Gelesen: Deutschland ab vom Wege

Von Oliver Friedrich

 

Henning Sußebach, Redakteur und Reporter der Wochenzeitung „Die Zeit“, beschließt, vom Darß auf die Zugspitze zu gehen, ohne asphaltierte Wege zu betreten. Er durchquert „Deutschland ab vom Wege“. So heißt auch das Buch, in dem er von seinen Eindrücken und Begegnungen, seinen Gedanken und Fragen berichtet, die ihm auf seiner 49-tägigen Reise von Nord nach Süd, durch alte und neue Bundesländer widerfahren sind. Im Eichsfeld macht er Station in einem Kloster, zu dessen Konvent fünf Mönche gehören. Das klösterliche Leben löst bei Sußebach erneut die Frage nach Religion und Glauben aus. Eine Frage, die er meinte, für sich beantwortet zu haben:

 

In diesem Jahr war in den Zeitungen viel von der „Rückkehr der Religion“ die Rede; wir hatten sie in unserem Haus am Hamburger Stadtrand selbst erlebt. Der syrische Flüchtling wohnte ein paar Tage bei uns, da ging er mit seinem Handy durchs Wohnzimmer und bestimmte per App die Lage von Mekka, die Richtung, in der er fortan beten würde. Er war ein normaler junger Mann, so normal, wie man sein kann, wenn man einem Krieg entkommen ist. Wir gingen ins Kino und in Shisha-Bars, zum Eisstockschießen und an den Strand. Was mich manchmal befremdete, war seine buchstabengenaue Korantreue. Jeden Schluck Wasser, jeden Schluck Tee trank er aus einer Tasse, die unsere Bank ihm zur Eröffnung seines Girokontos geschenkt hatte. Nie rührte er unsere Becher an, weil auf irgendeinem weihnachtlichen Gartenfest vor Jahren womöglich einmal Glühwein darin gewesen sein könnte. „Ich müsste sie einmal mit Sand ausreiben und siebenmal waschen“, sagte er. „Sonst sind sie unrein und ich begehe eine Sünde, wenn ich daraus trinke.“ Wir diskutierten viel. Die Regel mit den Bechern war vermutlich tausend Jahre vor Erfindung der Spülmaschine aufgestellt worden, in Zeiten sich vollsaugender Tonkrüge. Ich sage, wenn Mohammed und Jesus heute auf die Erde kämen, hätten sie bestimmt andere Vorstellungen von Schuld. Dann wäre ein Langstreckenflug sicher sündiger als ein nicht ganz sauberes Glas, in dem einmal Alkohol war. Es ging mir bei diesen Gesprächen nicht um den Islam, sondern um Religion an sich – und weniger um den Flüchtling, vielmehr um mich. Dass der junge Syrer sich an etwas Vertrautem festhielt angesichts all des Neuen, war verständlich. Mehr noch: Er verteidigte seine Religion gegenüber den Horden des IS, die sie missbrauchten und vor denen er geflohen war. Aber was war mit mir? Ich ging einmal im Jahr in die Kirche, zu Weihnachten, und fühlte mich jedes Mal wie ein Heuchler. Ich kam gut ohne Religion zurecht und lebte deshalb nicht unmoralischer als andere. Ich fand sogar, ohne Religion gebe es einen Grund weniger, sich zu streiten, schlimmstenfalls einen Krieg anzuzetteln. Ausgerechnet angesichts der Religiosität unseres syrischen Gastes beschloss ich endgültig: Es gibt keinen Gott.

Aber lässt sich das beschließen? Wie eine Vereinssatzung oder das nächste Urlaubsziel? Ich fragte Rolf, den Mönch vom Hülfensberg, wie er sich Gott vorstelle. Womöglich als bärtigen Alten? Da lachte er schallend und rief: „Nein! Für mich hat Gott keine männlichen Züge, auch keine weiblichen. Am ehesten ähnelt er dem Horizont. Ich habe ihn nie ganz im Blick, ein Teil liegt immer hinter mir. Und je näher ich ihm komme, desto mehr entzieht er sich.“ Der Mönch sagte das zwischen allerlei Kruzifixen, Statuen und Heiligenbildern und ließ mich allein mit der Verblüffung darüber, dass ein Geistlicher weniger dogmatisch sein kann als viele Gläubige. Mein Unterwegs-Ich beschloss, die Sache mit dem Glauben noch einmal zu überdenken. Auch das noch.