Glaubensarbeit – Bildungsarbeit - Bemerkungen zu Bildung, Religion und Glauben in der modernen Gesellschaft*

von Wolfgang Vögele 

 

A. Kaddisch

Es ist ein Morgen im Frühjahr 1997, ein Tag im März, irgendwo in der amerikanischen Hauptstadt Washington, D.C.: Ein Mann wacht auf nach einer Nacht, in der er schlecht geschlafen hat. Unruhig ist er, fahrig, nervös; er denkt über das letzte Jahr nach. Er steht auf, und er notiert in sein Tagebuch, wie wichtig dieses letzte Jahr für ihn war. An jedem Tag, schreibt er, ist etwas geschehen, das für mich von Bedeutung war. Kein banaler Tag war dabei. Jeder Tag von Bedeutung – ein ganzes Jahr lang.

Was ist vor einem Jahr geschehen? Dieser Mann, der schlecht geschlafen hat, heißt Leon Wieseltier, geboren 1952, Journalist und Literaturkritiker bei der Zeitschrift "The New Republic". Vor einem Jahr, am 24. März 1996, ist sein Vater gestorben, Mark Wieseltier. Mark Wieseltier war ein frommer Jude. Sein Sohn hatte vor diesem Ereignis dem jüdischen Glauben keine Beachtung geschenkt. Nun, nach dem Tod übernimmt der Sohn die vorgesehene Trauerpflicht und spricht ein Jahr lang täglich, morgens, mittags und abends in der Synagoge das Toten- und Trauergebet Kaddisch: "Geheiligt und gepriesen sei sein großer Name in der Welt, die er geschaffen hat."

Wieseltier leistet Trauerarbeit, erfüllt eine vorgesehene Pflicht gegenüber seinem Vater. Und in diesem Ritual, in diesem Gebot, in dieser einjährigen Trauer entdeckt Wieseltier seine eigene Religion, den jüdischen Glauben neu für sich. Er fragt sich: Was macht dieses Gebet mit mir? Was stellt es mit mir an? Wie verändert es mich? Wie kommt es dazu, dass die jüdische Tradition für den Tod enger Verwandter ein solches Ritual vorsieht?

Das Kaddisch, das Totengebet, verändert den Journalisten Wieseltier von Grund auf. Er notiert sich diese Erfahrungen, und irgendwann bezeichnet er das Kaddisch als sein "großes Glück". Es gibt ihm Form und Inhalt für seine Trauerzeit wie ein verlässliches Geländer, er muss sich seine Trauerrituale nicht selbst erfinden. Das religiöse Ritual tritt an die Stelle der Rituale der Banalität, die vorher sein Leben bestimmt hatten.

Im Jahr des Kaddisch erschließen sich Wieseltier die hilfreichen Seiten der Religion seines Vaters. Mit Staunen bemerkt er, wie das tägliche Gebet ihn verändert. Das Gebet bringt ihn zum Nachdenken. Zorn ergreift ihn, weil sein Vater früh sterben musste. Er entdeckt, dass Zorn über den Tod Dummheit wäre. Denn er kann, was geschehen ist, nicht mehr ändern. Im Beten des Kaddisch arbeitet er sich an seinem Zorn ab und lernt, den Tod des Vaters anzunehmen und zu akzeptieren. "Denke nach!", schreibt Wieseltier, "ist die wahre Botschaft des Todes."

Beten und Nachdenken rufen in Wieseltier Veränderungen hervor, Veränderungen des Glaubens. Die Trauerarbeit ist für ihn zugleich Glaubensarbeit und Bildungsarbeit. Das Beten des Kaddisch hat den Journalisten und Menschen Wieseltier verwandelt: Er hat neu entdeckt, dass er in seiner eigenen, jahrelang vernachlässigten Religion Trost, Hilfe, Halt finden kann. Er hat sein Verhältnis zum toten Vater neu bestimmt, denn die Religion, die ihm Trost gibt, ist die Religion seines Vaters – und diese Religion hat er jahrelang heftig abgelehnt. Nun, nach dem Trauerjahr, versteht er: Der Vater hat versucht, ihm die Wahrheit zu vermitteln, an die er glaubte. Und der Sohn erkennt: Es ist besser, wenn Eltern ihren Kindern religiöse Überzeugungen und Wahrheiten weiterzugeben suchen, anstatt sich solchen Fragen gegenüber gleichgültig zu verhalten. Fromme Eltern sind sich ihrer Wahrheit sicher; ihr Glaube ist von keinem Zweifel angekränkelt. Die Kinder können diesen Glauben übernehmen und annehmen, sie können aber auch dagegen rebellieren. Wieseltier hat rebelliert. In diesem Trauerjahr wird er zu jemandem, der neu nach der Wahrheit fragt, darüber nachdenkt, Glauben, Gott und den Tod hin- und herbewegt. Das Gegenteil der Frage nach Wahrheit sind Gleichgültigkeit und Beliebigkeit.

Wieseltier verwandelt sich nicht in einen orthodoxen Juden: Er kehrt nicht einfach in die Synagoge zurück und stimmt nicht allem zu, was dort gesagt wird. Statt dessen prüft Wieseltier, was er glauben soll, was er glauben kann.

Leon Wieseltier hat über das Jahr des Kaddisch eines der faszinierendsten theologischen Bücher der letzten Jahre geschrieben, eine Mischung aus Tagebuch, Essays und Aphorismen; diese Betrachtungen faszinieren den Leser in ihrer philosophischen Brillanz und in ihrer psychologischen Subtilität.

Daneben zeigen sie eine bestimmte Art von "Arbeit", am eigenen Glauben wie an der religiösen Tradition: "Glaubensarbeit". In dieser Arbeit am Glauben und am religiösen Wissen verändert sich Wieseltier selbst, seinen Glauben, sein Leben, sein Wissen, seine Bildung. Der Ausdruck "Glaubensarbeit" ist dabei bewusst gewählt; er soll zeigen, dass Religion nicht nur Passivität, nicht nur Rückzug, nicht nur frommes Gefühl umfasst. Zum Glauben gehören auch intellektuelle Tätigkeit, Verstehen und Nachdenken, gehören Bildung, Handeln und gemeinsames Leben.

All das repräsentiert Wieseltier. Seine "Glaubensarbeit" ist zunächst einmal ein höchst individuelles Geschehen; darum schreibt er darüber in einer Art Tagebuch. In aller Individualität aber drückt sich so etwas wie eine allgemeine Erfahrung aus: Sonst hätte Wieseltier das Tagebuch nicht publiziert, und es wäre in den USA nicht zum Bestseller geworden. Doch wer das Buch liest, übernimmt nicht einfach Wieseltiers Sicht von Religion, statt dessen veranlasst ihn das Buch dazu, selbst "Glaubensarbeit" zu betreiben, sich selbst in den religiösen Erfahrungen eines anderen wiederzuentdecken – oder auch nicht. Wieseltiers Buch ist Glaubensarbeit, die wiederum Glaubensarbeit erzeugen soll, bei den Lesern. Nicht Nachahmung, sondern die Erzeugung von Reflexion ist sein Ziel.

Der Ausdruck "Glaubensarbeit" zeigt schließlich an, dass Religion nicht statisch zu begreifen ist. Glauben geht nicht in der Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Synagoge oder Moschee auf. Wieseltiers Beispiel zeigt, dass Menschen Erfahrungen mit Glauben und Religion machen. Diese Erfahrungen verdichten sich zu Entwicklungen, zu Geschichten; zusammengefasst ergeben sie eine religiöse Biographie.

Bei Wieseltier führt die "Glaubensarbeit" in die eigene jüdische Religion zurück. Das muss aber nicht so sein. Im nächsten Beispiel führt Glaubensarbeit an die Grenze der Religion.

 

B. Nach Gott

Im Jahr 1952 immatrikuliert sich ein junger englischer Student, Don Cupitt, an der Universität Cambridge für Naturwissenschaften. Doch dieses Studium hält er nur einige Wochen lang durch. Er bricht es ab, konvertiert zum christlichen Glauben, beginnt ein Theologiestudium und wird nach sieben Jahren zum Priester der anglikanischen Kirche geweiht.

Später erklärt er sich das so: Als junger Mann in den Nachkriegsjahren suchte er nach einem sicheren Halt. Diesen fand er im anglikanischen Neo-Konservativismus der fünfziger Jahre. Er war bestimmt durch einen Hang zur Mystik, durch die Forderung nach Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Kirche, durch eine Tendenz zur Opposition gegen die säkulare Gesellschaft. Dieses Geborgensein in einer einheitlichen anglikanischen Tradition lieferte ihm als Studenten Zufluchtsorte, die ihn vor den Zumutungen der Moderne vermeintlich schützten. Doch je länger er als Theologe und Priester arbeitete, desto mehr nahm Cupitt diese modernen Entwicklungen wahr, die seinen heimeligen anglikanischen Glauben in Frage stellten: wissenschaftlichen Fortschritt, Pluralismus und Individualismus, die Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien.

Solche Entwicklungen erweisen sich als Gefahr für religiöse Traditionen. In solchen Situationen kann man versuchen, Religion zu verteidigen, Tradition zu bewahren oder ein neues Verständnis von Religion zu entwickeln. Cupitt entscheidet sich für das zweite und nimmt die Herausforderung an. Für ihn bringt es die Moderne mit sich, dass aller Glaube an "Offenbarungen", an religiöse Wirklichkeiten jenseits unserer alltäglichen oder unserer wissenschaftlichen Wahrnehmung verloren geht.

Die Entwicklung der modernen Welt – das ist Cupitts These – hat gravierende Auswirkungen auf die Religion: Sie fördert einen Naturalismus, welcher das Offenbarungselement in der Religion zerstört. Religion ist nicht mehr Beschreibung, Offenbarung oder Aufdeckung irgendeiner jenseitigen Welt. Dem Reden über Gott entspricht keine ontologische Realität. Wer über Gott redet, redet nicht über etwas "Wirkliches". Religion kann nicht als politischer Wertekanon, nicht als Privatsache, nicht als Ausdruck von Subjektivität und nicht als Gegenkultur überleben. Vielmehr reduziert Cupitt Religion auf Sprache; in seinem Verständnis ist sie nicht mehr als ein Zeichen- und Symbolsystem.

Konsequent wechselt Cupitt im Lauf der Jahrzehnte seinen beruflichen Standort: Er wird Religionsphilosoph und Fernsehmoderator. Er entwirft und postuliert eine "Religion nach den Göttern", die sich radikal von allen traditionellen Religionen unterscheidet. Er strebt eine Religionskultur an, die nicht mehr "übernatürliche Doktrin" ist, sondern "ein Experiment in Individualität".

Als solche behaupten sich religiöse Äußerungen mitten im "Kommunikationsnetz" der Realität, die er als einen grenzenlosen "Strom von Zeichen" begreift.

Cupitt schlägt eine Religion vor, die ohne Metaphysik, ohne Glaubensbekenntnis, ohne Macht und Autorität, ja fast ohne Gemeinschaft auskommt. Wenn die Wahrheiten über das Jenseits von Bord gefegt wurden, bleibt Religion als ein "Werkzeugkasten": In ihr und durch sie lernt der Mensch, sich selbst zu erkennen. Er kann so tun, als sähe er sich im Lichte Gottes (das Auge Gottes). Er kann lernen, seine Vergänglichkeit und Unwirklichkeit zu akzeptieren (die glückselige Leere). Er kann weiter lernen, das Leben zu bejahen (solare Existenz). Nach dem Zusammenbruch der Metaphysik fügt Cupitt die Reste religiöser Tradition zu einer "poetischen Theologie" zusammen. Die großen religiösen Erzählungen sind zusammengebrochen. Die Moderne hat die Religion besiegt. Wer dagegen aufbegehrt und die alten theistischen Vorstellungen hochhält, dem unterstellt er "kosmologische[n] Terrorismus".

Diese Religionsphilosophie nennt Cupitt interessanterweise immer noch einen christlichen Glauben. Aber Gott ist für ihn nur noch ein religiöses Ideal. Menschen beten zu ihm in derselben Weise wie sie mit einem toten Menschen sprechen. Dieses Gott-Ideal versteht Cupitt als Liebe. Sie ist der höchste Wert, und als solcher nimmt sie in Jesus von Nazareth Menschengestalt an. Das nennt Cupitt eine "minimalistische Version christlicher Theologie" in der Tradition Immanuel Kants und Albrecht Ritschls. So kann man für Cupitt in der (Post-)Moderne, "(eine Art) Christ sein" und die alte Irrationalität und Unwahrheit der Religion abstreifen.

Cupitt strebt nach neuen Inhalten und Gestalten von Religion, die den postmodernen Bedingungen standhalten können. Eine solche Religion braucht zum eigenen Zusammenhalt, für die soziale Organisation selbstverständlich keine Institution mehr. Sie ist keine Kirche und keine Sekte und kein religiöser Verein. Da jeder seine eigene Religion für sich "schafft", genügt es, wenn die religiösen Individualisten und Virtuosen sich in lockeren Netzwerken austauschen.

Ich will hier nicht Cupitts Religionsphilosophie umfassend würdigen. Ich will auch nicht die Frage beantworten, ob das wirklich noch ein christlicher Glaube ist. Mich interessieren die Prozesse der Glaubens- und Bildungsarbeit, die in solchen oft langfristigen Entwicklungen ablaufen. Solche Prozesse können unterschiedliche Richtungen einschlagen: Wieseltier haben sie in die Synagoge zurückgeführt. Cupitt hat sich von seinen Überlegungen aus der anglikanischen Kirche herausleiten lassen. Wieseltiers ungläubiger und skeptischer Säkularismus verwandelt sich in eine kritische Sympathie für die jüdische Theologie. Cupitts neokonservativer Anglikanismus löst sich in eine Religionsphilosophie auf, die nur noch entfernt an den christlichen Glauben erinnert. Wieseltier entdeckt die Schwerkraft seiner jüdischen Religion, Cupitt entdeckt die Schwerkraft der postmodernen Gesellschaft.

Gemeinsam ist beiden ein eher intellektueller Zugang zu Glauben und Religion. Beide wollen nicht gezwungen werden, für wahr und richtig zu halten, was sie nicht verstanden haben und was sie nicht nachvollziehen können. Beide entwickeln aus persönlichen biographischen Erfahrungen theologische und religiöse Überlegungen. Daraus resultiert kein missionarischer Eifer, wohl aber der Wunsch, einer breiteren Öffentlichkeit die eigene Entwicklung zu vermitteln und um ihre Plausibilität zu werben. Glaubens- und Bildungsarbeit gehören für beide zusammen, nicht im Sinne einer Religionspädagogik, wohl aber im Sinne eines Öffentlichkeitsanspruchs. Zugehörigkeit zu einer religiösen Institution ist für beide nicht wichtig. Ihre religiösen Grundentscheidungen ergeben und erklären sich aus ihrer Biographie – und dennoch eignet diesen Grundentscheidungen ein Moment von Allgemeinheit. Andere können das nachvollziehen, was Cupitt und Wieseltier in ihren Büchern beschreiben.

 

C. Glauben und Handeln

Auch das dritte Beispiel zeigt die Verquickung von Lebensgeschichte und Religion. Die ganze theologische Entwicklung lässt sich als Auswirkung eines prägenden Erlebnisses in der Jugend deuten.

Ein drittes Beispiel – und wieder eine ganz andere religiöse Entwicklung: Aus dem Zusammenbruch einer totalitären Ideologie entwickelt sich eine christliche Theologie der emphatischen Verknüpfung von ideologiekritischem Glauben und ethischem Handeln.

Es ist das Beispiel eines evangelischen Pastors, der ein paar Jahre lang, unter anderem am Scharnhorst-Gymnasium, Religionslehrer in Hildesheim war. Hans May, von 1979 bis 1994 Direktor der Evangelischen Akademie Loccum, hatte eines seiner prägenden Erlebnisse mit vierzehn Jahren. Er erzählt davon in der Rede, die er bei seiner Einführung als Direktor der Akademie hielt: Am Ende des zweiten Weltkriegs, im April 1945 befand sich May als Hitlerjunge in einem Lager in Österreich. Dann kam die Nachricht vom Selbstmord Adolf Hitlers. "Am Morgen des 30.April", schreibt May, "ließ unser Lagerleiter uns antreten und verkündete: Der Führer ist tot. Um das Bild des ‚Führers‘ wurde ein Trauerflor gelegt. Wir waren stumm. Einige meiner Kameraden weinten." Das ist sozusagen eine antireligiöse Szene schlechthin: Ein menschlicher Gott, vergötterter Diktator erweist sich als sterblich.

Diese Szene hat einen tiefen symbolischen Gehalt und ist hoch mit Gefühlen besetzt, diese Szene wird für May zu einer Schlüsselszene seines Lebens. Und rückblickend deutet er sie so, dass damals Wahrheit Ideologie zu Fall brachte. "Man hatte uns die Wahrheit vorenthalten", schreibt er, "und uns statt dessen ideologischer Schulung unterworfen. Dies ist nur möglich, wenn man den Menschen die Freiheit nimmt, die Wahrheit in offener Auseinandersetzung zu suchen. Darum hatte man uns auch der Freiheit beraubt. Als sich dann die Wahrheit unter entsetzlichen Leiden gegen die Ideologie durchsetzte, waren wir weder auf die Wahrheit noch auf die Freiheit vorbereitet." Das soll entscheidend werden für Mays Lebensweg: Wahrheit und Freiheit gegen Ideologien jeder Art zu ihrem Recht verhelfen. Das führt ihn über die Stationen Theologiestudium, Schulpfarramt, Referent in der Erwachsenenbildung als Direktor an die Evangelische Akademie. May gestaltet Akademiearbeit in der Spannung zwischen kirchlicher Verkündigung und den Zumutungen moderner Gesellschaft.

Aber er verfolgt ein ganz anderes theologisches Programm als der Religionsphilosoph Cupitt. Cupitt sieht einen Prozess, in dem postmoderne Lebensbedingungen Inhalte und Tradition der Religion immer stärker erodieren und auf lange Sicht zerstören. May dagegen sagt: Die Gesellschaft vergisst in zunehmendem Maß ihre eigenen religiösen Traditionen und Grundlagen. An dieser Religionsvergessenheit der Gesellschaft gilt es zu arbeiten, denn das Christentum hat für May wesentlich zur Entwicklung dieser modernen Bedingungen beigetragen.

Kirche ist darum keine Institution, die nur den Glaubenden dient; sie verrichtet vielmehr einen Dienst an der mündigen Welt. Sie muss sich dort Gehör verschaffen, wo Konflikte und Auseinandersetzungen stattfinden. Konflikte, Auseinandersetzungen und Krisen führt May auf die Ambivalenz des Menschen zurück. Diese macht ihn anfällig für Ideologie. Der Glaube fängt diese Ambivalenz auf, weil der Mensch nur im Glauben zu seiner Gebrochenheit stehen kann. "In dieser Bejahung des gebrochenen Menschen durch Gott", schreibt May, "sehen wir Würde und Wert des Menschen begründet. Er darf sich zu seiner Gebrochenheit bekennen, ohne resignieren zu müssen. Er erfährt einen Zuwachs an Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein." Weder die Politik noch die Psychologie können perfekte Menschen hervorbringen; seine eigene Ambivalenz kann der Mensch selbst nicht auflösen. Sie anzuerkennen und im Glauben zu bearbeiten bedeutet einen Akt der Befreiung, der religiöse, ethische und politische Konsequenzen zeitigt.

Kirche kann sich für May vor der modernen Gesellschaft nicht verstecken oder zurückziehen. May wendet sich gegen allen innerkirchlichen und innertheologischen Autismus. Er sucht in der Arbeit an der Evangelischen Akademie den Weg zum Marktplatz der Meinungen und Konflikte. Auf diesem Marktplatz ist die Kirche zugleich Forum und Faktor: Sie inszeniert den Dialog in ihren eigenen Podien, und sie erhebt bei diesen Podien ihre protestantische Stimme.

Kirche geht für May nicht in der Verkündigung ihrer Botschaft auf. Für seine Theologie ist es entscheidend, dass aus dem Glauben immer irgendein Handeln folgt. Wahrheit generiert nicht nur Überzeugungen; sie soll auch Gestalt annehmen. Es kennzeichnet seine vor einem Jahr publizierten Aufsätze, dass viele seiner Reflexionen am Ende in Strategien und Handlungsvorschläge, in konkrete Projekte münden. Der Ost-West-Konflikt, die Menschenrechte, der Golfkrieg, die Wiedervereinigung der evangelischen Kirchen nach 1989, die soziale Marktwirtschaft, die Kernenergie, die Gründung der Hanns-Lilje-Stiftung, die Gründung des Zentrums für Gesundheitsethik in der Hannoverschen Landeskirche – das sind Themenfelder und Projekte, die May durch seine theologischen Reflexionen voranbringen will.

May glaubt, um zu handeln. Er will Glauben in Handlung(en) umsetzen, aber nicht unter Missachtung der Moderne als Flucht oder Rückzug, sondern mitten in ihr, im Dialog. Dialog schließt den Absolutheitsanspruch des einzelnen (Ich habe unbedingt Recht) sowie den allgemeinen Relativismus (Alle haben irgendwie Recht) aus. An die Stelle von beidem tritt "Selbstvergewisserung in der je eigenen Wahrheit". Gewissheit des Glaubens ist begrenzt durch die Subjektivität und Individualität dieses Glaubens. Endgültige Wahrheit steht uns in der Gegenwart noch nicht zur Verfügung; sie ist eine der Zukunft vorbehaltene, eschatologische Größe, die Gott allein bestimmt. Die vorläufige Gewissheit des Glaubens kann darum nur die Gestalt einer Theologie des Kreuzes annehmen: Darin drückt sich die Einsicht aus, dass Ideologie immer noch über Wahrheit, Tod immer noch über Leben triumphiert. Theologie des Kreuzes versteht er als "eine ständige, handlungsbegleitende Meditation und Reflexion des Kreuzes, die in Beziehung zu setzen ist zu den Problemen der Gegenwart".

Dialog ist nun ein Streit um die Wahrheit, um Gewissheiten, aber der Streit um die Wahrheit geschieht unter gegenseitiger Anerkennung der Dialogpartner. In der Demokratie gibt es zum Dialog keine Alternative, sagt May. Darin zeigt sich das Bemühen, unter allen Umständen das Umschlagen von Wahrheit in Ideologie zu verhindern.

Dialog ist kein Selbstzweck. Auch die pluralistische Gesellschaft muss erkennen, dass sie von Voraussetzungen lebt, die sie nicht garantieren kann. May moniert die Religionsvergessenheit der Gesellschaft, ihren Säkularismus. Vernunft ohne Glaube führt für ihn in die Irre. Pluralismus als Gleichgültigkeit verkennt, dass niemand ohne Gewissheiten und Wahrheiten leben kann. Eine Gesellschaft, die ihre religiöse und theologische Herkunft vergessen hat, weiß über sich selbst nicht richtig Bescheid.

Der Protestantismus wirkt innerhalb dieser Gesellschaft als dynamische, konfliktverschärfende Kraft: Das protestantische Prinzip "dynamisiert die Gemeinschaft durch Individualismus, den Konsens durch Subjektivität". Der Protestantismus bürdet dem einzelnen die Entscheidung über den Glauben auf. Keine Institution, keine Kirche kann sie ihm abnehmen. Für May treibt das protestantische Prinzip "in die Unruhe der Selbsttranszendierung des Lebens. Am Ende dieses Weges steht das einsame Subjekt und die ungebundene Rationalität des Instrumentellen. Beides führt den Menschen vor die Frage nach dem Sinn der Existenz im ersten, des Handelns im zweiten Fall."

Bei May entwickelt sich die theologische Orientierung aus dem Gegenüber von Ideologie, Dialog und Wahrheit. Wie Cupitt, der Religionsphilosoph, konfrontiert er Religion und moderne Gesellschaft. Bei May entwickelt sich aus der Frage nach der Wahrheit, die Ideologie überwindet, eine Theorie und Praxis des dialogfördernden Protestantismus. Er sieht dieselben Schwierigkeiten wie Cupitt, entwickelt aber eine völlig andere Lösung. Für Cupitt hat die Postmoderne die theistischen Religionen mit ihrer realistischen Ontologie "besiegt", er will darum die Religion verwandeln. May dagegen sieht denselben Konflikt zwischen Protestantismus und Moderne und entwickelt daraus eine Theologie, welche aus der Selbstisolierung der Kirche wie aus der Religionsvergessenheit der Gesellschaft heraus hin zu einem neuen Dialog über die Wahrheit führt. Damit kommt er zu einer neuen politischen Theologie. Politisch ist diese Theologie insofern, als sie daran festhält, dass die Religion eine notwendige Funktion für die Gesellschaft erfüllt (gegen Cupitt).

Es ist entscheidend für May, dass der Protestantismus dabei nicht gegen Pluralität und Individualismus der modernen Gesellschaft steht. Vielmehr gilt: Der Protestantismus fördert und generiert – historisch wie psychologisch – jenen Individualismus und jene Subjektivität mit, die sich gegenwärtig gerade als das entscheidende Kennzeichen westlicher Gesellschaften darstellt. Der Protestantismus ist für ihn sozusagen eine Religion der Individualität. In Mays eigener Biographie vollzieht und gestaltet sich diese Individualität gerade innerhalb der Institution Kirche, in diesem Fall der evangelischen Akademie.

 

D. Religiöser und gesellschaftlicher Individualismus

Wer sich alle drei Beispiele vor Augen hält, entdeckt schnell Gemeinsamkeiten: Es steht eine individuelle biographische Erfahrung am Anfang der religiösen Entwicklung: der Tod des Vaters, die Enttäuschung über das naturwissenschaftliche Studium; der Tod der Ideologie und der Selbstmord des Diktators. Aus diesen biographischen Erfahrungen heraus entwickeln May, Cupitt und Wieseltier drei je eigene theologische Entwürfe.

Religion zeigt sich dabei vor allem aus der Perspektive je eigener persönlicher Erfahrung und Entwicklung. Sie kann nicht anders als ein langfristiger und weiträumiger Bildungsprozess verstanden werden. Authentische religiöse Individualität steht dabei über den Geltungsansprüchen religiöser Institutionen – sehr deutlich bei Wieseltier und Cupitt, nicht ganz so offensichtlich bei May. Keiner der drei fasst Religion als das bloße Sich-Einfügen in eine vorgegebene Tradition oder soziale Ordnung auf. Vielmehr nehmen alle drei ihre religiöse Tradition wahr und verarbeiten sie individuell und biographisch. Sie leisten "Glaubensarbeit" und "Bildungsarbeit".

Die Prozesse der Individualisierung, die gesamtgesellschaftlich wahrzunehmen sind, zeigen sich in analoger Weise bei der Religion. Um solche individualisierte Religion handelt es sich bei den drei vorgestellten religiösen Virtuosen. Sie spiegeln in ihrer Biographie und in ihrer Religion, was sich als gesellschaftlicher Trend abzeichnet. Allerdings ist die Frage, wie man diese Individualisierungsprozesse bewertet. Einige Forscher feiern Individualisierung als neues Ideal und reden von "Lebensunternehmertum" oder der "Ich-AG" in einer fragmentierten Gesellschaft. Aber damit sind die Ambivalenzen solcher Individualisierungsprozesse geleugnet. Und damit fällt ebenfalls unter den Tisch, dass sie keineswegs die Aufteilung von Gesellschaften in Milieus und Gruppen mit gemeinsamem Habitus aufheben, gerade auch im Bereich der Religion nicht.

Im Anschluss an Opaschowski kann man Individualisierung als einen Prozess der Freisetzung (von Tradition), der Entzauberung (von sozialen Kohäsivkräften) und der Reintegration (in neue – oder alte – soziale Gruppen) betrachten. Solche Prozesse ließen sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen bei Wieseltier, Cupitt und May beobachten.

Individualisierung ist, auch in der Religion, als dialektischer Prozess zu betrachten, der mit Folgen und Nebenfolgen, mit Kosten, aber auch mit Chancen verbunden ist. Wer sich individualisiert, also seinen eigenen Weg geht, entfernt sich damit automatisch von der jeweiligen Tradition, von seinen sozialen Gruppen. Prozesse der Verständigung und des Dialogs werden in individualisierten Gesellschaften komplizierter. Wer sich individualisiert, kann vereinsamen, kann Rückhalt verlieren, kann als Spinner abgetan werden. Individualisierung legt das Missverständnis beliebiger Entscheidungsmöglichkeiten nahe. Die Freiheiten der Individualisierung lösen nicht nur Hoffnungen, sondern auch Ängste aus. Es ist möglich, vor zu viel Freiheit in den Fundamentalismus zu fliehen, in die geschlossene, modernitätskritische Weltanschauung.

 

E. Glauben und Bildung

Weil es – innerhalb gewisser Grenzen – Entscheidungsmöglichkeiten gibt, auch und gerade für die Religion, ist es wichtig, jungen Menschen das beizubringen, kritisch und konstruktiv mit den Möglichkeiten der Religion umzugehen – oder vorsichtiger formuliert: so damit umzugehen, dass eine gelingende religiöse Biographie entsteht – so wie es die Beispiele Wieseltier, Cupitt und May zeigen.

Und hier scheint mir nun wichtig, dass die von mir aufgeführten Beispiele Wieseltier, Cupitt und May wesentliche Ergebnisse einer Studie bestätigen, die Andreas Feige und Bernhard Dressler sowie ihre Mitarbeiter durchgeführt haben. Feige und Dressler haben Religionslehrer nach den Motiven für ihren Unterricht befragt; sie diagnostizieren einen Einflussverlust kirchlicher, institutioneller Religion auf das religiöse Leben von einzelnen Glaubenden.

Individualität ist für diese Untersuchung eine Schlüsselkategorie. In den Interviews mit Religionslehrern zeigt sich nun dreierlei.

Religiöse Bildungsprozesse in der Schule können nur gelingen, wenn Religionslehrer sich über ihren eigenen religiösen Bildungsweg bewusst geworden sind und ihn in reflexiver Distanz in den Unterricht einbringen können. Das heißt, Religionslehrer müssen im Unterricht glaubwürdig und authentisch über ihre eigene Religion sprechen können – ohne dass Schüler gezwungen werden, sie wie Dogmen oder Lehrsätze zu übernehmen. Sie verkünden nicht einfach die Lehren der Kirche, sondern das, was sie daran in "Glaubensarbeit", verstanden und durchdrungen haben. Das ist dieselbe Glaubensarbeit, wie sie in den drei Beispielen sichtbar wurde, eine reflektierte Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition. Religionsunterricht, wenn er gelingt, spiegelt also eine Balance zwischen individueller und institutioneller Religion. Die Schüler lernen nicht einfach Inhalte auswendig, sondern indem sie die religiöse Geschichte von anderen kennen lernen und reflektieren, eignen sie sich Religion an. Wer einfach Inhalte vermittelt, scheitert. Wer zuviel Distanz zeigt, macht sich unglaubwürdig. Glaubwürdig kann Religion nur lehren, wer seine Geschichte mit der Religion darstellt. Nur wer sich als Lehrer mit seiner Tradition auseinandergesetzt und sie verarbeitet hat, der ist bei den Schülern glaubwürdig und kann guten Religionsunterricht veranstalten. Genau das ist auch die Pointe der Beispiele, die ich angeführt habe. Ich habe keine Religionslehrer, sondern religiöse Virtuosen dafür gewählt. Auch sie zeigen in ihrer individuellen Bearbeitung religiöser Tradition – mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen –, wie man glaubwürdig und authentisch Religion in der Gegenwart leben kann.

Denn das ist ein entscheidendes Anliegen für die Religionslehrer: eine Theologie oder Spiritualität oder Lebensweise zu finden, die unter den Bedingungen der Moderne glaubhaft und authentisch ist. Man will beides haben: die modernen gesellschaftlichen Bedingungen akzeptieren und die eigene Religion leben. Nichts anderes zeigen Leon Wieseltier, Don Cupitt und Hans May, außer dass ihnen der religionspädagogische Anspruch fehlt. Sie zeigen Beispiele für "Bildungs-Religionen", für Geschichten religiöser Erfahrung, die sich in Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, der eigenen Religion, der jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen herauskristallisiert haben. Nichts anderes vermitteln Religionslehrer im Unterricht, wenn sie glaubwürdig und authentisch sind.

Die Religion ist in der Schule deshalb so wichtig, weil sie für die Schüler einen Raum schafft und Traditionen bereit stellt, die die Glaubens- und Bildungsarbeit der Schüler an den wichtigsten und entscheidenden Fragen des Lebens aufnimmt. Und das sind Fragen, wie sie Cupitt, Wieseltier und May gestellt haben: Was kommt nach dem Tod? Wie lebe ich Glauben unter modernen Bedingungen? Wie kann ich der Wahrheit vor aller Ideologie zu ihrem Recht verhelfen? Solche Bildungsprozesse sind deshalb so wichtig, weil Schüler immer wieder Entscheidungen treffen, wie sie religiöse Erfahrungen in Biographie umprägen, für welche Religionszugehörigkeit sie sich entscheiden. Wer sich mit Religion auseinandersetzt, der muss aus der ihm vermittelten Bildung heraus Kriterien haben, die Geister unterscheiden zu können, für ihn selbst hilfreiche oder nicht hilfreiche Formen von Religion unterscheiden zu können.

 

F. Individualität und Kirche

Wenn man dieses Ergebnis in Rechnung stellt, könnte man auf den Gedanken kommen, der Religionsunterricht sei an die religiösen Individualisierungsprozesse moderner Gesellschaften besser angepasst als die Kirchen. Und es liegt nahe, den Kirchen einen Reformprozess zu empfehlen, der genau in diese Richtung zielt. Diesen Schluss ziehen Dressler und Feige. Sie sagen, Kirche müsse sich "bildungsfähiger" machen. Das wäre eine Reaktion auf die Tendenz zu religiöser Individualisierung, die nach Taylor insbesondere zwei Konsequenzen hat: Das Individuum nimmt seine eigenen religiösen Erfahrungen wichtiger als Lehren und Inhalte der Kirche. Und zweitens: Die Kirche hat weniger Chancen als in vormoderner Zeit, ihren Gläubigen theologische Lehrmeinungen von außen aufzuzwingen. Also: Religiöse Erfahrung steht über der theologischen, theoretischen Verarbeitung. Pointiert: Lebensführung, theologische Ethik und Spiritualität stehen vor systematischer Theologie und Dogmatik. Auch das zeigte sich in unterschiedlichen Facetten bei Wieseltier, Cupitt und May.

Bei keinem der drei führt die individuelle Bildungs- und Glaubensarbeit jedoch zu einer Isolierung von der jeweiligen religiösen Gemeinschaft. Wieseltier findet in die Synagoge zurück, Cupitt gründet ein religiöses Netzwerk, und May entwickelt seine Theologie im Kontext der evangelischen Akademie. So wichtig individuelle Erfahrung ist, so wichtig ist Religion als Institut. Denn sowohl Wieseltier als auch May benutzen zur Artikulierung ihrer individuellen religiösen Erfahrung eine Sprache, die aus einer bestimmten religiösen Tradition kommt. Diese Sprache aber ist durch religiöse Institutionen wie die Synagoge oder die Kirche generiert und vermittelt. Bei Cupitt liegt der Fall anders, aber selbst er macht Anleihen bei der traditionellen religiösen Sprache der Kirchen, um sich damit kritisch auseinander zusetzen. Es gilt also: Religiöse Bildungserfahrungen entstehen nicht im stillen Kämmerlein, sie entstehen in der Auseinandersetzung mit anderen.

Für die Kirche als Institution folgt daraus: Sie muss sensibler werden für die religiösen Erfahrungen von Laien und ihre Auseinandersetzung mit dem Glauben. Das bedeutet in der Tat stärkere "Bildungsfähigkeit", z.B. durch biblische Gesprächskreise und Gottesdienste, in denen Laien von ihren religiösen Erfahrungen berichten. Und das bedeutet stärkere Aufmerksamkeit für die Themen Lebensführung und Spiritualität.

Stärkere Individualisierung fordert – auch von den Institutionen – stärkere Dialog- und Vermittlungsbereitschaft, den Verzicht auf Autoritarismus und Paternalismus. Gemeinschaft in der Kirche stellt sich nicht mehr über anerkannte gemeinsame Inhalte, sondern über gemeinsame Erfahrungen her, im Falle der christlichen Kirchen über gemeinsame Erfahrungen mit der Bibel. Diese Dialogbereitschaft nach innen muss von einer Dialogbereitschaft nach außen ergänzt werden. Das zielt auf eine kirchliche Kultur der Anerkennung anderer Religionen.

Der Soziologe Robert Bellah und andere haben die Konsequenzen aus religiösen Individualisierungsprozessen auf eine prägnante Formel gebracht: "Kirche und Sekten müssten lernen, dass sie mehr Autonomie aushalten können, als sie annehmen, und religiöse Individualisten müssten lernen, dass ein Alleinsein ohne Gemeinschaft lediglich Einsamkeit bedeutet." Wieseltier, Cupitt und May haben gezeigt, in welche Richtungen sich gelungene Verbindungen von Individualität und Gemeinschaft realisieren lassen könnten. Individualisierung der Religion macht Kirchen nicht überflüssig, sondern zu Orten, an denen in einem bestimmten traditionellen Kontext religiöse Erfahrungen generiert werden.

 

G. Gründe, religiös zu sein

Glaube, das haben diese Überlegungen gezeigt, ist nicht Sache einer einzigen Entscheidung, auch nicht primär Sache einer bestimmten inhaltlichen Überzeugung. Glaube ist Resultat von Bildungsprozessen, von Glaubensarbeitund Bildungsarbeit. Im gelungenen Fall werden sie von Schule und Kirche in einer Weise in Bewegung gebracht, dass Menschen in ihrer Biographie Religion integrieren. Christlicher Glaube zeigt sich dann nicht mehr allein in Gestalt einer Reihe von für wahr zu haltenden Dogmen, sondern in Gestalt einer zu erzählenden Lebensgeschichte.

 

Literatur

  • Beck, Ulrich: Das Zeitalter des ‚eigenen Lebens‘. Individualisierung als ‚paradoxe Sozialstruktur‘ und andere offene Fragen, aus: Politik und Zeitgeschichte B 29, 2001.
  • Bellah, Robert N./Madsen, Richard/Sullivan, William M./Swidler, Ann, Tipton Steven M., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987 (amerikan. Habits of the Heart 1985).
  • Cupitt, Don: Nach Gott. Die Zukunft der Religionen, Stuttgart 2001 (engl. After God. The Future of Religion, New York 1997).
  • Drehsen, Volker: Christliche Rede in säkularer Gesellschaftskultur. Konturen einer protestantischen‚ Bildungsreligion‘ zwischen Zivilreligion und Offenbarungstheologie, in: Wolfgang Vögele (Hg.), Gelehrte und gelebte Religion. Religion bei Religionslehrerinnen und Religionslehrern. Befragungsergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung in der gesellschaftlichen Diskussion, Loccumer Protokolle 22/01, Rehburg-Loccum 2001.
  • Feige, Andreas/Dressler, Bernhard/Lukatis, Wolfgang/Schöll, Albrecht: ‚Religion‘ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zusammenhängen, Münster 2000.
  • Feige, Andreas: Vom Schicksal zur Wahl. Postmoderne Individualisierungsprozesse als Problem für eine institutionalisierte Religionspraxis, PTh 83, 1994.
  • Gross, Peter, Ich-Jagd. Im Unabhängigkeitsjahrhundert, Frankfurt/M. 1999.
  • May, Hans Glauben und Handeln. Vorträge und Aufsätze, hg. von Ralf Tyra et al., Rehburg-Loccum 2001.
  • Nef, Robert/Steimer, Gisela (Hg.): Arbeits- und Lebensformen in der Zukunft, Zürich 2001 (www.libinst.ch).
  • Opaschowski, Horst: Wir werden es erleben. 10 Zukunftstrends für unser Leben von morgen, Darmstadt 2002.
  • Strasser, Johann: Leben oder Überleben, Zürich München 2000.
  • Vögele, Wolfgang: Lebenskunst, Frömmigkeit und Freiheit, in: ders. (Hg.) Dem Leben Gestalt geben. Christliche Spiritualität zwischen Philosophie der Lebenskunst und Eventkultur der Erlebnisgesellschaft, Loccumer Protokolle 16/01, Rehburg-Loccum 2001.
  • Vögele, Wolfgang/Vester, Michael/Bremer, Helmut (Hg.): Soziale Milieus und Kirche, Religion in der Gesellschaft 11, Würzburg 2002.
  • Wieseltier, Leon: Kaddish, New York 1998.
  • Willeke, Stefan: Hoppla, jetzt kommt’s Ich, Die Zeit vom 3.8.2000.

* Vortrag beim Jahresempfang des Sprengels Hildesheim am 15. Mai 2002

Text erschienen im Loccumer Pelikan 4/2002

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