„Das Wunder bleibt aus“ - Ein Schreibprojekt

Von Jörg Knüfken

 

Destruktiv. Aggressiv. Ablehnend. Diese Beschreibung trifft auf beinahe alle Schüler zu, die sich einmal wöchentlich im Rahmen des Ganztages zu einer nachmittäglichen AG im Gruppenraum des Schulsozialpädagogen eintreffen. Bis dieser ein gewagtes Experiment eingeht: Er schenkt ihnen ein eigenes Tagebuch…“

Diese Zeilen finden sich auf der Rückseite des Buches „Das Wunder bleibt aus“ (Jörg Knüfken, Careline Verlag 2013), welches ich mit Schülern zweier Brennpunkthauptschulen am Rande des Ruhrgebietes schrieb und veröffentlichte. Vielleicht klingt das o.g. Zitat etwas reißerisch, doch die Ausgangssituation gestaltete sich genauso. 16 Jungen und Mädchen aus zwei achten Klassen sollten im Nachmittagsunterricht in einer gemeinsamen, verpflichtenden AG „aufbewahrt“ werden, vor allem, um den Unterricht für die anderen Schüler einigermaßen ungestört abwickeln zu können. Denn „beschulbar“ im klassischen Sinne verhielt sich diese Gruppe bereits im Vormittagsunterricht nur selten, wie sollte es dann nachmittags werden?

Das erste Treffen bestätigte alle Befürchtungen. So kann ich es auch bis heute in meinem Projekttagebuch nachlesen. Dort heißt es: „Es war furchtbar. Ich hatte ein Lernprojekt im Programm, eine Kooperationsübung, die der Teamentwicklung dienen soll. Statt die Aufgabe regelkonform zu lösen, entstand ein wildes Herumgeschreie, auf Türkisch natürlich, mit dem Erfolg, dass sich die Schüler die Spielinstrumente um die Ohren gehauen haben. So mache ich das nicht mit!!! In den nächsten Tagen werde ich nach Filmen recherchieren, sie bestellen, und den Schülern einfach jede Woche einen zeigen. Sie haben Ruhe, ich habe Ruhe, mehr muss ich mir nicht antun!“ In diesen Sätzen ist noch deutlich die Frustration zu erkennen, die die Erfahrungen der ersten Doppelstunde in mir auslösten.

Die entscheidende Wende löste der Film „Freedom Writers“ aus, der nach einer wahren Geschichte als Hollywood Drama mit Hilary Swank in der Hauptrolle verfilmt wurde. 150 Risikoschüler aus einem Vorort von Los Angeles tauschen ihre Waffen gegen Stifte und beginnen Tagebuch zu schreiben. Ihnen gelingt der Wechsel auf die andere Seite der Straße des Lebens. Angestiftet und berührt durch Bücher wie „Das Tagebuch der Anne Frank“ gehen sie auf eine lange Reise für mehr Toleranz. Sie treffen Miep Gies, Steven Spielberg und andere. Schließlich veröffentlichen sie ihr eigenes Buch, ein Querschnitt aus den eigenen Tagebüchern. Das Buch der „Freedom Writers“ wird zum Bestseller.

Inspiriert von dieser fast unglaublichen Geschichte aus den 90er Jahren bot ich den Schülern meiner Gruppe ein Spiel an: Es gilt, in einem Jahr vier Aufgaben zu lösen. Schaffen sie es, lade ich sie auf eine Fahrt nach Amsterdam ein. Und sie zeigten sich einverstanden. Die erste Aufgabe erschien leicht, entwickelte sich aber zur bedeutungsvollen Grundlage des Projekts. Es galt, sich den Film „Freedom Writers“ anzusehen. Als nächstes sollten die Schüler ihr eigenes Tagebuch schreiben. Außerdem sollten sie zwei Bücher lesen, um sich zusätzlich zum Tagebuch schreiben inspirieren zu lassen – das Buch der „Freedom Writers“ und natürlich das „Tagebuch der Anne Frank“.

Die Schüler liebten den Film, wie ihre Tagebucheinträge bewiesen:
An diesem Film hat mir gefallen, dass eine Lehrerin namens Miss G, die eigentlich sehr harmlos ist, es geschafft hat, aus einer schlimmen Klasse, wo alle respektlos und unhöflich waren, nette und gute Menschen zu machen.
Viele aus unserer Schule – ich gehöre auch dazu – konnten sich mit den „Freedom Writers“ vergleichen. Der Film sagt mir, dass es sich lohnt, ein guter Mensch zu sein, sich zu benehmen, Respekt zu haben und all diese Sachen. Deshalb möchte ich mich ändern und ein guter, höflicher Mensch sein.

Doch der entscheidende Moment des Projektes war, als ich zum ersten Mal in die Tagebücher der Schüler lesen durfte. Offen und ehrlich, völlig unbefangen schrieben sie drauflos und gaben preis, was sie bewegte, beschäftigte und prägte. Zum Beispiel mit diesen Worten:

Liebes Tagebuch!
Mein schlimmstes Erlebnis war, als mein Vater in den Knast ging und ich ohne ihn aufwachsen musste. Eines Morgens kamen die Bullen und haben meinen Vater mitgenommen. Und da ist die Welt zusammengestürzt. Mein Leben fing an, sinnlos zu werden, ich habe mich für nichts mehr interessiert. Jetzt musste meine Mutter alleine für uns sorgen. Mein Vater ging in den Knast, nur weil er seine Freunde nicht verraten hat. Jetzt verstehe ich, dass Freunde nicht wichtig sind, ich habe gemerkt, dass man nicht allen Menschen vertrauen kann. Meine Familie ist mir wichtiger als alles andere, was es auf der Welt gibt. Ich muss erwachsen werden und auf meine Familie aufpassen.
 

Oder so:
Mein schlimmstes Erlebnis war, als meine Geschwister und ich von meinen Eltern weggenommen wurden. Wir sind alle in unterschiedlichen Heimen untergebracht worden. Meine Eltern durften mich nur einmal in der Woche besuchen, vorher mussten sie sich beim Heimleiter anmelden. Ich musste immer an meine Geschwister denken und war traurig, weil ich meine Eltern nicht sehen konnte. Es war für mich ein richtiges Scheiß-Gefühl, als ich im Heim war.
 

Das Wissen um die wirklichen Probleme, Erfahrungen und Lebenswelten der Schüler änderte das Verhältnis völlig. Der Druck, das Misstrauen und viele Negativerfahrungen des Schulalltages blieben vor der Tür unseres Projektraumes. Die Kids konnten so sein, wie sie waren und brauchten sich nicht mehr zu verstellen. Sie lasen das Tagebuch der Anne Frank, weil sie es wollten. Wir machten kleinere Ausflüge, skypten mit den „Original Freedom Writers“ und fuhren sowohl nach Amsterdam als auch nach Berlin. Und schließlich veröffentlichten wir unser eigenes Buch und drehten einen Film über das Projekt. Seitdem führen wir Lesungen und Workshops durch und bieten Fortbildungen zu allen Themenbereichen des Projektes durch. Die Schüler sind immer dabei und machen jede Veranstaltung zu etwas ganz besonderem.

Doch der Kern war ist und bleibt das eigene Tagebuch. Und so schrieb eine Schülerin am letzten Projekttag vor der Schulentlassung:
„Das ist jetzt mein letzter Tagebucheintrag. Ich werde unsere Gruppe vermissen. Aber dich, liebes Tagebuch, werde ich am meisten vermissen. Es war eine schöne Zeit.“

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Kinoplakat: Freedom Writers. Wie eine junge Lehrerin und 150 gefährdete Jugendliche sich und ihre Umwelt durch Schreiben verändert haben. Von den Freedom Writers mit Erin Gruwell, Deutsch von Kerstin Winter, Deutsche Erstausgabe 2007, ISBN 978-3-86671-017-7, 320 Seiten, 14,90 Euro.