Flucht und Ankommen im Jahr 2016

Beate Peters im Gespräch mit Amin Amiri und Sajjad Naser

 

Viele Flüchtlinge erreichten in den letzten Monaten – oft nach langen, beschwerlichen und gefährlichen Wegen – Deutschland. Welche Gründe führen dazu, Familie und Heimat zu verlassen, um sich zu einem unbekannten Ziel aufzumachen? Was bedeutet es, in Deutschland anzukommen? Wir haben zwei Geflüchtete befragt, Amin Amiri und Sajjad Naser, die in verschiedenen Bundesländern des Iran gelebt haben und unabhängig voneinander auf die Flucht gegangen sind. Vor drei Monaten haben sich ihre Lebenswege zufällig in Deutschland gekreuzt: Sie wohnen seitdem zusammen in einem Wohncontainer in einem Dorf der Nordheide.

 

Beate Peters: Sie sind im letzten Jahr aus dem Iran geflohen, einem Land, das hoch entwickelt ist und in dem es sich in materieller Hinsicht gut und bequem leben lässt. Was hat Sie bewogen, dennoch zu gehen?

Amin Amiri: Die Regierung im Iran gibt vor, was Menschen denken und tun dürfen und was nicht. Ich habe es oft erlebt, dass Regeln vorgegeben werden, an die sich Regierende selbst nicht halten. Oft gilt heute eine Regel und morgen gilt eine ganz andere. Viele Vorgaben werden mit dem Islam begründet. Ich habe aber Fragen an vieles gehabt und ehrlich gesagt, was ich gedacht habe. Und dann hatte ich Pech, großes Pech, dass es für mich richtig gefährlich wurde:

Ich interessierte mich für das Christentum und bekam von einem Freund eine Bibel. Allerdings ist es bei uns verboten, sich über andere Religionen zu informieren. Das darf man nur als Theologiestudent mit einer Genehmigung. Ich hatte also keine Erlaubnis, aber eine Bibel. Die konnte ich leider nicht allein lesen und schon gar nicht verstehen und bewahrte sie in meinem Schrank auf. Im Frühjahr 2015 fuhr ich mit einem Freund nach Teheran, um eine Reise nach Istanbul zu buchen. Dort rief mich mein Bruder an und warnte mich, dass es für mich sehr gefährlich sein würde, zurück nach Hause zu kommen. Es ist kaum zu glauben, warum:

Mein Bruder war mit seiner Familie zu Besuch in mein Haus gekommen. Der kleine Neffe meiner Schwägerin suchte etwas zum Spielen und schaute in meinem Schrank nach. Er nahm sich ausgerechnet die Bibel heraus. Das bekam der Bruder meiner Schwägerin mit, der ein hochrangiger Polizist ist. Er wollte dafür sorgen, dass ich festgenommen werden sollte, und schickte die Polizei, um mich zu suchen. Ich wusste von anderen, die festgenommen wurden und nie wieder gekommen sind. Deshalb war klar: Ich hatte keine Wahl. Ich musste fliehen! Sofort!

Sajjad Naser: Gemeinsam mit Verwandten habe ich Flugblätter verteilt. Wir wollten ein Zeichen setzen, dass unsere Regierung vieles nicht gut macht. Und wir wollten sagen: In der Bibel steht vieles, das für die Menschen besser ist als das, was uns über den Koran beigebracht wird. Wir haben die Bibel mit dem Koran verglichen. Das gefiel denen nicht, die an der Macht sind. Einmal war ich im Norden unterwegs und hörte, dass in meiner Stadt Ahvaz Menschen festgenommen worden waren. Mein Bruder wurde mit mir verwechselt und auch in Haft genommen. Er ist bis heute nicht wieder aufgetaucht, und wir haben kein Lebenszeichen von ihm. Zwei Cousinen von mir sind von der Regierung ermordet worden. Deshalb konnte ich nicht zurück.

Peters: Wie haben Sie es geschafft, so plötzlich und unvorbereitet Ihr Land zu verlassen, und wie war Ihre Reise nach Europa?

Naser: Bis Istanbul zu kommen, war gar kein Problem. Wir können vom Iran aus jederzeit in die gesamte Türkei reisen. Doch dann war die Frage für mich, wie es weitergeht. Allein gab es keine Chance. Ich hatte ja kein Visum und wäre nicht über die Grenze gekommen. Also musste ich eine andere Möglichkeit finden, nach Griechenland zu kommen: Ich suchte einen Schlepper. Also zahlte ich 4.000 Euro und kam mit vielen, vielen anderen auf ein viel zu kleines Boot. Was ich dann erlebt habe, ist so furchtbar, dass ich kaum darüber sprechen kann. Ich träume oft davon und werde die Bilder nicht los:

Vor der Küste wurde unser Boot angegriffen und zerschnitten. Alle Menschen im Boot fielen ins Wasser. Ich höre die Schreie, ich sehe die Körper vor mir. Ich sehe, dass manche mit dem Tod kämpfen. Einige ertrinken. Das war schrecklich. Ich konnte mich über Wasser halten. Nach einiger Zeit kam ein Schiff und brachte uns zurück in die Türkei. Eine Woche später fuhr ich ein zweites Mal mit einem „Touristenschiff“ von Bodrum nach Griechenland, bestieg dort einen Zug und fuhr durch Griechenland bis an die Grenze. Dann ging die Reise 50 Kilometer zu Fuß weiter über die Grenze nach Mazedonien. Von dort fuhren wir mit dem Zug bis zur nächsten Grenze und erreichten wiederum nach 50 Kilometern zu Fuß Serbien. Mit einem Bus kamen wir bis Belgrad und wurden dann mit einem Auto bis zur nächsten Grenze gebracht. Wieder erwartete uns ein langer Fußmarsch über die Grenze nach Ungarn. Hier war es schrecklich: Wir wurden inhaftiert und sieben Tage im Gefängnis festgehalten. Die Polizei behandelte uns wie Verbrecher. Sie schlugen uns so, dass wir Angst um unser Leben hatten.

Insgesamt war ich ungefähr einen Monat unterwegs. Ich war froh, als ich endlich nach Deutschland kam. Ich kam in Neumünster an, wurde von dort nach Kiel gebracht und schließlich in die Landesaufnahmestelle nach Braunschweig.

Amiri: Mir blieb auch nichts übrig, als mir in Istanbul einen Schlepper zu besorgen. Ich musste 10.000 Euro bezahlen, damit er mich sicher nach Deutschland bringt. Ob so eine Reise sicher ist, weiß man allerdings nie ganz genau! Ich wurde nachts zusammen mit 45 Personen auf einem kleinen Boot nach Griechenland gebracht. In Mazedonien haben wir zehn Tage im Wald geschlafen. Durch Mazedonien fuhren wir zehn Stunden lang mit 500 Personen in einem Bahnwaggon, in dem wir dichtgedrängt nebeneinander stehen mussten, ohne Essen, ohne Trinken, ohne Toilette. Über Berge sind wir zu Fuß gelaufen und kamen dann nach Serbien. Dort hat uns die Polizei festgenommen und uns unter Druck gesetzt: „Wenn ihr uns Geld zahlt, dann könnt ihr gehen!“ So kamen wir wieder frei und konnten mit dem Zug nach Ungarn fahren. Da hatte ich Todesangst, denn die Polizei war gewalttätig. Immer war ich begleitet von einer quälenden Ungewissheit, mein Ziel dieser Flucht nicht zu erreichen. In Budapest blieben wir erst in einer Wohnung und dann fuhren wir über Wien nach Köln. Dort wurden wir auf ganz Deutschland verteilt. Ich kam über Düsseldorf und Neuss auch in die Aufnahmestelle nach Braunschweig.

Peters: Wie ging es in Braunschweig für Sie weiter, und was bedeutet es für Sie, nun hier untergebracht zu sein?

Amiri: Wir hatten beide ein Interview und mussten unsere Fingerabdrücke dort lassen. Mehr passierte für mich dort nicht. Dann wurde ich hierher gebracht. Am Rand des Dorfes sind Container aufgestellt. Hier wohnen Flüchtlinge aus ganz verschiedenen Ländern: Die meisten kommen aus Syrien, aber es gibt viele andere Geflohene, z. B. aus dem Irak, Pakistan, Afghanistan, aus dem Sudan, aus Somalia. Die Menschen aus Montenegro und Serbien sind schon wieder nach Hause geschickt worden. Hier zusammen zu leben, ist nicht immer leicht, weil wir aus unterschiedlichen Kulturen kommen. In manchen Zeiten müssen wir zu dritt in einem Zimmer wohnen. Dann kommt man gar nicht zur Ruhe.

Naser: Aber jetzt sind wir froh, dass wir gerade nur zu zweit zusammen wohnen und beide aus dem Iran kommen. Es ist schön, dass wir uns hier kennen gelernt haben und miteinander reden können. Manchmal will man aber auch nur Ruhe haben. Ich sehe immer die schrecklichen Bilder der Flucht vor meinen Augen. Und ich vermisse meine Familie. Ich habe eine Frau und eine achtjährige Tochter. Ich hoffe so sehr, dass ich sie wiedersehen kann. Aber ich kann nicht zurück, solange die Regierung im Iran an der Macht ist. Vielleicht kann ich meine Familie irgendwann wenigstens für kurze Zeit in der Türkei treffen.

Peters: Wie erleben Sie die Menschen in Deutschland und in dem kleinen Heideort hier?

Amiri: Viele Menschen im Dorf sind sehr freundlich zu uns. Es gibt ein internationales Café und wir hatten gerade ein internationales Fest. Ich habe einen deutschen Freund gefunden, der in meinem Alter ist und in der Nähe von unseren Containern wohnt. In der Kirche habe ich mich taufen lassen und spreche oft mit der Pastorin und einem Mann aus der Gemeinde über den christlichen Glauben. Sie versuchen, mir alles zu erklären, und nehmen sich Zeit.

Naser: Ja, viele Menschen sind nett und helfen uns. Aber manchmal ist es auch nicht leicht, hier zu leben. Manche Menschen sprechen auch böse über uns und beschimpfen uns als Ausländer.

Peters: Wie geht es nun für Sie weiter? Was hoffen Sie für Ihre Zukunft?

Amiri: Ich bin seit 14 Monaten in Deutschland und seit 13 Monaten hier. Für mich war das eine schwierige Zeit. Am Anfang habe ich kein Deutsch verstanden. Ich habe immer zugehört und mich sehr darum bemüht, schnell die Sprache zu lernen. Jetzt verstehe ich schon sehr viel und kann vieles sagen. Ich will wissen, wie die deutsche Kultur ist. Bei uns ist immer die Familie zusammen, so oft es geht. Hier leben viele für sich und es ist gar nicht einfach, mit deutschen Menschen länger zusammen zu sein. Hier werden immer Termine gemacht und man trifft sich für kurze Zeit. Aber ich habe ein paar nette Leute kennen gelernt. Ich bin noch jung und möchte so gern mein neues Leben aufbauen. Leider habe ich immer noch nicht die Aufenthaltsgenehmigung. Ich darf mir keine Arbeit und keine Wohnung suchen. Dabei hätte ich hier schon Möglichkeiten gehabt. Hoffentlich bekomme ich bald die Genehmigung. Die Unsicherheit ist furchtbar und zermürbend. Zurück kann ich im Moment nicht. Ich kann nichts anderes machen als warten.

Naser: Ich habe Elektrotechnik studiert und möchte gern arbeiten. In meiner Stadt hatte ich auch ein Restaurant. Jetzt wurde leider der Mietvertrag gekündigt und das Restaurant ist weg. Ich hoffe, dass ich eines Tages in mein Land zurückgehen und mit meiner Familie leben kann. Aber jetzt wünsche ich mir, dass ich eine Zeit lang hier bleiben kann. Hier ist ein freies Land. Hier bin ich sicher. Ich warte schon seit neun Monaten auf die Aufenthaltsgenehmigung. Ich hatte bislang auch nur ein Interview und habe einen Antrag ausgefüllt. Ich weiß nicht, was ich noch tun kann. Ich würde alles dafür tun, in nächster Zeit in Deutschland bleiben zu dürfen.

Peters: Vielen Dank dafür, dass Sie von Ihren Erlebnissen berichtet haben. Alles Gute für Ihren weiteren Weg!