Freiheit und der Zwang zur Selbstverwirklichung

von Bernhard Dressler

 

Rechtfertigungstheologische Fragen im Blick auf die moderne Lebenswelt

Ein weitverbreitetes Vorurteil lässt christlichen Glauben und Freiheit vielen Menschen als Gegensatz erscheinen. Die Toleranz der offenen, pluralistischen Gesellschaft sieht sich bedroht, wo sie mit verbindlichen Lebensformen konfrontiert wird. Verbindlichkeit provoziert das liberale Freiheitsverständnis, das den christlichen Glauben allenfalls als ein den Blicken der Öffentlichkeit weithin entzogenes Privatvergnügen duldet.

Das moderne Freiheitsverständnis entspricht einer Deutung des Menschen als radikal autonomem Wesen das heißt einem Wesen, das sich nur aus sich selbst begründet versteht und das nur sich selbst (als Einzelwesen oder als Gattungswesen "Menschheit") verpflichtet ist. Diesem Verständnis erscheint es als skandalös, dass der christliche Glaube den Menschen als Geschöpf Gottes versteht, dessen Freiheit sich der Bindung an Jesus Christus verdankt, in dem Gottes liebevoller Wille offenbar geworden ist. Die Einsicht in die Wechselbeziehung von Freiheit und Bindung erscheint dem modernen Verständnis als Heteronomie und so wird ausgeblendet, was jeder unvoreingenommene Blick auf die Geschichte entdecken könnte: dass der christliche Glaube in die Freiheitsgeschichte der Menschen auf das Engste verwickelt ist, ja, dass auch jenes Freiheitsverständnis, das sich heute dem christlichen Glauben entgegenstellt, ohne das biblische Zeugnis von Gottes Befreiungshandeln gar nicht denkbar wäre.

Nun kann die Vehemenz, mit der heute man muss sagen: immer noch das liberale Freiheitsverständnis gegen den christlichen Glauben ausgespielt wird, nicht darüber hinwegtäuschen, dass eben dieses Freiheitsverständnis krisenhaft an seine Grenzen stößt. Dabei bleiben die zunehmenden Klagen über die permissive Gesellschaft und die entsprechenden Rufe nach neuen verbindlichen Werten eher noch an der Oberfläche kultureller Konjunkturen. Die Krise greift tiefer. An die Grenze stößt der menschliche Wille zur Autonomie, die Fortschrittsdynamik, hinter der der Wunsch steht, "sein zu wollen wie Gott" (Gen 3, 5). Denn die enormen Freiheitszuwächse, die wir im Blick auf die Geschichte wie auf unseren Lebensalltag zu erkennen meinen, sind vor allem ungeheure Möglichkeitseröffnungen. Damit verbindet sich nicht nur der Zumutungsdruck von Kontingenzerfahrungen, sondern damit schieben sich die Grenzen des Machbaren immer weiter in Zonen vor, die bislang der menschlichen Verfügung entzogen waren. Nicht allein, aber am augenfälligsten im Lichte der ökologischen Krisenzeiten wird sichtbar, dass in den Gefahren des Verfügungswachstums zugleich die Grenzen des Machbaren wie des Zuträglichen umso schärfer hervortreten.

Diese Grenzerfahrungen verdichten sich nicht nur im Verhältnis der Menschen zu ihren sozialen Lebensverhältnissen und zur äußeren Natur. Sie drängen sich zunehmend auch im Verhältnis der Menschen zu sich selbst gewissermaßen zu ihrer inneren Natur auf. Wenn der sich radikal autonom verstehende Mensch auf der Suche nach sich selbst immer nur sich selbst begegnet, stellt sich bald ein ähnlicher Schrecken ein wie bei der Entdeckung sagen wir: des Ozonlochs. Ein Schrecken vor der Abgründigkeit autonomen Menschseins ebenso wie ein Schrecken vor der öden Leere andauernder Selbstbespiegelung. Und auch in unserem Selbstverhältnis geraten wir mit unserer Freiheit an die Grenze des Verfügbaren: dass wir auch mit uns selbst nicht machen dürfen, was wir wollen und können, und zwar auf die Gefahr hin, dass wir uns umso mehr verfehlen, je tiefer wir uns in die Selbstsuche verstricken.

So ist es nicht erstaunlich, dass in den Human und Sozialwissenschaften parallel zum fortlaufenden Vorschub des technisch Machbaren neue Einsichten in die Notwendigkeiten menschlicher Selbstbegrenzung wachsen. Diese Einsichten greifen immer häufiger zurück auf die Erkenntnis der Paradoxien zugleich wachsender und immer enger zusammenschnurrender Freiheitsspielräume. Im Gegensatz von "Optionen und Ohnmacht" resümiert Thomas Ziehe als Kulturwissenschaftler das gegenwärtige Lebensgefühl von Jugendlichen . Den von ihm als "Individualisierungsprozesse" beschriebenen Freisetzungen aus vorgegebenen Bindungen setzt der Soziologe Ulrich Beck die Erfahrung wachsender "Standardisierungen" der Lebensverhältnisse entgegen.

Ich will nun das Problem nicht unvermittelt in das Licht der biblischen Botschaft und der christlichen Tradition rücken, sondern zunächst die Problemkonstellationen der Gegenwart kurz skizzieren, denen sich eine theologischethische Reflexion stellen muss. Auf drei Ebenen lässt sich dabei die Frage nach dem, was Freiheit ist, und die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit unterschiedlich durchspielen.

a) Das neuzeitliche Verständnis von Freiheit hat sich gegen einen im mechanistischen wissenschaftlichtechnischen Weltbild kulminierenden Determinismus zu behaupten. Dies war übrigens das Hauptproblem Kants: Wie lässt sich Moralität mit Kausalität zusammendenken? Dieses Freiheitsverständnis erschließt also eine ethische Dimension: Vollständiger Determinismus macht die Frage nach Schuld und Verantwortung gegenstandslos.Im Hinblick auf das Menschenbild ist hier eine Auseinandersetzung mit szientistischnaturalistischen Reduktionen erforderlich. So sehr diese Problemebene eine neuzeitliche Fragestellung voraussetzt, ist aber doch an eine jüdischchristliche Wurzel zu erinnern: Die antimythische Wendung gegen die Verbindung von genealogischem Schuldnexus und ewiger Wiederkehr des Gleichen bei Hes. 18,1ff. (vgl.: auch Jer. 31,29ff.). Die hier allererst aufscheinende Vorstellung von Subjektivität stellt von vornherein eine andere Perspektive her als die neuzeitliche Verknüpfung von Subjektivität mit Erkenntnisfähigkeit und Weltkonstruktion: Subjektivität ist verbunden mit Gerichtsdrohung und Umkehrruf und als solche konstituiert sie Freiheit: Ich bin aus der Verkettung in die Schuld meiner Vorfahren bei meinem Namen herausgerufen; zugleich aber ist mein Leben unter eine Frist gestellt, damit aber unter das Gericht: "Es gibt keine ewige Wiederkehr, die Zeit ermöglicht keine Lässigkeit, sondern ist Bedrängnis." . In diesem Kontext kann die antimythische Problemkonstellation des Alten Testaments mit der antiszientistischen Problemkonstellation der zeitgenössischen Theologie in Zusammenhang gebracht werden.

b) Ebenfalls neuzeitlich motiviert ist die Profilierung eines Verständnisses von Freiheit gegenüber unterschiedlichen Manifestationen von Abhängigkeit. Dieses Freiheitsverständnis erschließt sich aus der Frage "Wem gehöre ich?". Die Frage hat eine konkretpolitische Dimension, aber auch eine grundsätzliche anthropologische Dimension: Sie eröffnet den Streit darüber, ob Autonomie gleichursprünglich Grund und Ziel von Freiheit sein könne oder ob der "Mensch als Kampfplatz'" immer schon im Spannungsfeld von Zugehörigkeitsforderungen und zwängen stehe und seine Freiheit nicht aus eigener Kraft zu behaupten habe. Am Autonomieverständnis entscheiden sich maßgebliche Auffassungsunterschiede über Grund und Qualität von Menschenwürde. Eine theologische Klärungsperspektive wird auszugehen haben von der Frage nach der Gottebenbildlichkeit und Geschöpflichkeit des Menschen, wird diese aber im Lichte des Evangeliums Christologisch beantworten müssen. Damit kann zugleich eine anthropologische Perspektive erschlossen werden: Der von Gott als sein Ebenbild geschaffene und im Glauben an Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gerechtfertigte Mensch ist als Geschöpf nicht auf Natur reduzierbar und als Ebenbild Gottes nicht selber göttlich. Die Gabe freien Handelns, sofern sie alle "Notwendigkeiten" hinter sich lässt (am deutlichsten in der Liebe), transzendiert aber Naturzwänge. Und auf diese Gabe fällt im Lichte des Glaubens an die in Christus vollbrachte Versöhnung Gottes mit der Welt ein schwacher Abglanz vom Handeln Gottes. Wenn je und je durch das freie menschliche Handeln das Kontinuum der Geschichte aufgesprengt wird (z.B. in der Zuwendung zu ihren Opfern), kann sich darin in der nachträglichen erinnernden Vergegenwärtigung Gottes Handeln abzeichnen. Es bleibt aber dennoch nicht in der Verfügbarkeit und Reichweite menschlicher Handlungsabsichten, lässt sich folglich nicht vorab intendieren. Dies zu bestreiten liefe auf einen logischen Eskapismus hinaus, analog zum blockierenden "double bind" der Selbstaufforderung zu Spontaneität und Kreativität. Hier verschränkt sich Ebene b) mit a): Wenn sich der Mensch als Ebenbild Gottes wesentlich durch die Gabe freien Handelns verstehen darf, dann laufen die evolutionstheoretischszientistischen und die systemtheoretischfunktionalistischen Weltmodelle allesamt auf die Abschaffung des Menschen hinaus (bzw., wie Michel Foucault es formuliert, auf sein "Verschwinden" als eine vorübergehende Erfindung der Neuzeit) . In diesen Modellen ist Freiheit als eine einem Subjekt zurechenbare Fähigkeit/Eigenschaft nicht sinnvoll denkbar. Darin steckt ein richtiges gedankliches Motiv: Die Kritik an der Hypertrophie aufklärerischer Selbstemanzipationsprojekte, die die Freiheit einer Selbstbehauptungsleistung des Subjekts zurechnen wollen und deshalb Gott als Grund der Freiheit für eine überflüssige Hypothese erachten. Diese Kritik schießt aber so weit über ihr Ziel, dass sie die kritisierten Weltanschauungsmodelle noch überbietet, während sie sie desillusioniert: Als purer, funktional evolvierter Selbstbehauptungsreflex bleibt Freiheit bloßer Schein. Menschliches Handeln kann sich dann nur als ein Gekräusel auf der Wellenoberfläche der Evolution (oder der naturalistisch interpretierten Geschichte) verstehen, und dieses sichverstehen ist selbst nur wieder von der Qualität eines bedingten Reflexes.

c) Die gegenwärtig vermutlich brisanteste Dimension im Verständnis von Freiheit vermittelt sich über die Abgrenzung von Indifferenz. Mit diesem Freiheitsverständnis erschließen sich Dimensionen der Urteilsfähigkeit. Neuzeitlich ist daraus im wesentlichen eine Frage nach Grund und Reichweite der menschlichen Vernunft geworden. Theologisch wären darüber hinaus Grund und Qualität eines christlichen Wahrheitsanspruches zu bedenken. Indifferent ist die Lage jenes Beobachterpostens, der in der Systemtheorie eingenommen wird: Ein Ich, das in den wechselnden Perspektiven auf die Welt gewissermaßen als internalisiertem Pluralismus sich selbst jeweils immer wieder neu als Gegenüber der Welt fingiert. Dies jedoch um den Preis, als beobachtendes Ich keinen anderen Status zu haben als den, der den "ErkenntnisLeistungen (d.h. den Komplexitätsreduktionen) jeder Art von System zugesprochen wird: So wie der "Mensch" als psychisches "System" von den "Umwelten" "Gesellschaft" oder "menschlicher Körper" oder "Natur" unterschieden werden kann, kann der "Mensch" auch "Umwelt" des Systems "Gesellschaft" oder "Natur" sein. Damit sind praktische Folgerungen verbunden: "Der Primat des GeschehensLassens ist als Habitus verbunden mit der Hoffnung, alles möge gut ausgehen, d.h. das Geschehen der Welt werde trotz seiner subjektunkabhängigen Rücksichtslosigkeit die Integrität des Ich wahren." Dieser Habitus mündet in dem "IndifferenzSyndrom: seine Momente sind Angst vor der unabsehbaren Kontingenz der Ereignisse, Apathie gegenüber den Icheinschränkenden Zumutungen der Welt und Anpassungen an das als unterschiedslos unbeeinflussbar Antizipierte." . Indifferenz in Abgrenzung zu einem traditionellen Freiheitsverständnis läuft dann auf folgende Konsequenz hinaus: "Selbsterhaltung ist nicht mehr als Selbststeigerung und auch nicht als Selbstbeschränkung (den traditionellen Ausformulierungen von Freiheit als Selbstbestimmung; BD), sondern als Selbstauslöschung zu denken." . Hierin ist die postmoderne Verkündigung des "Verschwindens des Menschen" einschließlich der Aufkündigung von Wahrheitskriterien folgerichtig.

Aus evangelischer Sicht ist nun zu dieser Auffächerung von thematischen Dimensionen des Freiheitsverständnisses zu sagen, dass die lutherische Erschließung der "Freiheit eines Christenmenschen" zwar hauptsächlich die Frageebene b) berührt, dass aber die von Luther her zu bedenkende moderne Problemkonstellation quer zu diesen drei Ebenen liegt: Wie kann gegen die in Dimensionen von Selbstbehauptung und Selbständigkeit gedachte neuzeitliche Freiheitsauffassung, die gegenwärtig in eine an ihren Grund gehende Krise gerät, Freiheit als Selbstbegrenzung begründet und zeitkritisch/zeitdiagnostisch fruchtbar durchdacht werden? Die Moderne erweist sich immer noch als explosiver Möglichkeitszuwachs ("Alles könnte auch anders sein..."), dem in paradoxer Unvermitteltheit die Erfahrung von übermächtigen Zwängen gegenübersteht ("...aber nichts kann ich ändern"; Luhmann). Aus diesem double bind rettet weder der Sprung zurück in vorsubjektive/vorindividuelle substantielle Sicherheiten z.B. einer naturrechtlichen Moral noch der entschlossene Sprung nach vorn in die Indifferenz des postmodernen Lebensgefühls. In dieser Konstellation gründet die hohe Aktualität des christlichen Freiheitsverständnisses, wie es von Luther neu durchbustabiert wurde.

Die Rechtfertigungstheologie Luthers hat heute die Plausibilität ihres Selbstund Weltdeutungsangebotes im Horizont der modernen Erfahrungen mit individuellen Selbstverwirklichungsansprüchen zu erweisen. Individualisierungsprozesse im Zusammenhang mit der Auflösung tradierter lebensweltlicher Selbstverständlichkeiten biegen den emanzipatorischen Gehalt des Anspruches auf Selbstverwirklichung, wie er im Kontext autoritärer Gesellschaftsordnungen und Milieus legitim hervortritt, in den Zwang zu dauernder Selbstbeobachtung, Selbstsuche und Selbstkonstruktion um. Bei Jugendlichen begegnet uns dieser Zwang zugespitzt in Formen seiner virtuosen Handhabung, die dann aber die Aporien jedes Versuches, sich autonom zu begründen, nur noch schärfer hervortreten lassen. Wie ein externes Auge, wie eine Kamera ("In welchem Film bin ich hier eigentlich?") tritt das wahrnehmende Ich neben das GefühlsIch als dem Gegenstand der Beobachtung. Die Beobachtungsmuster werden strukturiert durch Versatzstücke von Reflexions und Interpretationswissen, die früher fast priesterhaft in den Tempeln der Sozialwissenschaften von der Lebenswelt abgeschottet blieben, nunmehr aber in die Alltagsverständigung eingesickert und für Selbstbeschreibungen nutzbar sind. Freilich läuft die Verwissenschaftlichung unserer Alltagskultur nicht sogleich auf wissenschaftliche Kompetenz der Menschen hinaus: Ihr Umgang mit wissenschaftlilch produzierten Deutungsmustern ist in der Regel undistanziert, unmittelbar in den Dienst der Selbstbeobachtung gestellt. Over consciousness: Selbstbeschreibungsmöglichkeit als Dauerdisposition. Und beständig wird alles Handeln, jede Situation begleitet von der Frage: "Will ich das eigentlich?" Beständig will das WahrnehmungsIch das GefühlsIch ummodeln der Zwang, sich selbst zu funktionalisieren bzw. zu instrumentalisieren, wird in den wechselnden "SelbstDesigns" und dem großen Aufwand, mit dem die outfits gestylt werden, augenfällig. Damit wird nicht nur jedes unmittelbare Verhältnis zur Welt und zu anderen Menschen beständig reflexiv gebrochen. Freude wie Klage lösen sich als Weisen des Weltbezugs kategorial auf ebenso wie der Begriff der Sünde, sofern er in moralischem Lichte verstanden wird. Damit läuft natürlich auch das Angebot von Vergebung ins Leere. Nicht sündig, sondern nicht gut genug zu sein damit fühlt sich das GefühlsIch unter dem strengen Blick des WahrnehmungsIch belastet. Eine extreme Kränkungsanfälligkeit ist die chronische Begleitkrankheit der Selbstsuche .

Es ist nicht neu, dass Jugendlichen Freiheit als geradezu "alltagsreligiös" überhöhtes Lebensideal gilt. Zum Teil äußert sich der Wunsch, erwachsen zu werden, als Sehnsucht, dann endlich frei zu sein. Zum Teil aber wollen Jugendliche gerade in Abgrenzung zur Erwachsenenwelt (schon oder noch) vorhandene Freiheiten auskosten, also "Sachen machen", die sich Erwachsene nicht mehr erlauben können. Der erste dieser beiden Aspekte jugendlichen Freiheitsverständnisses gerät zunehmend unter die Hegemonie von Werbeimages, die zugleich das Erwachsenenalter unter das Diktat von "Jugendlichkeit" zwingen. Freiheitswünsche werden dabei Konsumversprechungen anverwandelt.

In diesem Zusammenhang werden Verschiebungen im Lebensalltag von Jugendlichen immer deutlicher. Die Kategorien "jugendlicherwachsen" verwischen sich. Es verschwindet das pubertäre Lebensgefühl, das sich vor noch nicht langer Zeit damit verband, zu den Geheimnissen der Erwachsenenwelt gewissermaßen nur durch eine "Schlüssellochperspektive" Zugang zu finden. Die "früherwachsenen" Jugendlichen sind von der gesellschaftlichen Lebenswelt allenfalls noch durch kognitive Grenzen, aber immer weniger durch symbolischkulturelle Grenzen ausgeschlossen. Das hat nicht nur etwas mit der öffnenden Wirkung allgegenwärtiger Medien zu tun, sondern mehr noch mit veränderten Verhaltensmustern der Erwachsenen. Auch auf das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Jugendlichen greifen Möglichkeitseröffnungen über, von denen als dem generellen Merkmal kultureller Modernisierungen schon die Rede war: Immer mehr Aspekte unserer Lebenswelt können thematisiert werden nicht nur, weil Tabus fallen, sondern weil uns wachsende Versprachlichungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen; immer mehr Verhaltensmuster entledigen sich des Korsetts festgelegter Formen und Üblichkeiten wir geraten unter wachsenden individuellen Gestaltungszwang. Solche Entschränkungen bringen tatsächlich mehr Freiheit sie vergrößern aber auch, besonders im Erleben der Jugendlichen, das Enttäuschungspotential. Die vormals an den Horizont gerückte Freiheit kann nun in der Nahsicht entzaubert werden. Vielen Jugendlichen stirbt die Neugier auf eine noch zu entdeckende neue Welt ab. Sie verhalten sich, als ob sie schon alles kennen und hoffen dann als junge Erwachsene eher, von Erfahrungen des Erwachsenenalters, die sie bereits hinter sich gebracht zu haben glauben, künftig verschont zu bleiben und die verpasste "Jugendlichkeit" nachzuholen.

Das durch den Abbau der Generationsgrenzen ermöglichte früherwachsene Einbezogensein ("Inklusion") stößt nun freilich zugleich auf eine gegenläufige Tendenz und wird damit noch prekärer. Aufgrund der Verlängerung der Schul und Ausbildungszeiten und der damit verbundenen materiellen Abhängigkeitsdauer stehen die Jugendlichen unter dem Druck, in sozialökonomischer Hinsicht die "Exklusion" vom selbständigen Leben lange aushalten zu müssen. Die "strukturelle Frühreife" gerät in ein paradoxales Verhältnis zur verlängerten Kindlichkeit. Das hat erhebliche destrukturierende und infantilvisierende Wirkungen.

Ihre Lebenswelt bietet den Jugendlichen also in vielfacher Hinsicht paradoxe Zumutungen. Der vorthematische Boden, auf dem sie sich bewegen, wird zugänglich und veränderbarer Machbarkeit im Hinblick auf die eigene Lebensgestaltung nimmt zu. Das Spektrum der Wissens, Zeichen und Erfahrungswelten, das zu verarbeiten ist, wird breiter und offener; die als Angebot ausliegenden Welt und Selbstdeutungen vervielfältigen sich Möglichkeiten reflexiven Umgangs mit sich selbst nehmen zu. Jugendliche sind heute im Vergleich zur Erwachsenengeneration kontextoffener und kontextausgesetzter. Das Vervielfältigungspotential bedeutet immer auch zugleich Komplexitätszumutung. Die Allpräsenz der "großen Themen" öffnet eine Wahrnehmungsweite, die unter der Gegenbewegung eines Perspektivierungszwanges enge Zuschnitte der Wirklichkeitswahrnehmung provoziert. Wie durch die Vielzahl der Fernsehprogramme "zappt" man sich durch die Wahrnehmungsflut. Der Vorteil der alltagskulturellen Mobilität droht verspielt zu werden durch den Nachteil, sich auf keine Sache mehr ernsthaft und geduldig gar leidenschaftlich beziehen zu können, ohne durch die Dauerfrage "Was will ich denn eigentlich?" gestört zu werden. Zum Wunsch, Freiheitsräume auszukosten, gesellt sich die Erfahrung der Ernüchterung angesichts der Schalheit vieler Freiheiten. Ohnehin gilt ja, dass in subjektiver wie objektiver Hinsicht sich die Realisierungschancen in dem Maße mindern, wie die Möglichkeiten ins Unabsehbare wachsen. Aufdringlich wird erlebt, dass die Glücks und Sinnverheißungen des offenen Möglichkeitshorizontes nicht haltbar sind. So wächst auch der Wunsch nach Begrenzung. Und da, abgesehen von den den für viele enger werdenden ökonomischen Spielräumen, nicht erwartet und in mancher Hinsicht auch nicht gewünscht werden kann, dass alltagskulturelle Grenzen neu gezogen, gar Tabus neu errichtet werden, stellt sich die Frage nach Selbstbegrenzungen. Selbstbegrenzungen verbinden sich offenbar zunehmend mit einem Gespür für jene Umschlagspunkte, an denen die Freiheiten, die uns offen stehen, destruktiv und inhuman werden und zwar nicht nur in den gesellschaftlichen Strukturen, nicht nur in unserem Verhältnis zu den natürlichen Ressourcen, sondern gerade auch in unserem subjektiven Verhältnis zu uns selbst.

Es ist nun ein besonders in religionspädagogischen Kreisen oft zu hörender Irrtum, die moderne Individualitätskultur mit ihrer durchaus auch religiösen Selbstsuche mache die Rechtfertigungsbotschaft des Evangeliums obsolet. Insofern mit dem Zwang zur Selbstkonstruktion die Ideologie verbunden ist, der Mensch "könne durch sein eigenes Tun zu sich selbst kommen, er könne durch seine eigenen, das Leben meisternden Leistungen... den Sinn seines Lebens selbst produzieren" , wird die das Sündenbewusstsein ja übergreifende Rechtfertigungsbotschaft erst recht zum befreienden Thema der Moderne! Die Selbstkonstruktionszwänge, denen sich die Individuen zunehmend ausgesetzt fühlen, lassen sich gegenüber dem Evangelium schon deshalb nicht prinzipiell immunisieren, weil sie im Blick der Selbstbeobachtung beständig an Grenzen des Scheiterns stoßen und damit immer gleich die Gefahr des Selbstverlustes präsent halten. Die Evidenz, mit der aus moralischen Gründen einem Selbstverwirklichungsstreben Grenzen gezogen werden, wenn es die Freiheits und Gerechtigkeitsansprüche anderer Menschen beeinträchtigt, kann dessen dauerndes unruhiges Ungestilltsein kaum je wirksam einschränken. Das kann in diesem Zusammenhang verständlich werden, weil damit anerkannt wird, dass das Selbstverwirklichungsstreben in tieferen Schichten des modernen Selbstbewusstseins verankert ist als nur im Lebenshunger und in der Ellenbogenmentalität freier Konkurrenz.

"Die Selbstbestimmungs und Selbstverwirklichungsansprüche der Individuen (produzieren) einen Erwartungsüberschuss..., der durch die depersonalisierenden Tendenzen der ökonomischen, rechtlichen und bürokratischen Mechanismen dauernd enttäuscht wird." . Die individuellen Erwartungen verstummen damit freilich nicht. An ihnen wird contrafaktisch festgehalten und schließlich werden sie zunehmend verlagert, herausgenommen aus jenen Lebensbereichen, in denen sie mit Mechanismen des Marktes, des Rechtes, der Macht kollidieren: "Auch die religiösen Neuaufbrüche der Gegenwart gehen offensichtlich aus einer Verlagerung der individuellen Erwartungsüberschüsse hervor." . Es wäre fatal, wenn die Motive und Gehalte der "frei frottierenden" religiösen Energien, wie sie vor allem aber nicht nur bei Jugendlichen zu beobachten sind, nur denunziert würden, statt sie, durchaus in kritischer Absicht, behutsam und aufklärend, daher aber auch sprachlich und sachlich im Problemhorizont des Hier und Jetzt, mit der Botschaft des Evangeliums zu konfrontieren.

Ohnehin sind wir in diesem Zusammenhang ja nicht nur mit Milieuphänomenen der modernen Jugendkultur konfrontiert. Hier tritt uns vielmehr, nunmehr vollends kenntlich, die moderne Problematik des autonomen Selbstbewusstseins entgegen. Von Anfang an ist die neuzeitliche, auf Subjektivität gegründete Philosophie begleitet vom Zerrissenheitsleid, mit dem sich ein weltgenerierendes Selbstbewusstsein belastet fühlen muss. Dieses Leid findet vornehmlich am Rande des philosophischen und wissenschaftlichen Diskurses künstlerische Ausdrucksformen: In ihnen wird besonders deutlich, dass unser bewusstes Leben immer "ein sich zu sich verhaltendes Leben ist", wozu es gehört, "von sich selbst als von diesem Selbst zu wissen." . Nun erfährt sich das Selbstbewusstsein doppelt: Einerseits als ein Subjekt, das die Welt konstruierend einschließt und sich folglich nicht mehr wie ein Ding in der Welt bestimmen kann, alle Objekteigenschaften abstreift. Andererseits aber auch als Person, als dieser eine endliche, leibliche Mensch unter anderen. Das Faktum, gerade diese eine Person zu sein, bleibt dem Menschen aus der Perspektive der Subjektivität zufällig. Meine Selbsterfahrung als Subjekt und als Person lassen sich nicht versöhnt ineinander aufheben: Die Besonderheit der einzelnen Person liegt gerade darin, dass mir Selbstbewusstsein zukommt und ich mich somit nicht vollständig unter der Kategorie der Einzelheit verstehen kann. Aber "wir verstehen uns gleich ursprünglich als Einer unter den Anderen und als der Eine gegenüber der ganzen Welt." . Im Leid zugespitzter Zerrissenheitserfahrungen lässt Hölderlin, der sich als Dichter engstes in die Selbstbewusstseinskonstruktionen der idealistischen Philosophie verstrickt sieht, seinen Hyperion sagen: "Oft ist uns, als wäre die Welt Alles und wir Nichts, oft aber auch, als wären wir Alles und die Welt nichts...".

Heute tritt uns das, was zuerst im Wechsel vom 18. zum 19. Jh. als philosophisches Problem erfasst und zugespitzt wurde, auf scheinbar banale Weise als lebensweltliches Alltagsphänomen entgegen. Wenn alles in den Reflexionsvorgang des Selbstverhältnisses hineingezogen wird, müssen wir uns entweder als Subjekte verstehen, die die Welt konstruieren und umschließen oder wir müssen uns als die Gegenstände unserer Reflexion, als einzelne Objekte, als Zufälle im Weltzusammenhang verstehen. Beide Möglichkeiten wären gewissermaßen Grenzfälle der Selbstbeschränkung und der Selbststeigerung, wovon eingangs die Rede war. Die modische Rede von der "Ganzheitlichkeit" (wenn sie sich bei näherem Hinsehen nicht einfach als Plädoyer für mehrdimensionale, also nicht einseitig kognitive Weltzugänge versteht) verkennt oft, wie sehr sie in die Irrtümer dieses Subjektivitätssoges verstrickt ist. Das "Ganze" ist nur entweder mittels einer weltgenerierenden, sich zum "Ganzen" aufspreizenden Subjektivität denkbar; oder als Überwältigung durch die Totalität des objektivistisch verstandenen Weltzusammenhanges. Der Preis wäre beide Male der gleiche: Weltverlust aufgrund der Auflösung des Gegenüber zwischen Mensch und Welt, Geschöpf und Schöpfung. Selbstvergöttlichung des Menschen und resignative Sehnsucht, mit dem großen Gewebe als bloße Faser zu verschmelzen, liegen unmittelbar beieinander.

Die modernen Lebensverhältnisse lassen diese Problematik besonders aufdringlich hervortreten. In der Pluralität von Wirklichkeitszugängen und Lebensentwürfen will mir die "Antwort auf die Frage, wer ich eigentlich bin", nur noch einleuchten, wenn das unhintergehbare Faktum meines Selbstbewusstseins "mir zugleich mit dem Bewusstsein meiner Freiheit zum AndersSeinKönnen zusammengeht. Die Anerkennung der unhintergehbaren Faktizität meines Selbstbewusstseins will zugleich die mir eigene Fähigkeit zu progressiver Selbstbestimmung aus sich hervorgehen sehen." .

Es ist aber nicht nur undenkbar, dass der Mensch "Ergebnis seines Wirkens sein kann" . Es ist ebenso undenkbar, dass der Zusammenhang, unter dessen Voraussetzung Selbstbewusstsein entsteht, als eigene Leistung durchsichtig gemacht werden kann. Unsere Beziehung zu uns selbst lässt sich schon deshalb nicht vollständig in den Zirkel der Selbstreflexion auflösen, weil "Selbstbewusstsein nur als eine Wirklichkeit eintreten", aber "nicht zur Wirklichkeit gebracht werden kann" . Damit korrespondiert unmittelbar die Alltagserfahrung, dass Selbstzustände überhaupt nicht intentional zu erreichen sind. So wenig ich mit Erfolg beschließen kann, verliebt zu sein oder einzuschlafen, so wenig kann ich absichtsvoll "Sinn finden". Dass Selbstbewusstsein nicht erschöpfend als Selbstreflexion gedacht werden kann , dass vielmehr die Reflexion nur entfaltet, was implizit dem vorreflexiven Bewusstsein schon bekannt ist, hat der Philosoph Dieter Henrich als den intuitiven Grund aufgewiesen, der sich dem Letztbegründungszugriff des Denkens entzieht. Theologisch kann hier die menschliche Selbsterfahrung der Geschöpflichkeit anknüpfen. Schon Hölderlin deutete diese Grenze, die er dem Systemdenken des Idealismus gezogen sah, durch den Gedanken des "Seins aus unverfügbarem Grunde", dem eine Grundstimmung des Dankes antwortet. Hier sieht sich religiöse Erfahrung direkt mit den Grundproblemen neuzeitlicher Subjektivität verbunden. Das ist nicht so zu verstehen, dass das Wort Gottes als Gottes freie Selbstoffenbarung reflexiv eingeholt werden kann. Wohl aber kann die der Selbstreflexion zugängliche Erfahrung, dass sie sich nicht selbst setzen kann, für die Einsicht öffnen, dass uns von Gott ein Wort erreicht, das wir uns nicht selbst sagen können. Und diese Einsicht eröffnet sich nun nicht gegen, sondern mittels der Erfahrung modernen Selbstbewusststeins. Wo immer der Gedanke eines "Seins aus unverfügbarem Grunde" aufblitzt und den Zirkel aufbricht, in dem sich das Selbstbewusstsein allein aus seiner Selbstreflexivität zu verstehen versucht, sieht sich die hypertrophe menschliche Ursprungssuche wie auch immer bewusst und kräftig dementiert. Von daher wären auch dem Heideggerschen Verdikt Grenzen zu ziehen, "wonach die Seinsvergessenheit des Abendlandes ihren Gipfel erstiegen habe in den Allmachtsphantasien des weltbeherrschenden Subjekts: In seinem tiefsten Grund wusste sich dieses, von Descartes bis Sartre, sich selbst übereignet aus 'unverfügbarem Grund', womit sein Narzissmus von Beginn an gedemütigt war.

Die modernen Subjekt'Dekonstruktionen' sind in die Revision oder besser, an die klassischen Texte der Moderne zurückzuverweisen." Zu Recht unterliegt heute ein Autonomieideal der Kritik, das mit der Fähigkeit von konkreten Subjekten, ihr Leben frei und ungezwungen zu bestimmen, die Voraussetzungen vollständiger Bedürfnistransparenz und Bedeutungsintentionalität verbindet. Aber auf die Tatsache, dass menschliche Subjekte nicht mehr als vollkommen transparente und ihrer selbst mächtige Wesen zu begreifen sind, ist ja nicht nur mit der Radikalisierung der dezentrierenden Tendenzen zu antworten, wie sie das poststrukturalistischdekonstruktivistische Plädoyer für eine völlige Preisgabe der Idee individueller Autonomie forciert. Auch eine Spaltung zwischen Idee und Wirklichkeit analog zur Zweiweltenlehre Kants ist keine zwingende Folgerung, etwa so, dass am Autonomieideal bei gleichzeitiger Anerkennung der Dezentrierungen festgehalten würde und Autonomie auf eine transzendentale Idee des Menschen im Gegensatz zu den empirischen Subjekten angewiesen bliebe. Eine mögliche Antwort lässt sich hingegen durch einen "intersubjektivitätstheoretischen Begriff des Subjekts" gewinnen. Damit wird abgezielt auf eine "Rekonstruktion von Subjektivität, die so angelegt ist, dass darin... subjektivitätsübergreifende Mächte von vornherein als Konstitutionsbedingungen der Individualisierung von Subjekten eingehen."

A. Honneth schließt diese Perspektive an G.H. Meads Versuch an, die Begriffe der klassischen Bewusstseinstheorie des Subjekts auf die Basis einer psychoanalytisch erweiterten Intersubjektivitätstheorie umzustellen. Das einzelne Subjekt kann nämlich zu bewusster Identität nur gelangen, "indem es sich in die exzentrische Perspektive eines symbolisch repräsentierten Anderen versetzt, vor der aus es auf sich und sein Handeln als Interaktionsteilnehmer zu blicken lernt", also das "Ich" als "Mich" wahrnimmt zwischen "I" und "me" differenziert . Dem entspräche ein Persönlichkeitsmodell, bei dem die unkontrollierbaren Kräfte etwa des Unbewussten oder der Sprache nicht als die Unüberschreitbahren Barrieren, sondern als die Konstitutionsbedingungen von IchIdentität erscheinen. Dann aber müsste das "klassische Ziel der Bedürfnistransparenz... durch die Vorstellung der sprachlichen Artikulationsfähigkeit ersetzt werden, an die Stelle der Idee der biografischen Konsistenz sollte die Vorstellung einer narrativen Kohärenz des Lebens treten und die Idee der Prinziporientierung schließlich durch das Kriterium der moralischen Kontextsensibilität ergänzt werden" . Diese Fähigkeiten können nur aufgrund erfahrener Anerkennung gewonnen werden, wodurch die Erfahrung des "Seins aus unverfügbarem Grunde" qualifiziert wird. Sie wird damit auch immer schon über die schöpfungstheologische Dimension hinaus auf eine Erfahrungsdimension erweitert, die rechtfertigungstheologischer Reflexion bedarf.

Vor diesem Hintergrund können moderne Subjektivität und Religiosität in eine Beziehung zueinander treten, die aus theologischer Perspektive weder dazu zwingt, die Subjektivität als Ausdruck menschlicher Hypertrophie zu entlarven, noch die Religiosität als Aufbegehren gegen die reine Rezeptivität des glaubenden Hörens auf das Wort Gottes zu denunzieren. "Frömmigkeit, also die subjektiv gelebte Religion, ist da in Gestalt der Suche nach dem wahren Selbst und damit nach dem absoluten Grund, von dem her ich mich als ein soundnichtandersbestimmtes Individuum wissen kann... Die Kirche dürfte den Anforderungen, die an eine heute überzeugende religiöse Deutungskultur zu stellen sind, ... dann am besten entsprechen, wenn sie sich mit ihrer religiösen Rede darum bemüht, die Frage, die wir selber sind, im Lichte des von Jesus gelebten Gottesverhältnisses durchzubuchstabieren." .

Die Tiefendimension der modernen Selbstsuche ist nun soweit ausgeleuchtet, dass zur ethischen Fragestellung zurückgekehrt werden kann, ohne sie moralistisch zu verengen. W. Huber hat zwischen der biblischen Botschaft und der Moderne eine Brücke geschlagen, indem er die "Selbstbegrenzung aus Freiheit" als das "ethische Grundproblem des technischen Zeitalters" in der biblischen Botschaft präfiguriert sieht . M. Welker hat darüberhinaus betont, dass das im alttestamentlichen Erbarmensgesetz geforderte "Ethos der freien Selbstbegrenzungen" mit der Antwort auf die Frage "Wie komme ich ins Reich Gottes?" zum "Ethos der freien Selbstzurücknahme" gesteigert wird .

Das ethische Grundproblem der Moderne, das sich im technischen Zeitalter herausschält, nämlich dass unser Können und unser Dürfen, dass Machbarkeit und Zuträglichkeit immer weiter auseinanderlaufen, spitzt sich gegenwärtig nicht nur etwa hinsichtlich ökologischer oder gentechnologischer Probleme zu. Vielmehr greift das Verfügungsbewusstsein nunmehr zunehmend auf das Selbstverhältnis über. Wir können die Erfahrung machen, dass z.B. die weit geöffneten Reflexionsund Thematisierungsmöglichkeiten nicht nur Freiheitsgewinne in unserem Verhältnis zu uns selbst eröffnen. Damit sind zugleich Verschleiß und Verödungseffekte verbunden, die in mangelnder Sensibilität für das Unsagbare, mangelnder Fähigkeit zu Rezeptivität, mangelnder Anerkennung von Umgangsformen, mangelnder Bereitschaft zum produktiven Respekt vor Fremdheit Ausdruck finden. Alles droht zerredet, einverleibt und trivialisiert zu werden . Die Möglichkeit, für meine Subjektivität und die der anderen über eine Sprache zu verfügen, wird zu einer verengenden Spezialisierung, die sich paradoxerweise verallgemeinert: Alles muss durchs Nadelöhr der versprachlichten Subjektivierung (sonst "gibt mir das nichts mehr") jede Situation wird für subjektivierten Selbstausdruck genutzt, durch keine Kriterien des Taktes gebremst jede andere Grenze als die, die der Einzelne selbst zu ziehen vermag, verliert ihre Legitimität. Damit verbindet sich oft die Routine, Betroffenheit hervorzurufen und die damit ins Spiel gebrachte moralisierende Wirkung und deren Machteffekt an die Stelle intersubjektiver Verständigungsbemühungen zu setzen.

In der Selbsterfahrung treten gleichsam die Motive hervor, das moderne Verfügungsbewusstsein mit dem sensiblen Gespür dafür zu verbinden, wann die Verfügungsmöglichkeiten unproduktiv, destruktiv oder inhuman werden. Dabei geht es nicht um neue Tabus und Verbote, die nicht nur nicht greifen würden, sondern die Problemlage verfehlen würden: Die Verbindung von Freiheit und Selbstbegrenzung würde nur hinsichtlich ihrer Risiken beurteilt und letztlich gekappt werden. Auch gegenüber konservativen Ideologemen der Selbsthingabe, die auf Freiheitsverzicht hinausläuft, ist auf trennscharfen Unterscheidungen zu bestehen . Die Förderung eines verfeinerten Sensoriums für Verschleiß und Missbrauchseffekte müsste vielmehr auf "situativ angemessene Möglichkeitsverzichte" (Ziehe) hinauslaufen: Auch als Gebot der Klugheit im Umgang mit anderen und mit sich selbst. Wir sind hier am Kern des christlichen Freiheitsverständnisses.Wenn wir heute erleben können, dass Freiheit als dauernder Zwang, sich selbst suchen und behaupten zu müssen, in Unfreiheit umschlägt, wenn wir erleben können, dass Freiheit, die sich nur aus sich selbst zu begründen versucht, die sich also niemandem verdankt und folglich auch niemandem verpflichtet weiß, ins Leere läuft dann sind wir ja über den garstigen Graben von fast zweitausend Jahren hinweg ganz nah an dem Thema, über das sich der Apostel Paulus mit den Christen in Korinth und Galatien auseinandersetzte. "Alles ist mir erlaubt": Damit schließt der Apostel Paulus auf unerhört kühne Weise einen Möglichkeitshorizont auf, der innerweltlich durch keine Taburegeln und Heiligkeitszonen begrenzt ist. Die grenzziehenden Einsichten lauten vielmehr: "Aber nicht alles dient mir zum Guten... und es soll mich nichts gefangen nehmen" (1.Kor. 6,12). Es ist für Paulus allerdings keine Frage, ob die handlungspraktische Reichweite dieser Einsichten allein aus pragmatischen Klugheitserwägungen gesichert werden kann. Ohnehin wäre es ja moralisch anspruchsvoller, das zu beachten, was an meinem Handeln den Mitmenschen anstößig erscheint oder gar schadet. Doch ist es unrealistisch, freie Selbstbegrenzung allein aufgrund der Einsichtsfähigkeit oder der moralischen Kraft autonomer Menschen zu erwarten. Ohne die Rückbindungen an die Gewissheit der zugleich befreienden und verpflichtenden Verheißung Gottes wäre das Plädoyer für Freiheit und Selbstbegrenzungen eine Utopie, der keine Welterfahrung entgegenkommt. Wiederum Paulus: "Alles ist Euer... Ihr aber seid Christi, Christus ist aber Gottes" (1. Kor. 3, 21ff.).

Gerade im allerweitesten Horizont der geöffneten Möglichkeiten tritt die Grenze der menschlichen Autonomie scharf ans Licht: "Ihr gehört euch nicht selbst" (1. Kor. 6,19). Dass der Mensch niemals vollständig über sich selbst verfügt, dass er sich also immer schon in bestimmter Weise vorfindet, ist zunächst eine Erfahrung seiner Geschöpflichkeit. Dem entspricht ja die Reflexionserfahrung des modernen Selbstbewusstseins: "Sein aus unverfügbarem Grunde" zu sein.

Insofern schließt das neutestamentliche Freiheitsverständnis an Motive an, die im griechischen Vokabular vorgefunden werden: Dort bestimmt sich Freiheit als Gegensatz zur Sklaverei, wobei Knechtschaft durchaus auch im übertragenen Sinne als Abhängigkeit verstanden werden kann. Freiheit thematisiert also als Befreiungsvorgang die Frage, "wem der Mensch gehört, wer über ihn Verfügungsrecht hat." . Die Befreiung "von dem Gesetz der Sünde und des Todes" (Röm. 8,2) kann nicht in der Verfügung des Menschen über sich selbst münden. Zwar: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen" (Gal. 5,1). Nicht den Loskauf zu annullieren und wieder "der Menschen Knechte" zu werden, ist nun aber, weil die Menschen sich eben nicht selbst gehören, nur möglich, wenn sie erneut Knechte werden: "Knechte Christi" (1.Kor. 7,22f.). Die Geschöpflichkeitserfahrung wird nun Christologisch ausgeleuchtet und überboten.

Hier sind wir mitten in jener merkwürdigen, auf den ersten Blick paradoxalen Dialektik, die Luther so formuliert hat: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan". "Frei von jedermann" zu sein und sich zugleich zu "jedermanns Knecht" zu machen (1. Kor. 9,19), erscheint nur paradox unter der Voraussetzung der Möglichkeit einer vollständigen Freiheit zu sich selbst. Doch "Freiheit ist undenkbar, die nicht in Abhängigkeit gründet" : Sie bedarf immer eines Ermöglichungsgrundes außerhalb des Menschen selbst. Paulus sieht den Menschen als befreit von sich selbst an, der eigenen Verfügung entzogen. "Dass die Glaubenden Christus gehören, hat darin seine Entsprechung, dass ihnen alles gehört (1. Kor. 3,2123). Damit enthüllt sich der tiefste Grund,warum es nicht beliebig zur Wahl steht, ob man den Christusglauben als Freiheit versteht oder als Preisgabe aller Freiheit an die unbedingte Knechtschaft unter einem neuen Gesetz. In Christus und im Geistgeschehen ereignet sich die Gegenwart Gottes als gegenwärtigmachende Gegenwart. Ganz gegenwärtig sein heißt frei sein."

An dieser Stelle lässt sich Luthers Rechtfertigungsverständnis besonders deutlich vor dem Missverständnis bewahren, es ziele aufgrund eines mangelnden Sündenbewusstseins des modernen Menschen heute ins Leere. Mit Paulus versteht Luther die Sünde zunächst außerhalb aller moralischen Konnotationen als Verfehlung der in der Geschöpflichkeit wurzelnden und durch Jesus Christus erschlossenen rechten Freiheit: Sündig ist der Mensch, der vollständig über sich selbst verfügen und eigenmächtig leben will der sich freilich gerade deshalb verliert und sein Leben verfehlt, weil er nicht durch Christus über sich verfügen lassen will. Von der Sünde befreit zu werden, heißt dann: "Statt sich selbst zu haben,... sich selbst zu seinem eigenen Besten entzogen" zu sein . Deshalb kann das Evangelium von der Rechtfertigung allein aus Glauben gerade dem modernen, in seine Selbstsuche verstrickten Menschen als Freiheitsbotschaft einleuchten: Freiheit ist verdankte, nicht geleistete Freiheit und als solche kann sie sich selbst in die Verantwortung nehmen. Allererst an dieser Stelle treten moralische Fragen und Fragen von Schuld ins Blickfeld. Freilich so, dass sie immer rückgebunden bleiben an das, was wir von Gott empfangen: "Ausweis dieser Freiheit ist die fünfte VaterUnserBitte: 'Und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern'. Wer sich seine Schuld vergeben lassen kann und anderen ihre Schuld zu vergeben vermag der ist ein 'freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan'." . So setzt also weltliche Freiheit gleichwohl die innere Freiheit des Christenmenschen, "von Gott her mit sich selber... etwas anzufangen" (ebd.), voraus. Sie setzt den Geist Gottes als Gottes Gegenwart voraus. Der Grund von Lebensverhältnissen, "die wir zuvorkommend, liebevoll und friedlich nennen", die "durch Wechselseitigkeit der Bereitschaft zu freier Selbstzurücknahme zugunsten der Nächsten charakterisiert" sind, ist "erfahrbar, aber nicht fixierbar". So sind wir herausgefordert, das Wirken des Geistes Gottes in den "Wechselverhältnisse(n) freier Selbstzurücknahme als unverfügbare Qualitätsveränderungen konkreter Lebenszusammenhänge zu erfassen."

Die Freiheitsbotschaft des Evangeliums sprengt auf diese Weise die eingangs umrissenen Problematiken auf. Freie Selbstbegrenzung hat weder zu tun mit einer Freiheit des Müssens als Sichbestimmenlassen, noch mit einer Freiheit des Sollens als SelbstBestimmung. Dem Zwang zum Selbstseinmüssen müssen wir nicht entgehen, indem wir die Freiheit als Selbsterhaltung bis zur äußersten Konsequenz, nämlich der Auslöschung unseres Selbst vorantreiben. Wir können uns einer Macht anvertrauen, die uns unser Selbst nicht als eigene Leistung abverlangt. "Zur Freiheit des Müssens verhält sich die Freiheit des Könnens wie das Ende zur Vollendung".

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/1994

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