Das Hungertuch der Realschule Verden: Eine Projektidee

von Inge Osthues

 

In der Passionszeit 2007 beschäftigten sich die Schülerinnen und Schüler der Realschule Verden im Religionsunterricht und auch im Fach Werte und Normen mit dem mittelalterlichen Brauch, in der Kirche ein „Hungertuch“ aufzuhängen. Sie erfuhren, dass man in der Fastenzeit die in der Kirche stehenden Kreuze und Altäre mit „Hungertüchern“ verhüllte, die mit Darstellungen der Passion Christi bemalt waren. Auf diese Weise sollte der Weg Jesu ans Kreuz, Jesu Leiden und Jesu Sterben in den Mittelpunkt gestellt werden. Erst zu Ostern wurden die Tücher wieder abgenommen und der Blick auf den auferstandenen Herrn wieder freigegeben. Dieser mittelalterliche Brauch geriet später in Vergessenheit und wurde erst im Jahr 1976 von Misereor wieder aufgegriffen. Heute stellen die modernen Hungertücher zeitgenössische Bilder von Leid und Tod, von Armut, Ausbeutung und Unterdrückung, aber auch von Verheißung, Hoffnung und Befreiung dar.

Zur Vorbereitung  setzten sich die Schülerinnen und Schüler in der Fastenzeit mit dem Hungertuch „Brot und Rosen“ auseinander, das Misereor 2004 herausgegeben hat. Die intensive Auseinandersetzung mit diesem Hungertuch führte dazu, dass die Schülerinnen und Schüler motiviert werden konnten, ein eigenes Hungertuch zu gestalten, das ihre Probleme sowie die Probleme der Menschen ihrer Region (und darüber hinaus) darstellt. Das von den Realschülerinnen und Realschülern gestaltete Hungertuches dokumentiert, dass sie durchaus in der Lage waren, an die Tradition der modernen Hungertücher anzuknüpfen. Die Schülerinnen und Schüler fertigten Bilder an und verfassten Texte die verdeutlichen, dass auch im Umfeld der Jugendlichen, in ihrer Schule, in ihrer Stadt und in ihrer Region Menschen nach Gerechtigkeit, nach Frieden, nach Liebe, nach Wärme, nach Hoffnung etc. hungern.

Die Darstellungen der Jugendlichen lassen die Betrachterin und den Betrachter des Hungertuches nicht kalt, zeigen sie doch die gegenwärtigen Probleme vor Ort und darüber hinaus – Probleme, die oftmals verdrängt und nicht thematisiert werden. So finden sich z.B. Szenen von Gewalt, Armut, Einsamkeit, Hunger, Lieblosigkeit u.a.

Betrachtet man das Hungertuch genau, fällt auf den zweiten Blick die große Christusfigur auf, die auf einer Folie aufgezeichnet und über das Tuch gehängt wurde. Sie streckt allen die Hände entgegen und symbolisiert jedem Leidenden, Unterdrückten, Ausgegrenzten, Bedrängten, Kranken und Entrechteten, dass ER ihnen nahe ist. Jesu Verkündigung, Jesu Leiden, Jesu Sterben und Jesu Auferstehen ist also kein vergangenes Ereignis sondern ein gegenwärtiges. Und ER fordert uns auf, heute an SEINE Stelle zu treten.

Im Rahmen des Tages der Demokratie wurde das Hungertuch am 23. Mai 2007 vor dem Verdener Rathaus der Öffentlichkeit vorgestellt.

Das Tuch besteht aus Baumwolle und hat die Maße ca. 3,25 m x 3,20 m. Es wurde aus vielen kleinen Bildern zusammengenäht (Patchwork). Es kann insgesamt und in Ausschnitten (mit Kommentaren zu den einzelnen Bildern) unter der Internetadresse http://www.realschule-verden.de/ hungertuch.htm betrachtet werden.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2007

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