nicht aber Anschreiben: "natura verbi est audiri". Es gehört zur Natur des Wortes, gehört zu werden.12  Das Wort wirkt, indem es zur Sprache kommt. Es setzt, was es sagt, indem es verlautet und von einem angesprochenen Subjekt als angehende Botschaft geglaubt wird.

Erst das präsentierte, also das öffentlich aus- und aufgeführte Wort setzt diejenige Referenz in Kraft, von der es handelt und die es letztlich bezeugt. Promissio und fides, Verheißung und Glaube, korrelieren im Modus der Präsentation. Das Evangelium muss eben auch und gerade äußerlich ankommen, damit es nicht in schwärmerischer Attitüde unmittelbar und unbefragbar in der Subjektivität seiner Hörer aufgeht.

Wendet man nun diese schrift-theologische Einsicht ins Pädagogische, dann besteht der angemessene Umgang mit der Bibel darin, dieser Eigenbewegung des Wortes Zeit, Raum und Ausdruck zu geben. Wortlaute der Heiligen Schrift sind dann so in Szene zu setzen, dass sie im freien Zugriff als Orientierungsgewinne – also bildend – zu Buche schlagen. Es ist somit auch – streng lutherisch genommen – ein folgenreiches Fehlurteil, unsere evangelische Religion einfach fraglos einzureihen in die sog. "Buch- oder gar Schriftreligionen". Protestanten haben keine Religion des Buches, sondern eine Religion der Aufführung. Ich spitze zu: Evangelische Religion ist allem Anschein zum Trotz eine Inszenierungsreligion

3. Der raumtheoretische Ort: Kein Unterrichtsgegenstand ist einfach abstrakt gegeben. Vielmehr teilt er sich mit, indem man mit ihm umgeht, sich in ihn hinein begibt, sich in ihm bewegt, sich in ihm und zu ihm verortet.

Diese in der These angedeuteten Umgangsformen beanspruchen einen bestimmten Raum. Um begangen und bewohnt zu werden, muss ein angemessener Raum erst einmal pädagogisch eingeräumt werden. Wie das Lesen einen Raum der Stille braucht, so braucht die Gruppenarbeit einen Kommunikationsraum geschäftigen Miteinanders. Räume, Schulräume, ja ganze Schulen erzeugen eine je eigene Wahrnehmung. Und diese Wahrnehmung teilt sich einem ganz spontan mit: Man fühlt sich wohl oder unwohl, man ist abgelenkt oder angetan, ist konzentriert oder zerstreut.

In der Schule werden Räume zu Wahrnehmungs- und Handlungsräumen, zu Räumen also, in denen Lernende miteinander ihre Lernanlässe leiblich aushandeln. Jeder Raum kann durch seine Gestalt und seine Ausstattung bestimmte Handlungen nahe legen (manchmal auch verhindern). Räume können sich aber auch durch die in ihnen stattfindenden Tätigkeiten verändern: eine Kirche, in der ein Gospelchor auftritt, wird zur Konzerthalle, eine Schule, in der eine Ausstellung aushängt, zur Galerie und eine Sporthalle, die einen Flohmarkt beherbergt, zum Kaufhaus.

Jede Verrichtung stimmt den Raum in besonderer Weise – sie macht ihn sich zum Umraum. Und zugleich legt die Verrichtung auch die Zeit fest, in der er als Umraum fungiert. Umräume sind wesenhaft Zeit-Räume, zeitweilige Räume. 

4. Der rollentheoretische Ort: In einem performativen Religionsunterricht nehmen die SchülerInnen eine höchst aktive Rolle ein. Selbsttätig wird Religion in ihren Formen und Figuren ertastet, erspielt, gesehen, gehört und bewegt.

Im Unterricht wie im Theater übernehmen Menschen gewisse Rollen. Sie verkörpern für sich und andere eine bestimmte Figur. Diese können pädagogisch formiert sein, wie etwa der "Klassenclown", die "Streberin" oder der "Oberlehrer". Sie können aber auch durch den Unterrichtsprozess selbst motiviert sein. Rollenzuschreibungen bzw. -übernahmen ergeben sich (drittens) im Hinblick auf die Methoden: Gruppen- und Stillarbeit, reproduktive und kreative Verfahren, Schreibaufgaben und szenisches Spiel bringen je spezifische Rollen hervor. Über ihre jeweilige Darstellung besetzen die Akteure erwartbare Funktionen innerhalb eines umfassenden Handlungsgefüges. Diese Spielfunktionen halten das (unterrichts-)dramatische Geschehen in Gang. Figuren und Funktionen werden mit Charakteren erfüllt, Haupt- und Nebenrollen situativ besetzt (und umbesetzt). Die Unterrichtshandlung wird forciert, verschleppt, zum Stillstand gebracht. Bisweilen werden dramatische Konflikte herbeigeführt und gelöst. Monologe des in die Rolle des Hauptdarstellers gewechselten Regisseurs werden ertragen, unterbrochen oder schlichtweg ignoriert.

Schülerinnen und Schüler übernehmen diese Rollenangebote auf dem Hintergrund ihres Lebenszusammenhangs. Sie bewegen sich mit Leib und Seele im Raum und geben ihrer Rolle eine Lern- und Präsentationsgestalt. Das ist eben ihr Modus, der geformten Religion nachzudenken.

Solch personales und kommunikatives Lernen erfordert von den Lernenden das Einklinken, Mitmachen, aber auch die genaue Beobachtung. Es nötigt sie, "Theaterzuschauer" und "Theoretiker" in einem zu sein.

Zunächst jedoch besteht die Rolle der Lehrperson vor allem darin, einen Gegenstand einzuspielen, der religiös zu lernen geben soll. Dieser Gegenstand hat mit der Religion der Lehrenden zu tun, ist aber nicht mit ihr identisch. Der Unterrichtsgegenstand repräsentiert diese seine Religion auf besondere Weise. An diesem Gegenstand vermag – den gelingenden Fall vorausgesetzt – die Lehrperson zu zeigen, wie ihre von vielen anderen Christenmenschen geteilte Religion aussieht und wie sie sich im Leben auswirkt. Dieses methodisch kontrollierte Aufzeigen nimmt sie als Lehrperson vor, nicht etwa als Privatperson. Die Pointe des konfessionellen Religionsunterrichts besteht aber gerade darin, dass sich die von der Lehrperson gelehrte Religion auch und gerade auf die von der Privatperson gelebte Religion bezieht.

Als personaler Repräsentant der eigenen Religion hat der Lehrer, die Lehrerin das eigene Unterrichtsszenario pädagogisch zu verantworten und religionspädagogisch angemessen zu inszenieren. Das Ausfüllen der Lehrer-Rolle besteht darin, für jeweils ein Stück evangelischer Religion der Lerngruppe Erschließungsformen anzubieten, die es ihr ermöglichen, dessen Wirkweisen für sich im freien Zugriff aufzuschließen. An der Art und Weise seines Gegenstandsbezugs können die Lernenden dann ablesen, was es mit dieser Religion auf sich hat. Die Konfession der Religionslehrerin hat für die Schülerinnen und Schüler eine wichtige Vergewisserungsfunktion, macht sie doch ihre/seine Perspektive kenntlich, ihren Platz, den sie im religiösen Raum einnimmt.

Wird dagegen das inszenatorische Handeln zum Selbstzweck, z. B. durch die Selbstinszenierung des Lehrers oder der Lehrerin, dann kommt diese Verweisfunktion zum Erliegen. Die Professionalität (latein.: professio – wörtl.: öffentliches Bekenntnis), der die Lehrperson in ihrer eigenen Rolle Gestalt verleiht, kommt vielmehr zum Ausdruck im reflektierten Umgang mit und im Eröffnen von angemessenen Zugängen zu ihrer Religion.

Sie ist unterrichtlich präsent, indem sie die Religion, der sie sich als Person in besonderer Weise verbunden weiß, auf der öffentlichen Bühne des Unterrichts bewegend in Szene setzt. Eine gekonnte Unterrichtsinszenierung erfordert also eine professionelle "Teilheitlichkeit", eine Selbstbewahrung in Formen.

Für die Requisiten (Methoden, Medien) und die dramatische Vorlage (Unterrichtsstoff) ist der Unterrichtende verantwortlich, für die Lernziele nur bedingt und für die Inhalte nur insofern, als er der Urheber des szenischen Arrangements ist, innerhalb dessen sich ein vorgegebener Stoff prozesshaft als Inhalt konstituiert.

Versteckt sich der Spieler hinter einer unpassenden Maske, geht dem Lernprozess das Minimum an Wiedererkennbarkeit verloren. Geht der Spieler jedoch konturlos in seiner Rolle auf, wird er zum Selbstdarsteller. Erst die Balance von Nähe und Distanz zwischen Person und gespielter Figur führt zu überzeugenden Darstellungen. 

5. Der somatische Ort: Evangelische Religion ist auf leibliche Gestaltung aus.

Um die "Praxis des Evangeliums" (Ernst Lange) unterrichtlich zu erschließen, muss man ihre Räume aufsuchen, sie begehen und sie gemeinsam rekonstruieren. Diese Forderung bezieht sich nicht nur die authentischen Behältnisse – etwa Kirchengebäude oder Friedhöfe oder all die säkularen Räumlichkeiten wie die Banken-Tempel, Kino-Paläste und Einkaufs-Paradiese – diese Forderung zielt ebenso auf die Ebene der Verhältnisse. Lernen ist immer in bestimmter Weise leiblich situiert: Ein Klassenraum erscheint von der Tafel aus anders als von der letzten Bank, ein Gebet erzeugt in einer Kapelle andere Resonanzen als in einer nüchternen Schul-Aula, und ein Kunstbild wirkt in einem Museum authentischer als auf einem schmucklosen Arbeitsblatt.

Die Frage danach, wer ich bin, korreliert demnach eng mit der Frage, wo ich bin: "Ich arbeite bei VW" oder "Ich bin bei der Kirche und komme aus Göttingen". Jeder Akteur ist mitdefiniert durch seine Sicht von dem Platz aus, den er einnimmt. Platz-Verweise sind insofern spielentscheidend, als sie die Betroffenen um alle ihre Interaktionschancen bringen. Es ist nur konsequent, wenn diese dann nicht emotionslos hingenommen werden können.

Menschen ohne identifizierbaren Platz laufen Gefahr, ihre sozialen Perspektiven einzubüßen. Diese Erfahrung verbindet heutige Wohnungslose mit dem lukanischen Jesus, dem schon als Ungeborener "kein Raum in der Herberge" gewährt wurde (Lk 2, 17). Und der auch in der Folgezeit eines dauerhaften Platzes entbehrte, "wo er sein Haupt hinlegen" konnte (Lk 9, 58; Mt 8, 20). Der Habitus bestimmt das Habitat – dies eine der zentralen Grundannahmen der Soziologie Pierre Bourdieus.13 

Jede und jeder realisiert von seinem derzeitigen Platz aus den sich darbietenden Lern-Raum in anderer Weise. Der momentane Platz ist bestimmt durch die eigene Perspektive, die eigene Gestimmtheit und die eigenen Biographie. Perspektiven schaffen Differenzen: "Meine Sicht ist nicht deine Sicht. Sie kann es auch gar nicht sein, weil du z. Zt. anders platziert bist."

Auch und gerade im Bereich der Religion erfolgt die Wahrnehmung von Unterrichtsgegenständen immer aus einem bestimmten Blickwinkel heraus. Dieser Blickwinkel ist so beschaffen und begrenzt, wie die leibliche und soziale Ausstattung des Einzelnen individuell ist. Um die eigene Perspektive, den eigenen Ort wechseln zu können, muss die Stellung im Raum verlassen werden. Erst Bewegung sorgt für neue Einsichten – eines der elementaren Lernziele des Bibliodramas.

Im Bibliodrama wird damit ernst gemacht, dass jede Geste, jede Körperhaltung und jede Bewegung Räume entstehen lässt, die "Sinn machen". Im Nachspielen biblischer Sujets wird der leibliche Ausdruck zum hermeneutischen Kriterium. Durch Positionierung und Verlagerung können Textrelationen moduliert werden, Auftritte und Abgänge halten Inhalte im Vollzug präsent. Im biblischen Texttheater verschränken sich lebensweltliche Erfahrung und biblischer Text im Modus theatraler Vergegenwärtigung. Die Akteure fingieren einen szenischen Raum und spielen sich in verschiedenen Rollen in einen Referenztext ein. Dieser vermittelt sich den Spielenden über die leibliche Darstellung. Sie begeben sich auf Zeit und unter kontrollierten Bedingungen unterrichtlichen Probehandelns in die – zunächst fremde – Textwelt hinein. Das Sujet wird also zeitlich und räumlich gedehnt, um es sich in dieser Gestalt anzueignen.

Wichtig erscheint mir jedoch, hierbei Reflexion und Präsentation enger als oft praktiziert aufeinander zu beziehen. Andernfalls kann das Ganze leicht umkippen in eine bösartige Gefühligkeit, der ihr Stimulus letztlich gleichgültig ist. Die Differenz zwischen dem Wort Gottes und der Inszenierung seiner Weitergabe muss diskursiv präsent gehalten werden. Ebenso die Differenz zwischen authentischer religiöser Praxis und pädagogischer Formgebung. Verschwimmen diese Konturen – etwa unter dem Vorzeichen einer übergriffigen Kreativität oder einer falsch verstandenen Handlungsorientierung –, dann mutiert Unterricht schnell in Psychokitsch oder religiöse Folklore. Muslimische Gebetsgesten mal eben nachzuspielen hat mit interreligiösem Dialog ebenso wenig zu tun wie die Reduktion eines Klage-Psalms auf die Frage "Wie habt ihr euch dabei gefühlt?" mit einer leib-räumlichen Erschließung.14 

 

4. Schluss

Die szenische Ausdehnung des Unterrichts ist wichtig für den Religionsunterricht, weil sich die Praxis des Evangeliums nicht auf abstrakte Einsichten und Bewusstseinsphänomene beschränkt. Ob man dies nun mit der Vokabel "Performativer Religionsunterricht" belegt, ist demgegenüber relativ unwichtig. Wohl aber müssen wir in Zukunft – wollen wir dem gesteigertem ästhetischen Bewusstsein unserer Schülerinnen und Schüler und der Eigenart unserer religiösen Gegenstände gerecht werden – der Gestaltqualität und der Theatralität unseres Tuns mehr Bedeutung zumessen. Dadurch wird ins Bewusstsein gehoben, dass nur dargestellte, d. h. räumlich wahrnehmbare und leiblich vermittelte Inhalte als bedeutsam erkannt und moduliert werden können. Methoden sind so gesehen immer tätige Formen. Sie bieten den Rahmen, in dem aus dem Gegenstand ein Inhalt, aus der Partitur eine Performance, aus dem Text ein Lernstück wird. Inhalte, auch und gerade religiöse Inhalte, gibt es nicht ohne die sie bergenden Formen. Es gibt sie nur performativ – per formam.

Lehrende und Lernende können so gesehen nicht nicht inszenieren. Wohl aber können sie ihr Lehrstück gut oder weniger gut in Szene setzen.

 

Anmerkungen

  1. Z. B. Chr. Bizer: Liturgik und Didaktik. In: Jahrbuch Religionspädagogik (JRP) Bd. 5 (1988). Neukirchen-Vluyn 1989, 83-111 (86).
  2. E. Bentley: Das lebendige Drama. Eine elementare Dramaturgie. Hannover 1967 [The Life of the Drama. London 1965], 149.
  3. W. Iser: Fingieren als anthropologische Dimension der Literatur. Konstanz 1990. Ders.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1993; Ders.: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 19944 [1976].
  4. H. Linke: Drama und Theater. In: I. Glier (Hg.): Reimpaargedichte, Drama, Prosa. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. III/2 (1987); S. 153-233 (156).
  5. Diesen programmatischen Titel stellte Biehl über seine beiden ersten Symbol-Bücher: Symbole geben zu lernen. Einführung in die Symboldidaktik anhand der Symbole Hand, Haus und Weg. Neukirchen-Vluyn 1989 u. Symbole geben zu lernen II. Zum Beispiel: Brot, Wasser und Kreuz. Beiträge zur Symbol- und Sakramentendidaktik. Neukirchen-Vluyn 1993.
  6. R. Englerts Resümee "’Performativer Religionsunterricht!?’ Anmerkungen zu den Aufsätzen von Schmid, Dressler und Schoberth" (in rhs 1/2002, 32-36) greift zu kurz, wenn er "die verschiedenen in jüngster Zeit entwickelten Ansätze" auf die Formel eines "erfahrungseröffnenden Lernens" bringt (32). Performances lassen nicht einfach nur "handlungsorientiert" die Schüler etwas in Erfahrung bringen; sie erschöpfen sich auch nicht in der Forderung nach "experimentelle(n) Zugänge(n)". Das Zeigen und Anschauenvon Religion ist mehr als nur eine schülernahe Reaktion auf den sog. "Traditionsabbruch". Die für das Performative typische Balance zwischen tentativer Präsentation und Für-wahr-Nehmen gibt immer auch zu denken und zu deuten.
  7. Hier ist v. a. M. Meyer-Blancks kleine, aber einflussreiche Schrift ’Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik’ (Hannover 1995) zu nennen, die mittlerweile in einer zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage vorliegt (Rheinbach 2002). Diese Impulse wurden aufgenommen und didaktisch fortgeführt u. a. in B. Dressler / M. Meyer-Blanck (Hgg.): Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik. Münster 1998; B. Dressler (Hg.): Religion zeigen. Zeichendidaktische Entwürfe. Loccum 2002; Th. Klie: Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie. Gütersloh 2003, 397 ff.
  8. Vgl. B. Beuscher: Positives Paradox. Entwurf einer neostrukturalistischen Religionspädagogik. Wien 1993; B. Beuscher / D. Zilleßen: Religion und Profanität. Entwurf einer profanen Religionspädagogik. Weinheim 1998. Zu den unterrichtspraktischen Konsequenzen vgl. das von D. Zilleßen und U. Gerber besorgte Religionsbuch: Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichtskonzept religion elementar. Frankfurt/M. 1997.
  9. V. a. Chr. Bizer: Die Heilige Schrift der Kirche und der Religionsunterricht in der öffentlichen Schule. Ein religionspädagogischer Gedankengang. In JRP Bd. 8, Neukirchen-Vluyn 1992, 115-138; ders.: Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltung von Religion. Göttingen 1995. – In diesem Zusammenhang sind auch zu nennen die Bizer-Schüler/in H. - M. Gutmann (Symbole zwischen Macht und Spiel. Religionspädagogische und liturgische Untersuchungen zum "Opfer". Göttingen 1996; ders: Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule und populärer Kultur. Gütersloh 1998) und I. Schoberth (Glauben lernen. Grundlegung einer katechetischen Theologie. Stuttgart 1998; dies.: Glauben-lernen heißt eine Sprache lernen. Exemplarisch durchgeführt an einer Performance zu Psalm 120. rhs 1/2002, 20-31).
  10. WA 13, 686, 9f: 1524/26.
  11. WA 10/I:2, 48, 5-7: Adventspostille (1522).
  12. WA 4, 9, 18 f.: 1513/16.
  13. P. Bourdieu: Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum. In M. Wenz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt, New York 1991, 25-34 (32).

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2003

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