Die Ambivalenzen der Fremdheit und ihr religionspädagogisches Potential

von Karlo Meyer
 

 

Das grundlegende Ineinander von vertraut und unvertraut

Die Kinder lachen, als sie den Ruf des Muezzin zum Gebet hören. Das Fremde macht unsicher. Es ist „komisch“, es irritiert. Es geht nicht auf, wie die bekannten Dinge aufgehen. Die Schülerinnen und Schüler hören jemanden rufen, aber wie er ruft, ist ganz seltsam und unverständlich. Sie wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen, empfinden es als „komisch“. Der Lehrer stoppt das Tonband. Warum lachen sie? Schnell kommt heraus, dass sie lachen, weil es fremd ist und sie es nicht verstehen. Es ist eine fremde Sprache. Diese Erklärung ist verständlich. Ihr Lachen ist aufgenommen worden. Sie müssen beim zweiten Mal nicht mehr lachen. (Meyer 1999, 273-274)

Das Fremde, wie es vor allem bei kulturellen Unterschieden erfahren wird, verbindet sich mit einer ambivalenten Erfahrung (vgl. den Literaturüberblick Wierlacher 1993, 19-112). In dem kulturell Fremden gibt es immer auch etwas, was Bekanntes anspricht (ein Mensch ruft), und doch lässt es sich nicht in den alten Mustern verorten (fremdartiger Wortlaut, fremdartige Sprechmelodie). Es spricht zum Teil Vertrautes an (das ist ein Mensch), und ist doch letztlich fremd (ich verstehe es nicht). Diese gegensätzlichen Erfahrungen gelten für vieles „andere“, das mir fremd ist, und – so ich mir selbst fremd sein kann – auch für das „Eigene“.

Die Bezeichnung beispielsweise einer gesamten Handlungsfolge, eines ganzen Bauwerks oder eines Menschen mit dem Attribut „fremd“ ist daher immer eine Interpretation (vgl. O. Schäffter 1991, 14f.). Interpretation ist dabei nicht als intellektueller Akt zu verstehen, sondern macht darauf aufmerksam, dass das Attribut „fremd“ je nach Perspektive zugesprochen oder auch nicht zugesprochen werden kann. Der Bezeichnende spricht Aspekten, die nicht ein Bekanntes und Vertrautes ansprechen, einen beherrschenden oder entscheidenden Stellenwert zu, während Aspekte, die Vertrautes ansprechen, im Schatten dessen gesehen werden, was kein Vertrautes anzusprechen vermag.1 Aus dieser Ambivalenz resultiert eine grundsätzliche Irritation und im Extremfall gar ein Schock durch das Fremde.2

Die Irritation entspringt der Spannung zwischen der erlebten Fremdheit und dem, was aus dieser Fremdheit heraus anspricht, anstößt und abstößt. Das, was Bekanntes anspricht, verlangt danach, sich zu verhalten (z.B. auf einen Ruf zu antworten). Das Erleben der Fremdheit stellt die bekannten Verhaltensmuster in Frage (der unverständliche Wortlaut des Muezzins). Aus dieser Irritation bauen sich leicht Schutzmechanismen wie Abwehr gegenüber dem Fremden auf – Affekte, die jedes Kind entwickelt. In der Irritation reizt aber auch das Unbekannte als das Abenteuerliche, Faszinierende, Exotische, weil – so urteilt A. Wierlacher – „dieses dem Menschen Bewährungsmöglichkeiten offeriert, die seine Kräfte wecken und seine Selbstverwirklichung fördern“ (Wierlacher 1993, 39). Das Fremde kann in einzelnen Aspekten vertrauter werden und so den eigenen Horizont erweitern.

 

Vielfältige Empfindungen

Neben dem Ruf zum Gebet lässt sich auch bei dem Besuch einer religiösen Stätte mit einer Schulklasse eine Vielzahl von ambivalenten Empfindungen wahrnehmen. Die Erfahrung, zum erstem Mal als Gast zum Beispiel einen Hindutempel oder eine Synagoge zu besuchen, löst bei Schülerinnen und Schülern sehr unterschiedliche Gefühle aus. Es entwickeln sich Unsicherheit und Neugier, in tieferen Schichten eventuell auch Ängste, vielleicht Faszination. Das jeweilige Gemisch an Gefühlen findet vielfältig Ausdruck: der eine bleibt verlegen stehen, eine andere überspielt das Gefühl und platzt in den Raum herein, drinnen ist einer fasziniert, eine andere scheint albern, ein weiterer macht aggressive Gebärden. Kommentare klingen nach sachlichem Abstand, ironischen Brechungen oder sich vertiefender Beschäftigung.

Die leibliche Haltung reicht von staunendem Stehen bis zum verspielten Erobern des Raums.

Diese vielfältigen und oft gemischten Gefühle haben ihr Recht. Unsicherheit und Neugier, Angst und Faszination sind natürliche Reaktionen auf Fremdes. Aggression folgt oft aus Ängsten, Ironie kann auch aus überspielter Faszination entstehen, Albernheit aus Unsicherheit. Aber auch Entwicklungen gehören dazu: Die Halle eines buddhistischen Pagodentempels oder eines kleinen Hindu-Tempelchens evoziert Erleben von Fremdheit, das erst zu Vorsicht führen und sich dann zu Neugier wandeln kann.  

 

Das pädagogische Potential

Um die Entwicklung von Schülerinnen und Schülern zu fördern, können die hier genannten Impulse in ihrem pädagogischen Potential aufgenommen werden. Wer eng verknüpft mit religiöser Wahrnehmungs- und Deutungskompetenz auch die Kompetenz avisiert, mit Fremdheitserleben von Religion umzugehen, kommt nicht darum herum, der Arbeit am subjektiven Erleben und „Arbeiten“ an und mit Fremdheit einen zentralen Stellenwert zu geben.

Je mehr Zeit die Jugendlichen beim Kennenlernen des Fremden als einem Fremden haben, desto größer ist die Chance, dass Angst, Unsicherheit und Faszination nicht mehr unterschwellig wirken, sondern entweder klar benannt werden können oder sich erübrigen. Drei grundlegende Schneisen für diese „Arbeit“ sollen hier beschrieben werden, in der jeweils ein offensiver und ein defensiver emotionaler Impuls zusammenlaufen können. Exemplarisch greife ich dabei insbesondere auf Erfahrungen an religiösen Stätten zurück.

 

Drei Varianten gegensätzlichen Erlebens

1. Unsicherheit versus Neugier

Die grundlegendste Reaktion gerade bei einer Fülle neuer Eindrücke in einem fremden Raum ist die eigene Unsicherheit. Vertraute Verhaltensmuster passen an einer fremden Stätte zuweilen gar nicht. Es ist unklar, wie ich auf die Eindrücke reagieren soll. Allzu viel strömt auf mich ein, was ich nicht ordnen kann. Viele Emotionen und Impulse angesichts von Fremdheit sind letztlich Versuche, mit dieser ersten Unsicherheit umzugehen.

Eine der natürlichsten Impulse darunter ist die Angst. Dies kann Angst sein, sich falsch in einem Raum zu verhalten; es kann bis zu der unterschwelligen Angst gehen, durch fremde Menschen oder Rituale bedroht zu werden. Dann kann die Angst in Abwehr münden und schließlich in Aggression. Ein anderer Impuls, der positiv genutzt werden kann, ist die Neugier. Jeder Mensch (auch ein ängstlicher, wenn er nicht nur negative Erfahrungen gemacht hat) bringt diese Neugier mit, Fremdes genauer kennen lernen, ausprobieren oder erforschen zu wollen. Diese Neugier kann zum Motor werden, die Ängste zu überwinden und so an einem begrenzten individuellen Punkt eine tiefere Kenntnis und erste Vertrautheit zu entwickeln. Das geschieht nicht von selbst, vorsichtige Annäherungen und ein klarer Rahmen können helfen.

Wenn Schülerinnen und Schülern genug Zeit und Raum für sich selbst und die genaue Wahrnehmung eines zunächst begrenzten fremden Gegenstandes bleibt, bauen sie im Kennenlernen die Unsicherheiten und daraus resultierende Reaktionen ab. (Auch wenn dies selbstverständlich noch kein Rezept gegen tief geprägte und von der Umgebung stetig wiederholte Vorurteile ist.) Eine Buddhastatue zum Berühren schafft eine erste Nähe, das Malen eines arabischen Schriftzuges schafft fokussierende Beobachtung an einzelnen Buchstaben. Individuell wählbare Stationen in einem fremden Raum eröffnen die Möglichkeit, sich an einem begrenzten Aspekt des Fremden mit der Wahrnehmung zu vertiefen, sich Zeit zu lassen. Manchmal lässt sich auch Abwehr beobachten, die auf stereotypen Schemata beruhen und dann auf das Fremde angewandt werden („die“ Juden haben …, „die“ Muslime sind …). Auch hier kann es eine Hilfe sein, den Fokus nicht auf das Abstrakte (z.B. eines Lehrsatzes) zu richten (die Moschee an sich), sondern das Individuelle eines Gebäudes mit seinen individuellen Menschen in ihm deutlich werden zu lassen (nicht „ein Imam“, sondern „Herr Karim aus der Selimiye Merkez Moschee“), die möglicherweise in gar kein Schema passen. Die Neugier gerade auch auf das Individuelle, ganz Besondere eines Anderen (Menschen wie Gegenstandes) scheint mir wichtig als Fokus der Wahrnehmung, um gegenüber den vielfach präsenten Stereotypen gegenüber religiösen Zeugnissen den Sinn für das Einzelne und das Besondere zu wahren.

Die Buddhastatue in meiner Hand mit ihren kleinen Kerben und Ritzen fühlt sich anders an als jede andere. Den Schriftzug auf Arabisch finde ich im Raum so nicht wieder. Auch bei Menschen ist dies offensichtlich: Jeder Muslim führt sein Gebet ein wenig anders aus, auch für dieses Individuelle kann Zeit da sein, um auch anderen Varianten Raum zu lassen: „Kazim in der Moschee macht sein Gebet so; vielleicht macht Aische in der Nachbarklasse es etwas anders.“ Ausreichend Zeit und Raum für dieses Besondere, das Individuelle von religiösen Zeugnissen zu lassen, bildet den Schlüssel für gelingende Lehr-Lernprozesse des „Wahrnehmens“ von Fremdem. Je nach Abstraktionsfähigkeit der Klasse können dabei auch die innere Haltung bei der Wahrnehmung oder einfach die ersten Emotionen (wie Neugier oder Angst) reflektiert werden.

 

2. Der Wunsch zur Nivellierung von Fremdheit versus die natürliche Vorsicht

Die Urteile vieler Menschen schwanken „zwischen der Ablehnung der anderen, fremden Religion als dem einen und der Aufhebung aller Unterschiede und Gegensätze zwischen den Religionen als dem anderen Extrem“ (U. Becker 1998, 72). Es gibt Charaktere, die mit einer gewissen Ignoranz Schwellen überspringen und denen Fremdheit erst sehr spät, wenn überhaupt auffällt, andere die leichthin sagen: „Wir glauben doch alle am Ende dasselbe.“ Manche haben die Erfahrung gemacht, dass das Verhalten sich bewährt, Unsicherheit zu überspielen und Fremdheit zu ignorieren. Im Sinne einer Erziehung zu sozialer Kompetenz, konkret zu Respekt gegenüber fremden religiösen Zeugnissen und Zeugen, halte ich es jedoch für unverzichtbar, dem entgegen zu steuern. Religionen sind nicht gleich, und Fremdheit kann ich nicht einfach überspringen, wenn ich den anderen ernst nehmen will. Ein Impuls, der uns hier entgegenkommt und bei den meisten Menschen gegenüber Fremdem ausgeprägter ist als die Nivellierung der Schwellen, ist die natürlich Vorsicht angesichts von Unbekanntem – Vorsicht, die vor Grenzen erst einmal Halt macht.

Durch kleine Hinweise und Rituale kann einerseits ein Bewusstsein für die Grenze zum Fremden geschaffen werden (statt sie einfach so zu überspielen) und so andererseits der Vorsicht ein Ort gegeben werden, indem zum Beispiel durch einen Hinweis und ein Ritual eine Verlangsamung eintritt, die der natürlichen Vorsicht angesichts von Grenzen ihr Recht zubilligt und auf diese Weise das Anderssein zwischen den Schülerinnen mit ihrer Weltanschauung oder Religion und dem fremden Zeugnis wahrt und doch den Austausch wagt. Allein das Aufsetzen einer Kippa vor dem Synagogenraum sorgt auch als sehr kleines Ritual für eine solche Verlangsamung und ein Bewusstsein für den „anderen“ Raum, der nun betreten wird, die Grenze, die überschritten wird. Die Vorsicht gegenüber dem fremden Heiligen bekommt mit der Kopfbedeckung einen schützenden Ausdruck. Der Ton einer Klangschale setzt die buddhistische Geschichte vom Rest des Unterrichts ab und schafft Vorsicht und Aufmerksamkeit für das Neue, Andere. Am Ende wird die Kippa abgesetzt, der Ton der Klangschale ertönt zum zweiten Mal, der Raum des Fremden wird nun wieder verlassen.

Das kleine Ritual oder nur ein Hinweis hat als Ausdruck der Vorsicht dabei eine polare Funktion: er markiert gleichzeitig Grenze und Brücke zum Fremden. Indem im Unterricht Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgegriffen werden, wird dieses eher emotional-leibliche Erleben auf der kognitiven Ebene vertieft: Die fremde Religion ist auch inhaltlich sehr anders, sie ist fremd in Bezug auf heilige Wirklichkeit, die die Gläubigen mit ihr erleben, und es gibt doch Brücken. Meines Erachtens ist dieses Gefühl oder besser diese Sensibilität für Grenzen eine Grundvoraussetzung, um „Respekt“ gegenüber anderen zu lernen.

Theo Sundermeier hat im Zusammenhang mit dieser polaren Struktur von osmotischen Grenzen gesprochen (Th. Sundermeier 1996, 135f.). Wenn eine Zellwand einerseits klare Grenzen zur nächsten Pflanzenzelle setzt und sich so vor Auflösung und Zerfall schützt, so bleibt diese membranartige Wand andererseits doch gegenüber bestimmten Formen von Druck oder Lösungen durchlässig, ein osmotischer Austausch ist möglich. Mit diesem Bild kann auch der Austausch angesichts eines Gesprächspotentials über die Grenzen zum anderen deutlich werden. Die Grenze wird deutlich markiert, die osmotische Berührung durch das existentielle Gesprächspotential findet dennoch statt. Ein Grenzen klärender Hinweis oder ein Ritual kann so zur klärenden Membran werden, die Überbrückung und schützende Grenze in einem ist.

 

3. Fasziniertes Aufgehen im und Übernehmen vom kaum verstandenen Fremden versus der Wunsch, zum Eigenen zurückzukehren

Ein weiteres Potential fremdartiger religiöser Zeugnisse sehe ich in der Faszination, die sie auslösen können. Diese muss sich nicht immer im Unterricht so deutlich zeigen, kann aber außerhalb Blüten treiben. Der Gedanke an Wiedergeburt fasziniert viele Europäer, ebenso Erfahrungen und das Hörensagen von Zen-Meditation. Während dies eher Ältere anspricht, kann für kleine Kinder ein dicker runder Elefantengott aus Indien Begeisterung auslösen. Die Erfahrungen reichen vom Überwältigtsein von einer imponierenden Gebetshalle über den Wunsch, zum Hindugott zu gehören, bis zur Ironie, um das eigene Berührtsein zu brechen und bewusst eine Distanz zu finden, gerade weil man berührt ist.

Viele Europäer übersehen in ihrer Faszination von der Idee der ostasiatischen Wiedergeburtsvorstellungen, dass diese Wiedergeburt dort als ein Übel und als Leid erlebt wird, dem die Menschen entrinnen wollen, um endlich nicht mehr wieder geboren werden zu müssen. Die Faszination des Fremden ist sicher auch ein hilfreicher Motor, kann aber dann zu erheblichen Missverständnissen führen, wenn man glaubt, nun alles verstanden zu haben. Wir können diesen tendenziell positiven Impuls aus dem Bann der Überwältigung und der unverstandenen Übernahme oder gar der Abstand suchenden Ironie gewissermaßen „umlenken“ und mit dem eigenen in Beziehung setzen. Dabei kommt mir der Wunsch entgegen, angesichts des Fremden auch wieder zum Eigenen zurückzukehren. In Aufnahme der – woran auch immer – entdeckten Lust am Fremden können Schülerinnen und Schüler mit Impulsen des fremden Ortes, Rituals, des Gegenstandes lernen, durch das fremde Zeugnis an den Bezügen der „eigenen“, vergleichsweise vertrauteren Religion oder „eigenen“, vertrauteren Weltanschauung (je nachdem, was sie mitbringen) zu arbeiten. Das Fremde wird so nicht selbst Objekt eines Spiels oder von faszinierten Übernahmen, sondern ein Aspekt wird zu einem Impulsgeber, der den oder die einzelne in existentiellen Fragen des eigenen Lebens weiterdenken lässt, um so selbst zu einem Glauben oder einfach einer Meinung zu gelangen.

Reinkarnationsvorstellungen könnten dazu führen, sich Gedanken über das Leben, eine zweite Chance und Umkehr zu machen oder aber Wiedergeburtsvorstellungen als Teil westlichen Gedankengutes (wieder) zu entdecken (R. Sachau ²1997).

Schülerinnen und Schüler müssen nicht so weit gehen, aber sich durch einen Elefantengott über den eigene Begriff von Wut und Ärger Gedanken zu machen, stellt schon eine Arbeit an der eigenen Weltanschauung der Welt dar (Vgl. Meyer 1999, 301, 298ff, 236f, sowie M.H. Grimmitt u.a. 1991). Dies ist auch gleichzeitig der rechte Ort für Kritik: Auf Impulse (!) der anderen reagiere ich kritisch und halte meine Maßstäbe dagegen (zumindest der Lehrende sollte sich bewusst sein, dass dies nur Impulse sind, die dabei getroffen werden, die Berechtigung der Kritik gegenüber dem Impulsauslösers ist selten eindimensional zutreffend). Erst so entsteht eine Voraussetzung für echten Dialog, der Fremdes und Eigenes nicht als starre Größen nimmt, sondern dynamisch das Eigene durch Fremdes in Bewegung geraten lässt.

 

Fazit

Fremdheitserfahrungen gegenüber religiösen Zeugnissen können sich mit einer Fülle von zum Teil sehr emotionalen Impulsen verbinden. Wenn sie pädagogisch begleitet werden, können Schülerinnen und Schüler erste Herangehensweisen an Fremdes und spezifisch fremde Religion exemplarisch lernen. Drei gegenläufige Emotionen des Fremdheitserlebens führe ich in Schneisen für erste Begegnungen zusammen.

Das gegensätzliche Erleben von Unsicherheit – einerseits zuweilen Abwehr, andererseits Neugier – kann durch einen begrenzten Fokus aufgenommen werden. Neugier kann sich in einem klar definierten, abgegrenzten Rahmen „sicher“ entfalten und Unsicherheit durch diesen ersten Zugang abgebaut werden. Als zweite Variante sind zwei weitere, gegensätzliche Formen des Erlebens von Fremdem zu nennen: zum einen die Vorsicht, die Grenzen wahren will, und zum anderen der Wunsch, Grenzen hinter sich lassen zu können. Kleine Rituale als „Grenzmarker“ machen auf bleibende Unterschiedenheit aufmerksam und bilden zugleich Brücken zum Fremden. Grenzüberschreiten und Grenzbewusstsein bleiben verbunden.

Schließlich sind zwei weitere, gegensätzliche Impulse zu nennen: einerseits die Faszination, die Fremdes einfach übernehmen will, und als zweites der Wunsch, beim Eigenen, Vertrauteren zu bleiben oder zu ihm zurückzukehren. Angestoßen durch begrenzte, vielleicht faszinierende Impulse kann Fremdes und auch fremde Religion helfen, Eigenes, scheinbar schon Vertrautes neu zu entdecken und durch das Fremde das Eigene zu entwickeln.

 

Anmerkungen

  1. Mit meiner Formulierung möchte ich bewusst offen lassen, ob das Fremde etwas Unvertrautes, Unbekanntes, gar Unheimliches in meiner eigenen Person anspricht („das Fremde in mir“), oder ob es einfach nichts anspricht, „ins Leere“ spricht. Im letzten Fall korrespondiert diese Bestimmung auch mit dem, was die Logik unter Fremdheit versteht: „In der modernen Logik heißen ‚fremd‘ zwei Klassen oder Mengen, deren Durchschnitt leer ist.“ (A. Wierlacher 1993, 41, unter Verweis auf J. Ritter (Hrsg.) 1972, 110
  2. Vgl. auch die Unterscheidung von Fremdem und Fremdartigem bei B. Waldenfels 1987, 122f: „Das Fremde wären unbekannte und unverfügbare Erfahrungsgehalte und Erfahrungsbereiche, sozusagen weiße Flecken innerhalb der eigenen Welt, Unbestimmtheiten, für die Bestimmungsregeln bereitliegen, … Fremdartiges wäre dagegen etwas, was die bestehenden Erfahrungsstrukturen und Erfahrungsordnungen sprengt …"
  3. Zu den pädagogischen Möglichkeiten der Irritation des Fremden in der interkulturellen Didaktik vgl. G. Führing 1996, 13 und 115ff. D. S. Hoopes 1979, 23, macht besonders auf den „cultural shock“ aufmerksam.

 

Literatur

  • Becker, U. (1998): Christusglaube und interreligiöse Begegnung – Positionen und Zukunftsperspektiven, in: J. Lähnemann (Hrsg.), Interreligiöse Erziehung 2000 – Die Zukunft der Religions- und Kulturbegegnung, Hamburg, 71-79.
  • Grimmitt, M.H./ Grove, J./ Hull, J./ Spencer, L. (1991), A Gift to the Child. Religious Education in the Primary School.Teachers’ Source Book, Simon and Schuster, London
  • Führing, G. (1996): Begegnung als Irrtiation. Ein erfahrungsgeleiteter Ansatz in der entwicklungsbezogenen Didaktik, Münster
  • Hoopes, D.S. (1979): „Intercultural Communication Concepts and the Psychology of Intercultural Experience“, In: M.D. Pusch (1979, Hrsg.), Multicultural Education: A Cross-cultural Training Approach, Chicago, 10-39.
  • Meyer, Karlo (1999): Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht. „Weltreligionen“ im deutschen und englischen Religionsunterricht, Neukirchen Meyer, Karlo (2006): Lea fragt Kazim nach Gott. Christlich-muslimische Begegnungen in den Klassen 2 bis 6 (mit Material-CD), Göttingen
  • Meyer, Karlo (2008a): Fünf Freunde fragen Ben nach Gott. Begegnungen mit jüdischer Religion in den Klassen 5-7, Göttingen Meyer, Karlo (2008b): Weltreligionen. Kopiervorlagen für die Sekundarstufe I, Göttingen
  • Ritter, J (1972, Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 2, Darmstadt
  • Sachau, R. (²1997): Westliche Reinkarnationsvorstellungen. Zur Religion in der Moderne, Gütersloh, 1. Aufl. 1996
  • Schäffter, Ortfried (1991): Das Fremde. Opladen
  • Sundermeier, Th. (1996): Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen
  • Waldenfels, Bernhard (1987): Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a.M.
  • Wierlacher, A., (Hrsg.) (1993): Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung. Kulturthemen. Beiträge zur Kulturforschung interkultureller Germanistik Bd.1, München

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2011

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