"Das bin ja ich!" - Erinnerung und Identität in früher Kindheit. Überlegungen zur elementarpädagogischen Triftigkeit des Erinnerns am Geburtstag

von Karl Friedrich Ulrichs

 

1. Erinnerung und Identität

Erinnern ist ein kognitiver Prozess, in dem ich mich selbst denke als eine frühere Person, die von meinem aktuellen Ich unterschieden ist. Im Erinnern distanzieren wir uns von uns selbst, sehen von uns selbst heute auf uns selbst gestern. Diese vergangene Person ist allerdings keine objektive Größe, sondern eine Konstruktion, die wir nach Maßgabe unseren aktuellen Seins vornehmen. Und umgekehrt haben wir mit diesem kognitiven Vorgang die Möglichkeit, unsere Gegenwart und unser gegenwärtiges Selbst von einem anderen point of view zu sehen, zu verstehen, zu bewerten, Bezüge herzustellen. Erinnerung ist Selbstdistanzierung und Integration und Identitätsbildung: Das war ich, das bin ich, das ist ein Teil von mir. Erinnernd können wir uns selbst als gewordene Persönlichkeiten verstehen und annehmen, die Gegenwart wird als Zukunft der Vergangenheit gedacht und empfunden. Erinnern kann als solche Lebensdeutung auch ein eminent religiöser Vorgang sein. Sich selbst nicht sich selbst zu verdanken, sich selbst zu denken als ein von sich selbst unterschiedener – das ist auch die Denkbewegung des Schöpfungsgedankens wie des Rechtfertigungsmotivs.

Auf diese kognitive Leistung setzen Emotionen auf: In unseren Erinnerungen empfinden wir Nostalgie, Trauer, Verwunderung, Abscheu, Erschrecken, Scham, Wertschätzung und Liebe. Damit ist schon angedeutet, dass Erinnerungen heikel und die Erinnernden verletzlich sind. Ein vierjähriges Kind kann über das eigene Aussehen und Verhalten, den eigenen „Kindermund“ des vorvergangenen Jahres verwundert sein, darüber – über sich selbst! – lachen oder auch peinlich berührt sein und sich schämen. Ein sich erinnerndes Kind tritt zu sich selbst in ein Verhältnis – ein wichtiges Geschehen in der Bildung einer Persönlichkeit.

Entwicklungspsychologisch folgt die Erinnerung in aller Regel dem Selbstentwurf in Zukunft: Kinder ab vier Jahren denken ihre eigene Zukunft, ihr zukünftiges Selbst im Medium von Berufswunsch oder Idealisierung. Max will „stark wie Onkel Heiner“ werden, Theo übernimmt das musikalische Idol seiner Eltern: „Ich möchte Peter Maffay werden.“ In welchem Verhältnis steht die identitätsstärkende Erinnerung zum identitätskonstruktiven Berufswunsch? Bringen Kinder ihre Erfahrungen mit der perspektivischen Konstruktion ihres künftigen Ich in ihren retrospektiv-erinnernden Selbstentwurf ein? Jedenfalls: Sowohl erinnern als auch wünschen und hoffen sind gedankliche und empfindsame Bewegungen in der Zeit, die Identitätsbildung leisten.

Indem ein kleiner Mensch sich seiner selbst erinnert, wird er sich seiner Person bewusst, kann er seine Persönlichkeit stärken und Resilienz ausbilden: Er wird aufgrund der erinnerten Erfahrung Vertrauen in seine weiteren Entwicklungsmöglichkeiten gewinnen, Zutrauen in eigene Stärke verspüren. Gibt es für derlei stärkende, stark machende Erinnerung hemmende und förderliche Faktoren?

Haben wir bisher Erinnerung reflexiv bedacht als ein Sich-an-sich-selbst-Erinnern, so muss natürlich auch die transitive Erinnerung erwähnt werden. Wie verhält es sich mit der kindlichen Erinnerung an andere Kinder etwa nach einem Umzug oder an Verstorbene? Erinnerung ermöglicht hier Präsenz, Vergegenwärtigung und bleibende Beziehung. Zu mir gehören auch Menschen, die mir entzogen, von mir getrennt sind.

 

2. Dingliche, bildliche und textliche Erinnerung

Dem Erinnern auf die Sprünge helfen Dokumente und Memorabilien jeder Art; wir kennen das auch bei unseren Mitbringseln aus dem Urlaub. Kindern ist die selbst gefundene Muschel aus der Ostsee oder der Stein aus den Alpen unendlich wertvoll (dem Vater auch, der das gute Stück kilometerweit tragen musste …). Und ebenfalls wie bei der Urlaubserinnerung ist das Foto von Belang für Erinnerungen von Kindern an sich selbst. In seiner Autobiographie berichtet John Updike von „Gerhards Photogeschäft …, wo meine Mutter … ihre Filme ablieferte, die sie aufs sorgfältigste … vollgeknipst hatte. Ohne diese sich anhäufenden Photographien wäre meine Vergangenheit, Jahr für Jahr, verlorengegangen. So aber vermehrte sie sich, lose, ungeordnet in einem Stapel Schuhkartons liegend, und gerade das Durcheinander ließ sie immer neu, immer überraschend erscheinen – zufällige Ausblicke in einen sonnenbeschienenen Abgrund.“1 Fotos können auch bei den Großeltern an der Wohnzimmerwand hängen; jeder Besuch bei ihnen wird für die Enkel so zu einer kurzen Begegnung mit dem vergangenen Selbst. Bei großelterlichen Porträtgalerien stellt sich eine wichtige Parallele ein: Andere Bilder führen den Kindern ihre Eltern und Großeltern vor Augen, wie jene früher waren; selbst als Kinder oder doch anders, als ihre Kinder und Enkel sie gegenwärtig kennen. Erzählen Eltern und Großeltern zu den alten Fotos von sich selbst als Kindern, erfahren Kinder die Bedeutung und Lebensdienlichkeit von Erinnerung.

Bei Fotos im Kinderzimmer sieht sich das Kind ständig mit eigener Vergangenheit konfrontiert, ist die Erinnerung der tägliche Raum. Dass das Fotoalbum durch die Digitalfotografie ein verschwindendes, weithin schon verschwundenes Genre ist, wird man in diesem Zusammenhang bedauern müssen. Zum Foto muss als heute viel genutztes, da technisch unaufwendiges Medium der digitale Film genannt werden. Und: Kinder haben ihre helle Freude an einige Jahre alten Tonaufnahmen mit der eigenen Stimme.

Kleider machen Leute. Und Kleider bergen Erinnerungen, da sie uns so vertraut sind, uns kleiden bei unseren Erlebnissen. Darum schlage ich vor, ausgewählte Kleidungsstücke von Kindern aufzubewahren: „Da habe ich einmal hineingepasst?!“, staunt ein Kind am Tage seiner Einschulung. (Und schön ist es auch, wenn ein kleines Geschwisterkind diese Kleidung trägt: „So klein wie Mathilde war ich auch einmal.“) Kleidung verbindet sich mit Zeiten und Orten: „Das T-Shirt habe ich im Urlaub in Slowenien bekommen.“

In meiner Kindheit im Ostfriesland der 1970er Jahre habe ich erlebt, dass die erste abgeschnittene Locke in alten Zigarrenschachteln aufbewahrt wurde, die in den Tiefen des Wohnzimmerschranks lagen. Diese weißblonden Locken hatten etwas von Reliquien. Der Mutter waren sie heilig. Eine merkwürdige Erfahrung: Als Grundschüler konnte ich mich selbst als (in der Locke repräsentiertes) Kleinkind anfassen.

In vielen Familien schreiben Eltern, zumeist die Mütter, ein Tagebuch über die Kinderjahre ihres Nachwuchses. Diese (mit Bildern und kindlichen Artefakten illustrierten) Diarien halten die kleinen Begebenheiten des Kinderlebens, Entwicklungsschritte (besonders lustig: die Sprachentwicklung), Erfolge, auch Unfälle fest und werden immer wieder gerne gelesen und gehört. An den Geburtstagen des Kindes kann jährlich daraus vorgelesen werden. Zum 18. Geburtstag des Kindes oder zur Geburt des Enkelkindes ist ein solches Tagebuch ein kostbares Geschenk.

In der Mehrzahl der Kindergärten wird gegenwärtig mit Portfolios gearbeitet, um die Entwicklung der Kinder zu dokumentieren. Diese derzeit viel diskutierte (und darum hier nicht weiter zu diskutierende) Methode stellt ein wunderbares Medium für das gemeinsame erinnernde Gespräch zur Verfügung.

 

3. Gelegentliche Erinnerung: Geburtstag

Wir erinnern uns des eigenen Anfangs regelmäßig an dessen Jahrestag, dem Geburtstag, ein – wie man alters sagte – „Ehrentag“, an dem wir einander und besonders unsere Kinder ehren, würdigen, wertschätzen, feiern, indem wir das Geburtstagskind besuchen, ihm gratulieren und Gutes wünschen, ihm etwas schenken, für es singen. Der eigene Kindergeburtstag ist für jedes Kind lang ersehnter Höhepunkt des Jahres, der Besuch auf anderen Kindergeburtstagen so schön und wichtig, dass etwa Scheidungskinder nur mit allerlei Überredungskünsten zum Papa-Wochenende zu bewegen sind. (Übrigens ist in christlicher Tradition der Geburtstag nicht unumstritten: Im Calvinismus hat es bis in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts große Vorbehalte, ja Verbote gegen die Feier des Geburtstags gegeben, weil man hierin eitle Selbstinszenierung witterte. Auch wenn wir diesen Generalverdacht gegen feiernde Geburtstagskinder heute so nicht mehr nachvollziehen mögen, können wir dem gleichwohl den hilfreichen Hinweis entnehmen, am Geburtstag eine gewisse schöpfungs- und rechtfertigungstheologisch begründete Bescheidenheit zu leben im Wissen darum, „dass Gott ist unser Herr, der uns erschaffen ihm zur Ehr, und nicht wir selbst, durch Gottes Gnad ein jeder Mensch sein Leben hat.“ (EG 288, 2)

Geburtstage sind Gelegenheiten für die Kunst des Erinnerns. Elementarreligionspädagogisch werden sie allerdings zumeist (und gewiss nicht zu Unrecht) unter den Aspekten von Dankbarkeit und Segen besprochen.2 Allerdings sollte das Lebensdeutungspotenzial dieses emotionalen Tages weiter ausgeschöpft werden. „Am Geburtstag steht das eigene Leben im Vordergrund und damit verbunden die Fragen: Wie begreife ich mich selbst? Und was erwarte ich von mir und anderen? Es ist die Frage auch nach meiner Fähigkeit, mich so anzunehmen, wie Gott mich geschaffen hat mit all meinen Stärken und Schwächen und den vielen wunderbaren Möglichkeiten.“3 Eine religionspädagogisch begleitete Selbstvergewisserung am Geburtstag wird (die Schöpfungstheologie nicht um den Gedanken der Providenz, der göttlichen Fürsorge, berauben und darum) die Erinnerung an die unter Gottes Fürsorge gelebte Vergangenheit bedenken. Gott hat mich geschaffen – und er hat mich seit dem Tag meiner Geburt bis zum heutigen Geburtstag erhalten. An diese Lebenszeit mit ihren Ereignissen und meinen Entwicklungen kann ich mich erinnern. Auch Psalm 139, mit dem ich dafür danken kann, dass „ich wunderbar gemacht bin“ (V. 14), hebt hervor, dass Gott uns von allen Seiten umgibt und seine Hand über uns hält (V. 5), und weiß darum, dass unser ganzes Leben („alle Tage“) in Gottes Buch geschrieben steht (V. 16).

Um derlei geburtstägliches Erinnern zu gestalten, können in der Familie Abschnitte aus jenem Tagebuch (s.o. unter 2.) vorgelesen und Fotos miteinander angesehen werden. In einer feierlich-lustigen Aktion kann an einer Holzleiste an der Wand oder am Türrahmen die Größe des Kindes markiert werden: Die Veränderung von Körpergröße – und damit von manch anderem auch – wird damit spielerisch und sinnlich erfahrbar.

Im Kindergarten (ähnlich auch im Kindergottesdienst und in anderen gemeindlichen Kindergruppen) könnte im Morgenkreis neben dem obligatorischen Lied und den dito Süßigkeiten eine Erzählrunde gestaltet werden: Woran erinnern wir uns aus dem vergangenen Lebensjahr unseres Geburtstagskindes? Erzieherinnen und Kinder können sich miteinander erinnern, auch das Geburtstagskind selbst kommt zu Wort. Hierbei kann das Portfolio hilfreich werden. Und wie wäre es mit einem jährlichen Foto am Geburtstag (für das Portfolio oder eine Fotowand im Gruppenraum)?

 

4. Erinnern und vergessen

Wichtig für die Selbstkonstruktion und Persönlichkeitsbildung ist neben der Erinnerung auch deren Gegenteil, das Vergessen. Dass ich nicht die Summe dessen bin, was ich erlebt, gedacht, gemacht usw. und noch in Erinnerung habe, wird daran deutlich, dass zu dieser Summe das, was ich vergessen habe (oder auch: vergessen durfte), hinzuzuzählen wäre. Sich selbst oder doch Ereignisse der eigenen Vergangenheit zu vergessen ist die radikalste Form der Selbstdistanzierung, auch der Befreiung von sich selbst. Details der eigenen Lebensgeschichte zu vergessen, kann beispielsweise dazu dienen, fortdauernder Scham zu entgehen oder von Niederlagen und Kränkungen wieder frei zu werden. Die Vergesslichkeit unserer Kinder ist nicht selten erstaunlich. Nicht nur das Irren, auch das Vergessen ist menschlich. (Zur Menschenfeindlichkeit des Internet gehört bekanntlich seine Unfähigkeit, zu vergessen und etwas dem Vergessen anheim fallen zu lassen.) „Die Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich“, sagt Honoré de Balzac in einem oft zitierten, unbelegten Aphorismus. Der Literaturwissenschaftler Pierre Bayard hat das Vergessen als einen wichtigen, ja notwendigen auswählenden, akzentuierenden, gestaltenden Aspekt des Lesens dargelegt4 – dies gilt auch für die Erinnerung als das Lesen des eigenen Lebens.

 

Anmerkungen

  1. John Updike, Selbst-Bewusstsein. Erinnerungen, Reinbek bei Hamburg 1990, 24.
  2. Diana Güntner/Cornelia Schmitt-Tonner, Religiöse und ethische Bildung und Erziehung im katholischen Kindergarten, Troisdorf 2010, 243-245; Dietrich Steinwede, 13 Sternstunden. Mit Kindern durch das Jahr, Göttingen 2008, 41-46.
  3. Werner Milstein/Katia Oedekoven, Kommt, wir feiern! Mit neuen Ideen gemeinsam feiern, Kinder glauben praktisch 3, Göttingen 2003, 24.
  4. Pierre Bayard, Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, München 2007.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2012

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