Aufeinander schauen

Von Lars-Ole Walburg

 

In dieser Rubrik haben wir bei zwei Vertretern nachgefragt, deren beruflicher Alltag in der Öffentlichkeit besonders wahrnehmbar wird: Respekt! Welche Bedeutung spielt das Thema in Ihrem Beruf?
 

Das Theater, das ich am meisten liebe, spielt sich am Vormittag ab. Es ist 10 Uhr, man trifft sich zur Probe. Erwachsene Menschen ganz unterschiedlichen Alters versammeln sich in einem schwarzen Raum. Fenster sind nicht vorhanden oder abgehängt, das Licht kommt aus Scheinwerfern. Ansonsten ist da nicht viel in diesem Proberaum. Ein marginaler, die spätere Bühne andeutender Dekorationsaufbau, davor ein länglicher Tisch, an dem man sich immer wieder zum Durchsprechen und Diskutieren versammelt. Neben den Spielern und der Regie sind das auch die Bühnen- und Kostümbildner, der Musiker, die Soufflage und eine ganze Korona von Assistenten und Praktikanten. Das sind dann in einer mittelgroßen Produktion durchaus 20 bis 25 Menschen. Dieser Zustand dauert ungefähr fünf von den acht Probenwochen. Dann geht es bis zum Premierentermin immer öfter auf die Bühne. Man trifft sich also zur Probe und beginnt. Aber womit? Natürlich gibt es da einen Text, den man lesen kann. Es gibt erste Ideen, in was für einem Raum man spielen möchte und vielleicht auch, welche Kleidung man dazu trägt. Aber insgesamt gesehen, beginnt ein gruppendynamischer Prozess, eine künstlerische Neuschöpfung, deren Ende oder Ausformung für niemanden der Anwesenden absehbar ist. Es ist das blütenweiße Blatt Papier vor dem Schriftsteller auf seinem Schreibtisch. Oder man denkt an Michelangelo, der über seinen David gesagt haben soll, dass die Skulptur bereits im Marmor gesteckt hätte und er nur das überflüssige Gestein habe weghauen müssen. Eine solche Aussage ist zu dem Zeitpunkt, den ich beschreibe, allerdings höchstens tröstlich in Bezug auf frühere Erfahrungen, da man in eben derselben Situation gestartet war und es doch am Ende zu einem befriedigenden Ergebnis kam. Aber am Anfang des Prozesses gibt es keinerlei Gewissheiten, dass es auch dieses Mal wieder klappen könnte. Jeder der anwesenden Personen im Raum hat eine klar definierte Aufgabe und weiß gleichzeitig, dass er oder sie von allen anderen abhängig ist und nur die Summe aller Einzelteile das künstlerische Mehr bilden wird, welchem man gemeinsam entgegenstrebt. Für den Regisseur, der sich vielleicht schon seit ein paar Monaten mit der Materie beschäftigt hat, ist das eine knifflige Situation. Soll er seine Ideen und Gedanken vor den anderen ausbreiten? Vielleicht hemmt eine allzu konkrete Phantasie die anderen im eigenen Zugang? Wie also kommt ein gemeinschaftlicher Prozess in Gang? In diesem Moment kommt die eingangs beschriebene Unterschiedlichkeit der Beteiligten ins Blickfeld. Im Theater beschäftigen wir uns mit – allgemein gesagt – menschlichen Vorgängen und Verhaltensweisen. Jeder kennt sie oder glaubt sie zu kennen, jeder hat seine Erfahrungen und Erlebnisse, aber eben sehr unterschiedliche. Nun geht es in einer Szene vielleicht darum, wie eine Familie auseinanderbricht und sich die einzelnen Familienmitglieder dabei verhalten. Der Dramatiker hat diese Szene geschrieben, doch zum Spielen gibt es natürlich zwischen seinen Sätzen eine riesige interpretatorische Auslegungsfreiheit. Eine Freiheit, die man oftmals verdammt und die die erwachsenen Menschen im Probenraum dazu zwingt, über sehr private Augenblicke ihres Lebens zu sprechen. Oder sie zeigen sich spielend und improvisierend, manchmal selbst erst registrierend, was da an die Oberfläche gespült wird. Der Vorgang hat durchaus etwas von einer Therapieerfahrung und ist auch ebenso heikel. Wenn er gelingt, spielen Alter oder Berufserfahrung keine Rolle mehr und man erfährt Dinge voneinander, die mit Sensibilität und Vertrauen behandelt werden müssen. Es ist ein wechselseitiges Preisgeben, vergleichbar vielleicht mit der ungeschützten Offenherzigkeit von Kindern und der Grund, weshalb ich meinen Beruf immer wieder als ein Privileg empfinde. Der Probenraum füllt sich mit persönlichen Geheimnissen, mit intimen Sichtweisen und Haltungen. Das ist der Beginn, der Grundstock, der Nährboden, für das, was dann passieren muss. Die Szene wird erneut gelesen und hat sich auf einmal verändert. Sie ist reicher geworden, tiefer auch und möglicherweise hat sich ein Verständnis für das Verhalten des Spielpartners eingestellt. Es geht dabei um einen rein professionellen Vorgang, der nicht zwangsläufig dazu führen muss, dass Theaterleute miteinander befreundet sind. Er ist wichtig und notwendig für den schwarzen Raum und die vormittägliche Probe. Er ist notwendig, um die uns beherrschenden Ängste abzubauen und einen unhierarchischen, wahrhaft künstlerischen Prozess zu ermöglichen. Denn nur, wenn diese Offenheit vorhanden ist, kann etwas geschehen, was niemand im Raum vorher gedacht oder gewusst hat. Einer der Hauptgründe, warum ich tue, was ich tue und mit zunehmendem Alter der wichtigste Antrieb, das oftmals quälende Nichtwissen immer wieder auszuhalten. Es hat mit Neugier zu tun und mit Entdeckerfreude, mit der Lust auf Überraschung und auf das, was der Soziologe Heinz Bude als „gefährliche Begegnungen“ bezeichnet, die Plattform für Neues in der Auseinandersetzung mit den uns umgebenden gesellschaftlichen Problemen. Und dann beginnt sich von Probentag zu Probentag das weiße Blatt zu füllen, der Marmor bröckelt und lässt erste Züge der Skulptur erkennen. Irgendwann gibt es den Moment, in dem eine Situation erstmals völlig stimmig ist. Dann schwebt ein Ton durch den Raum, den alle hören können und der glücklich macht und stolz.