Nicht Smartphone und Smartphone, sondern Mensch und Mensch! Eine Religionsstunde zum Thema Cyber-Mobbing in der 8. Klasse einer Integrierten Gesamtschule

Von Franziska Baden

 

Eine besondere Schwierigkeit bei der Nutzung sozialer Medien ist die Wahrnehmung des vermeintlich „digitalen Gegenübers“ als Mensch. Wer alleine vor dem Laptop sitzt, das Smartphone in der Hand hat und sich nur über Text verständigt, vergisst oft, dass im Cyberspace Menschen vernetzt sind, die ebenfalls vor ihren Laptops oder Smartphones sitzen. Sich dieser Problematik bewusst zu werden, ist die Grundidee dieser Religionsstunde.


Sie steht im Zusammenhang einer Unterrichtssequenz zur Schöpfung als Auftrag an den Menschen. Diese Sequenz verbindet die im Kerncurriculum für Integrierte Gesamtschulen festgesetzten inhaltsbezogenen Kompetenzbereiche „Nach Gott fragen“ und „Nach der Verantwortung in der Welt und Gesellschaft fragen“ (KC Ev. Religion IGS 2009, S. 20.24): Die Schülerinnen und Schüler

  • „beschreiben die Hinwendung zu Gott als mögliche Grundlage einer sinnstiftenden Perspektive.
  • stellen an einem biblischen Text oder einem Lebenslauf dar, dass Glaube Konsequenzen für die Lebensgestaltung hat.
  • kennen wichtige biblische Gebote und beziehen sie auf Alltagssituationen.“



Theologische Grundgedanken

„Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (Schweitzer, Kulturphilosophie, 308). Diesen Satz hat Albert Schweitzer in das Grundprinzip des Sittlichen übersetzt: Ehrfurcht vor dem Leben. Sein Grundgedanke bildet neben der Gottebenbildlichkeitsaussage die theologische Grundlage der Unterrichtsstunde. Diese verbindet die Stunde mit der Einheit zur Schöpfung. In vorhergehenden Stunden wurden Aussagen zum Menschen aus den Schöpfungserzählungen herausgearbeitet und die Bedeutung der Gottebenbildlichkeit verdeutlicht, nämlich die Annahme des Menschen durch Gott, wodurch alle Menschen die Würde erhalten, gefördert zu werden, da sie von Gott gewollt sind. Als Ebenbild Gottes sind die Menschen dazu bestimmt, die Anerkennung zu leben, die Gott jedem einzelnen Menschen entgegenbringt.

Im ethischen Grundprinzip Schweitzers steht Leben gegenüber Leben. Beide haben das Interesse zu leben. Nach Schweitzer ist es gut, Leben zu fördern, und schlecht, Leben zu hemmen. Der Grundgedanke ist einfach: Alles Leben muss gefördert und erhalten werden. Da Schweitzer den Begriff des Lebens jedoch auf alles Lebende ausweitet, d.h. Tiere, Pflanzen, Gesteine bis hin zu den kleinsten Mikroorganismen, folgt logischerweise ein ethischer Konflikt aus seinem Prinzip. Zudem bleibt die Frage offen: Was bedeutet Leben erhalten und fördern? In der Stunde soll es jedoch nur um zwischenmenschliche Beziehungen gehen. Für diese lässt sich aus Schweitzers Grundprinzip eine verantwortungsethische Basis herausarbeiten.

Dies hat Ulrich H. J. Körtner getan. Für ihn muss die Ethik der Verantwortung eine schöpfungstheologische Anwendung des Rechtfertigungsglaubens sein, d.h. aus dem Erleben des Rechtfertigungsgeschehens folgt Verantwortung und Ehrfurcht vor anderen gerechtfertigten Lebewesen: Nur wenn ich mich selbst als gewollt ansehen kann, kann ich auch andere Menschen als gewollt anerkennen. So formuliert Körtner Schweitzers Grundsatz um: „Ich bin Leben, das sich will als gewollt, inmitten von Leben, das sich will als gewollt oder dessen Leben-Wollen gewollt ist.“ (Körtner, Ehrfurcht, 346)

Dies ist die theologische Grundlage des Sich-gegenseitig-Respektierens. Wenn ich mich selbst respektiere, dann kann ich auch andere respektieren. Wenn ich mich selbst im Cyberspace als handelnde Person erlebe, kann ich auch andere Menschen als handelnde Personen wahrnehmen.
Für die Frage des Respekts im Cyberspace ist dabei das Wahrnehmen des Anderen als zu respektierendes Lebewesen besonders zu fördern. Die Erfahrung, dass es sich nicht nur um ein Bild oder einen Text handelt, sondern um einen Menschen, wie ich selbst ein Mensch bin. Diese Vernetzung des Lebens im Cyberspace bringt Schweitzers Grundprinzip auf den Punkt und weist zugleich auf die Sensibilisierung des virtuell handelnden Menschen für Schweitzers Gedanken hin.

Im Internet bewegen sich Leben, die leben und ihr Leben teilen wollen, zusammen mit Leben, die leben und ihr Leben teilen wollen. Theologisch grundlegend ist für die Stunde:

  • Gottebenbildlichkeit als Erfahrung der Anerkennung des Menschen durch Gott und als Auftrag des gegenseitigen Respekts.
  •  Schweitzers Grundprinzip als verantwortungsethische Grundlage zur Bewusstwerdung der Vernetztheit des Lebens und der Notwendigkeit zum Respekt gegenüber anderem Leben.


Diese abstrakte Grundlage für das ethische Verhalten soll durch den Bezug zum Cyber-Mobbing für die Schülerinnen und Schüler zugänglich werden. Zudem soll dies die Relevanz für ihr Leben verdeutlichen.



Didaktische Überlegungen

Die Schülerinnen und Schüler der 8. Klasse sind in einem Alter, in denen sich Beziehungen verändern. Sie gehen die ersten festen Bindungen ein – aus denen der erste Liebeskummer wird – und aus Spielkameraden werden Vertraute und Gesprächspartner – aus denen Quellen für Enttäuschungen werden können. Mit dieser Entwicklung von Freundschaften umzugehen, sich in diesen von Vertrauen geprägten Beziehungen gegenüber dem Anderen angemessen zu verhalten, muss gelernt werden. Zudem ist es wichtig in diesem Kontext mit Enttäuschungen umgehen zu lernen, um respektvoll reagieren zu können. Diese Frage ist für alle Schülerinnen und Schüler relevant. Die Heterogenität der Klasse hat auf diese Situation keine Auswirkung, sodass für die Stunde lediglich eine Lerntempo-Differenzierung im Blick behalten werden muss, um Schwächere nicht zu über- und Stärkere nicht zu unterfordern.

Auf ein religiös bedingtes Verantwortungsgefühl können die meisten Schülerinnen und Schüler nicht zurückgreifen. Auf dem Weg ihr eigenes Verhalten ethisch reflektieren zu lernen, müssen sie begleitet werden.

Die Vorstellung, dass die Menschen als Abbild Gottes geschaffen wurden, entzieht sich ihrer Vorstellungskraft. Aufgrund des noch kindlich geprägten Gottesbildes beschreiben Jugendliche die Gottebenbildlichkeit sehr bildhaft. Sie lehnen die konkrete Vorstellung ab, dass Gott aussehe wie die Menschen, da die Menschen viel zu verschieden sind. Jedoch finden sie noch kein adäquates Äquivalent. Ein abstraktes Gottesbild entwickelt sich erst allmählich. Dass Gott in den Menschen sei, wenn sie das Abbild sind, können sie sich ebenfalls nicht vorstellen. Sie erkennen logische Schwierigkeiten in ihren Argumentationen, können diese aber nicht selbstständig lösen. Zur Ablehnung des Gottesbildes gehört in diesem Alter auch die klare Position des Zweifels. Gottes Allmacht ist mir nicht zugänglich, deshalb kann er sie auch nicht haben, deshalb kann es auch keinen Gott geben.

Dies ist eine Abwendung des kindlichen Gottesbildes der Stufe 2 („Do ut des“) nach Oser/Gmünder und eine Entwicklung zur Stufe 3 („Deismus“ – Autonomie der Menschen gegenüber dem Ultimaten).
Die Schülerinnern und Schüler der 8. Klasse befinden sich insgesamt in einer sensiblen Phase der Entwicklung ihrer Gottes- und Weltbilder sowie ihrer moralischen Handlungsweisen. Um eine Distanzhaltung gegenüber dieser Thematik zu vermeiden, ist eine vorsichtige Hinführung zu ihren Fragen und Antworten wichtig.

Im Blick auf die ethischen Fragen dieser Unterrichtssequenz steht die Förderung der Urteilskompetenz im Fokus dieser Stunde: „Aus konfessioneller Perspektive einen Standpunkt zu religiösen und ethischen Fragen einnehmen, prüfen und begründen“ (KC Ev. Religion IGS 2009, S. 16). Für die Unterrichtsstunde lassen sich folgende Ziele formulieren: Die Schülerinnen und Schüler

  • können in Ansätzen Fälle von Cyber-Mobbing beurteilen.
  • können für betroffene Personen als Freunde Ratschläge zur Hilfe formulieren.
  • können ansatzweise ihr eigenes Verhalten im Internet reflektieren und dies begründen.



Unterrichtsgang

Zum Einstieg in die Stunde betrachten die Schülerinnen und Schüler eine der von ihnen in der vorhergehenden Stunde ausgearbeiteten Grafiken zum Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Die Bedeutung des Satzes ist ihnen aus der vorhergehenden Stunde bekannt. Sie sollen diesen Satz auf ihr Leben beziehen, wozu der Impuls dient: Nennt Situationen, in denen du „Einer unter Vielen“ bist. In einer Schülerkette nennen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Situationen: Schule, Sportverein oder Familie.

Weiterführend fragt die Lehrperson: Kann es problematisch sein, „Einer unter Vielen“ zu sein? Wahrscheinlich kommen die Schülerinnen und Schüler nicht auf die Idee, dass sie im Internet auch unter vielen sind, deshalb kann als Hilfestellung weitergefragt werden: Kennt ihr Situationen, bei denen man vergisst, dass man „Einer unter Vielen“ ist? Das Zeigen eines Smartphones kann hier als weiterer Gesprächsanlass dienen.

In der Erarbeitungsphase werden die Schülerinnen und Schüler dann mit dem Problem des Cyber-Mobbings konfrontiert. Sie suchen sich eines der Arbeitsblätter (M 1 bis M 3) je nach Einschätzung ihres Lesetempos aus. Die Szenen sind inhaltlich sehr ähnlich, unterscheiden sich lediglich in der Länge des Textes. Die dazugehörigen Tabellen ermöglichen eine erschließende Gliederung des Textes. Die Tabelle, die in Partnerarbeit ausgefüllt werden soll, regt zum Weiterdenken an, da die Schülerinnen und Schüler verschiedene Perspektiven auf das Problem einnehmen müssen. Dies gilt besonders für die letzte Zeile, in der sie begründen sollen, wie sie an Stelle der jeweiligen Person gehandelt hätten.

Zur Sicherung werden auf einer Folie Verhaltensweisen aus der letzten Tabellenzeile gesammelt (M 4). Wie verhalte ich mich im Fall von Cyber-Mobbing richtig? Dabei ist wichtig, sich im Vorhinein die Frage zu stellen, aus welcher Perspektive diese Frage beantwortet werden soll – aus der eines Opfers oder aus der eines Täters. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei ihre Ausführungen begründen. Auf der Folie ist bereits ein Stern mit der Fragestellung abgedruckt, da so bereits deutlich wird, dass nur eine gewisse Anzahl von Möglichkeiten genannt werden soll. Es geht hierbei lediglich um eine exemplarische Sammlung von Verhaltensweisen.

In der Vertiefungsphase sollen die Schülerinnen und Schüler angeregt werden, über Verhalten im Internet nachzudenken. Zunächst wird ein einminütiger Clip eingespielt (online zu finden unter http://www.klicksafe.de/ueber-klicksafe/downloads/weitere-spots/eu-spot-cyber-mobbing).

Dies dient den schwächeren Schülerinnen und Schülern dazu, die Situation zu visualisieren, und den stärkeren bietet es die Möglichkeit, verschiedene Verhaltensweisen im Internet zu durchdenken. Er zeigt, wie man sich vor dem Computer fühlen kann: Zum einen die Situation derjenigen, die Spaß am Verändern von Bildern und dem Ärgern von anderen im Internet haben, und zum anderen die Situation eines Mädchens, das von anderen gemobbt wird. Es werden zwei Beobachtungsaufträge verteilt: Ein Teil der Gruppe soll Gefühle und Verhalten der mobbenden Mädchengruppe und der andere Teil des einzelnen Mädchens beobachten. In Gruppen sollen anschließend ihre Beobachtungen besprochen und ein Ratschlag in Form einer WhatsApp-Nachricht als Akuthilfe für das gehänselte Mädchen verfasst werden.
Die Stunde wird mit der erneuten Auflage der Folie vom Beginn beendet. Zu dieser Folie wird das Bild des Mädchens aus dem Video gelegt (M 5). Die Schülerinnen und Schüler erhalten den Impuls: Das Mädchen möchte, dass dieser Satz auch für sie gilt. Wo hakt es? Die schwächeren Schülerinnen und Schüler können hier ihre bereits geschriebenen Ratschläge wiederholend einbringen und die stärkeren die Situation des Mädchens (bzw. allgemein Situation von Cyber-Mobbing) abstrahiert bewerten und sich dazu begründet verhalten.

Um dies zu vertiefen, bekommen die Schülerinnen und Schüler die Hausaufgabe, eine ausführlichere Antwort-E-Mail an das Mädchen mit mindestens drei Ratschlägen zu verfassen.


Literatur

  • Körtner, Ulrich H.J.: Ehrfurcht vor dem Leben. Verantwortung für das Leben. Bedeutung und Problematik der Ethik Albert Schweitzers, ZThK 85 (1988), 329-348
  • Niedersächsisches Kulturministerium (Hg.): Kerncurriculum für integrierte Gesamtschulen für die Schuljahrgänge 5-10 (KC), Hannover 2009
  • Schweitzer, Albert: Kulturphilosophie Bd. II: Kultur und Ethik, München 3. Aufl. 2007, 75-343
  • Schweitzer, Friedrich: Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 6. Aufl. 2006
  • Van Eimeren, Birgit: „Always on“ – Smartphone, Tablet & Co. als neue Taktgeber im Netz. Ergebnisse der ARD/ZDF-Onlinestudie 2013, in: Media Perspektiven 7-8 (2013), 368-390
  • Wenz, Gunther: Schöpfung. Protologische Fallstudien, Studium Systematische Theologie 7, Göttingen 2013