Mit Ritualen das Leben gestalten – der Weg des Judentums

Von Ursula Rudnick

 

Die Bedeutung des menschlichen Handelns

Der Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel (1907–1972) beschreibt die Bedeutung, die menschlichem Handeln im Judentum zugemessen wird: „Das Judentum betont die Bedeutung menschlichen Tuns … Sein Bestreben ist, Ideen in Taten umzusetzen … Wenn wir das Heilige im konkreten Leben verwirklichen, dann spüren wir unsere Verwandtschaft mit dem Göttlichen, die Gegenwart des Göttlichen. Was wir durch Reflektieren nicht begreifen können, das begreifen wir durch Tun.“ 1

Heschel betont die Bedeutung menschlichen Handelns, im Guten wie im Bösen. Der Mensch kann dazu beitragen, die „Königsherrschaft Gottes“ auf der Welt zu errichten. Der jüdische Weg hierzu liegt in der Erfüllung der Mizwot, der Weisungen Gottes für das Leben. Diese Rituale geben dem Leben von der Wiege bis zur Bahre gleichermaßen Gestalt und Sinn.


Die Mizwot

Die Gebote wurden, gemäß der jüdischen Tradition, Moses auf dem Sinai gegeben. Sie sind Teil des Bundes, jenes Vertrags, den Gott mit allen Israeliten auf dem Berg schloss. Der Inhalt des Bundes besteht darin, dass Gott dem Volk Israel verheißt, gegenwärtig zu sein. Das Volk Israel nimmt die Verpflichtung auf sich, die Weisungen Gottes zu befolgen. Der Bund und damit auch die Gabe der Gebote sind eingebunden in die Geschichte der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten. Vor der Gabe der Gebote ruft Gott ins Gedächtnis: „Ich bin Adonai, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ (Ex 20,2)

Die Gebote Gottes dienen dem Leben. In ihnen steckt die Weisheit für ein gelingendes Leben, nicht allein des Einzelnen, sondern der Gemeinschaft. Der Bundesschluss am Sinai ist der entscheidende Augenblick in der Geschichte von Gott und Israel: Er ist die freie Wahl Gottes und die positive Antwort Israels. Im Buch Exodus wird der demokratische Aspekt deutlich betont. Gott teilt Moses sein Angebot mit, dieser berät es mit den Ältesten des Volkes, woraufhin „alles Volk einmütig antwortete und sprach: Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun.“ (Ex 19,8)

Die Gebote dienen der Bewahrung der Freiheit. Sie vereinen in ihrem biblischen Ursprung Grund- und Sozialgesetz, Wirtschafts-, Zivil- und Strafrecht. Manche zielen auf nicht justiziable Einstellungen und Haltungen. Andere regeln den Kultus: so z. B. Gebote, die sich auf Opfer im Tempel beziehen. Die Gebote regeln die Beziehungen innerhalb der Familie: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“, zwischen Nachbarn: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr.“ (Lev 19,18) und auch zu Fremden: „Die Fremdlinge sollt ihr nicht unterdrücken; denn ihr wisst um der Fremdlinge Herz, weil ihr auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen seid.“ (Ex 23,9) Die Gebote bestimmen den Umgang mit der Natur, insbesondere mit den Tieren. Es gibt moralische Appelle, wie z. B. die Aufforderung: „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entziehe dich nicht deinem Fleisch und Blut!“ (Jes 58,7) Und es gibt konkrete Bestimmungen für Konflikte: „Wenn du dem Rind oder Esel deines Feindes begegnest, die sich verirrt haben, so sollst du sie ihm wieder zuführen.“ (Ex 23,4) Die Gebote regeln auf umfassende Weise das Leben: Kein Lebensbereich ist von ihnen ausgeschlossen, weder Sexualität noch Wirtschaft noch Krieg.

Bereits in der biblischen Tradition sind die Gebote Gottes ein Grund zur Freude! Psalm 119, das große Lob der Weisungen Gottes und der mit 176 Versen längste Psalm der Bibel, bringt dies auf eindrückliche Weise zum Ausdruck. In poetischen Worten wird die Freude an Gottes Geboten auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebracht: „Öffne mir die Augen, dass ich sehe die Wunder deiner Weisungen … Meine Seele verzehrt sich vor Verlangen nach deinen Ordnungen allezeit … Ich habe Freude an deinen Geboten, sie sind mir sehr lieb … Ich liebe deine Gebote mehr als Gold und feines Gold“ (Ps 119,18f).
Die Hebräische Bibel benutzt mehrere Begriffe, um die unterschiedlichen Aspekte der Gebote zu benennen. In Psalm 119 finden sich die Begriffe: Tora, Pikudim, Hukim und Mizwot. Leopold Zunz überträgt diese Begriffe mit den Worten: Lehre, Befehle, Satzungen und Gebote. Martin Buber spricht von Weisung, Ordnungen, Gesetzen und Geboten.

In der rabbinischen Tradition wird zwischen Mischpatim, Hokim und Edot unterschieden. Mischpatim sind allgemein nachvollziehbar, wie z. B. das Gebot, nicht zu stehlen. Hokim sind Gebote Gottes, deren Sinn nicht augenfällig ist, wie z. B. das Gebot, nicht in einem Kleidungsstück Leinen und Wolle zu verweben. Edot geben Zeugnis: So gibt z. B. das Gebot, den Schabbat zu halten, „Zeugnis“ von der Erschaffung der Welt durch Gott und vergegenwärtigt dies im Ritual des Kiddusch, der Segnung von Wein und Brot. Die durch das Gebot gebotene Ruhe des Menschen erinnert an und vergegenwärtigt Gottes Ruhe am Schabbat nach der Schöpfung der Welt.

In der Gegenwart wird das einzelne Gebot meist als Mizwa bezeichnet. Das Wort Gebot kennzeichnet diesen Begriff jedoch nur unvollständig: „So bedeutet es auch Güte, Wert, Tugend, Verdienstlichkeit, Frömmigkeit, ja sogar Heiligkeit … Diese einzigartige Konzeption der Mizwa … macht es schwer, ein Äquivalent dafür in anderen Sprachen zu finden.“ 2

Ein Beispiel aus dem Alltag ist das Anlegen der Tefillin im Morgengebet. Beim Anlegen der Gebetsriemen wird ein Satz aus dem Propheten Hosea gesprochen: „Ich will mich dir verloben für alle Ewigkeit, ich will mich dir verloben in Gerechtigkeit und Recht, in Gnade und Barmherzigkeit. Ja, in Treue will ich mich mit dir verloben, und du wirst den Herr erkennen.“ (Hos 2,21f) Bei Hosea ist es ein Satz, den Gott zu seinem Volk spricht. Im Morgengebet wird er vom Betenden zu Gott gesprochen. Der Bundesschluss wird von observanten Juden täglich in Erinnerung gerufen und erneuert.

Seit einigen Jahrzehnten gibt es eine Neugestaltung, Ergänzung oder Erweiterung von bereits bestehenden Festen, Bräuchen und jüdischen Ritualen durch Frauen. Zu neuen Ritualen gehört z. B. der Frauen-Seder, der von einer New Yorker Frauen-Gruppe seit 1974 gefeiert wird.3 Im Zusammenhang mit dem Pesach Seder gibt es ein humorvolles Ritual, welches vor allem in der New Yorker Region verbreitet ist. Im Rahmen der Diskussion im konservativen Judentum, ob Frauen ordiniert werden sollten, sagte ein Mann: Eine Frau gehöre genauso wenig auf die Bima wie eine Orange auf den Sederteller. In Erinnerung an die Auseinandersetzungen um eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Rabbinat findet sich zunehmend eine Orange auf dem Sederteller.

Ein anderes Ritual ist das Hinzufügen von Miriams Becher zum Seder, womit an ihre Rolle beim Auszug aus Ägypten erinnert wird: „Dies ist der Becher Miriams, der Becher des lebendigen Wassers in Erinnerung an den Auszug aus Ägypten.“ Dazu gehört die Erläuterung: „Erinnern wir uns an den Auszug aus Ägypten. Dies ist das lebendige Wasser, Gottes Geschenk an Miriam, das neues Leben gab, als wir mit uns in der Wüstenei kämpften. Gepriesen seist du Gott, der du uns aus der Enge in die Wüstenei brachtest und uns mit unendlichen Möglichkeiten am Leben erhieltest und uns befähigt hast, einen neuen Ort zu erreichen.“


Deutung in der Gegenwart

Abraham Joshua Heschel widerspricht einer weit verbreiteten christlichen Auffassung: „Für Außenstehende mögen die Mizwot wie Hieroglyphen erscheinen, obskur, absurd, Ketten eines toten Legalismus. Für Menschen, die keine Teilhabe am Beispiellosen und Überragenden anstreben, mag Observanz zu einer freudlosen und lästigen Routine werden. Für diejenigen aber, die ihr Leben mit dem Ewig-Dauernden verbinden wollen, sind die Mizwot ein Kunstwerk, beglückend, ausdrucksstark, voller Bedeutung.“4

Die Mizwot strukturieren das Leben auf umfassende Weise. Sie sind soziale Rituale, da sie Gemeinschaft schaffen, und sie sind religiöse Rituale, da sie ein integraler Teil der großen jüdischen Erzählung, der Tora, sind und diese durch jede konkret praktizierte Mizwa vergegenwärtigen.
In der Erfüllung der Gebote und damit im Handeln sieht der Religionsphilosoph Heschel einen Weg der Gotteserkenntnis. „Der Jude ist aufgefordert, den Sprung der Tat zu wagen, nicht so sehr den Sprung des Denkens. Er ist aufgefordert, über die eigenen Bedürfnisse hinauszugehen, mehr zu tun als er versteht, damit er mehr versteht, als er tut. Wenn er das Wort der Tora erfüllt, wird er in geistlichem Sinn eingeführt. Durch Ekstase des Tuns lernt er, der Anwesenheit Gottes gewiss zu werden.“5

Wird der Auftrag, die Gebote zu tun, recht verstanden, dann können sich im Tun Gotteserfahrung und Gotteserkenntnis ereignen: „Wenn wir auf Seinen (Gottes) Willen antworten“ und also eine Mizwa erfüllen, „dann erkennen wir Seine Gegenwart in unserem Tun. Sein Wille wird in unserem Tun offenbar. Wenn wir eine heilige Tat vollbringen, erschließen wir die Brunnen des Glaubens.“6

Durch sein Tun, durch die Erfüllung einer Mizwa trägt der Mensch dazu bei, die „Königsherrschaft Gottes“ auf der Welt zu errichten und damit eine Wohnung für Gott auf Erden zu schaffen. Die Gebote verbinden Gott und Mensch miteinander. „Sie verpflichten Ihn so gut wie uns”, sagt Abraham Joshua Heschel.7 In den Geboten kommt die Partnerschaft von Gott und Mensch zum Ausdruck: Wer ein Gebot erfüllt, „wird zum Mitstreiter Gottes, tritt ein in die Gemeinschaft derer, die Seinen Willen tun.” Und: „Indem wir eine heilige Aufgabe erfüllen, enthüllen wir eine göttliche Absicht … In einer frommen Tat sind wir Echo auf Gottes heimlichen Gesang; wenn wir lieben, singen wir Gottes unvollendetes Lied weiter. Man kann kein anderes Bild des Allerhöchsten anfertigen als nur dies eine: unser eigenes Leben als Abbild seines Willens. Der Mensch nach seinem Bilde geschaffen, ist dazu bestimmt, seine Wege des Erbarmens nachzuahmen. Er hat dem Menschen die Macht delegiert, an Seiner statt zu handeln. Wir sind seine Stellvertreter, wenn wir Leiden lindern und Freude bringen.“8 

Heschel beschreibt die Wechselwirkung zwischen Geben und Nehmen: „Je mehr wir für Ihn tun, umso mehr empfangen wir für uns.“ Mit einem poetischen Bild charakterisiert er die Erfüllung eines Gebotes: „Wer eine Mizwa vollbringt, zündet vor Gott eine Lampe an und gibt seiner Seele mehr Leben. (Ex Rabba 36,3)“9

Ein Gebot zu erfüllen, bedeutet Freude zu erfahren und Freude zu geben: Freude, die bestärkt und Kraft gibt in der Beziehung zum Nächsten und zu Gott. Die Freude der Mizwa gibt es in vielfältigen Kontexten: im Studium der biblischen und der rabbinischen Literatur wie auch in der jüdischen Praxis. Besonders eindrücklich ist sie an Simchat Tora, dem Tora-Freudenfest: beim Tanz mit der Tora-Rolle im Arm.

Im rituellen Vollzug einer Mizwa kommt – im Idealfall – Mehrfaches zusammen: Das Tun einer jeden Mizwa ist eine Bestätigung, Konkretion und Fortsetzung des auf dem Sinai geschlossenen Bundes mit Gott. In ihrem Vollzug kann Gott erfahren werden und zwar nicht in der mystischen Versenkung eines stillen Gebets, sondern im Tun, sei es im Sprechen einer Beracha, dem Verzehr von koscherem Essen oder dem ehelichen Sex. Das Halten der Gebote verbindet Gott und Mensch, macht die Partnerschaft des Bundes konkret erfahrbar im Hier und Heute. Darüber hinaus schafft sie eine Verbindung zwischen Vergangenheit, begonnen mit dem Bundesschluss auf dem Sinai, bis hin zu einer eschatologischen Zukunft, wenn Gott auf umfassende Weise eine Wohnung auf Erden gefunden haben wird, wenn Tikkun Olam, die Heilung der Welt, eines Tages Realität geworden sein wird.


Literatur

  • Heschel, Abraham Joshua: Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums. Neukirchen 1992
  • Broner, E.M.: The Telling. The Story of a Group of Jewish Women who journey to Spirituality through Community and Ceremony, San Francisco 1993

 

Anmerkungen 

  1. Abraham Joshua Heschel: Gott sucht den Menschen. Eine Philosophie des Judentums, Neukirchen 1992, 228f.
  2. Ebd., 278. In diesem Kontext ist auch noch der Begriff Halacha zu erwähnen. Er bezeichnet die Gesamtheit der Gebote, ihre Deutung und Ausführungsbestimmungen. Die Halacha hat in der Gegenwart in den meisten Fällen ihren normativ-juristischen Charakter verloren. Die individuelle Nichtbeachtung z. B. von Kaschrut oder der Schabbatruhe hat – in manchen Kreisen – allenfalls soziale Konsequenzen.
  3. E.M. Broner. The Telling. The Story of a Group of Jewish Women who journey to Spirituality through Community and Ceremony. San Francisco: Harper, 1993.
  4. Heschel, 272.
  5. Ebd., 218.
  6. Ebd.
  7. Ebd., 222.
  8. Ebd., 225.
  9. Ebd., 240. (Ex Rabba = rabbinischer Kommentar zum Buch Exodus)