Handwerkszeuge kindlicher Bibeldeutung

von Gerhard Büttner & Jörg Thierfelder

 

Kinder als Exegeten

Ronald Goldman befragte vor fast 40 Jahren Kinder, warum Jesus dem Ansinnen des Teufels, aus Steinen Brot zu machen, widerstand. "Die Leute mochten kein Brot in diesem Land", meinte ein sechsjähriges Kind. Die knapp 12-jährige Jana meinte, auch Gott könne vom Brot allein nicht leben. Auf Nachfrage erläutert sie dies. "Man sollte noch etwas anderes dazu essen - Butter."1 Es sind Dialoge wie dieser, die im Mittelpunkt stehen beim Nachdenken darüber, wie Kinder biblische Geschichten verstehen (können). Lange Zeit galt es als die vornehmste Aufgabe der Religionsdidaktik, darüber nachzudenken, mit welchen Kniffen es gelingen könnte, die Kinder von solchen falschen Verständnissen der Bibel abzubringen. Sofern dabei das Wissen der Kinder überhaupt in den Blick kam, dann primär unter der Frage des rechten Anknüpfungspunktes.2

Inzwischen gibt es eine wachsende Zahl von Religionspädagogen, die unter dem Eindruck von Strömungen wie der Rezeptionstheorie in der Literaturwissenschaft, dem Postulat zum "Perspektivenwechsel hin zum Kind" in der kirchlichen Diskussion, den Überlegungen zum Philosophieren und Theologisieren mit Kindern zu der radikalen Einsicht vorgestoßen sind: "Biblische Geschichten dürfen auch ‚unrichtig’ verstanden werden."3

Natürlich fordert eine solche Aussage heraus. Sie tangiert das Selbstverständnis der historisch-kritischen Methode, historische "Wahrheiten" generieren zu können, wenngleich auch hier durch die Aufnahme rezeptionstheoretischer Ansätze und die postmoderne Erkenntnis "vieler Lesarten" eine Veränderung im Gange ist. In einem solchen Kontext erscheinen dann die Versuche, eigene Auslegungen biblischer Texte durch Kinder oder Jugendliche als wichtige Deutungen zuzulassen, nicht mehr exotisch.

Friedrich Schweitzer hat einige Elemente herausgestrichen, die bei einem Programm "Kinder als Exegeten" zu beachten sind:

  •  "Die Rezeptionsprozesse von Kindern und Jugendlichen (sollen) sorgfältig wahrgenommen und dokumentiert werden.
  •  Keine (psychologische) Theorie kann vorwegnehmen, was bestimmte Kinder oder Jugendliche tatsächlich denken, was sie interessiert, beunruhigt und bewegt.
  •  [Die Arbeit mit Kindern] bedarf [...] eines didaktischen Settings, bei dem Kinder und Jugendliche mit ihren Deutungen wirklich zum Zuge kommen können."4

Unsere eigene Konsequenz aus der Diskussion um "Kinder als Exegeten" sehen wir in zweifacher Hinsicht. Alle Versuche sind zu unterstützen, möglichst viel empirisches Material darüber zu gewinnen, wie Kinder unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Voraussetzungen mit bestimmten biblischen Geschichten umgehen. Auch wenn – wie Schweitzer richtig festhält – jedes Kind einen je eigenen Zugang zum Bibeltext finden wird, so lassen sich doch bestimmte Rezeptionsweisen zumindest im Bereich des Wahrscheinlichen vorhersagen. Auf dieser Basis kann dann z.B. für Gleichnisse ein Horizont möglicher Didaktik und Rezeption abgesteckt werden.5

Es gehört aber auch zu einer konstruktivistischen Perspektive, wie wir sie hier einnehmen wollen, darüber nachzudenken, wie denn biblische Exegese vonstatten geht. Horst Klaus Berg hat einen Überblick über das Repertoire zeitgenössischer exegetischer Ansätze gegeben.6 Vermutlich könnte man im Detail dabei noch einer großen Anzahl impliziter Regeln auf die Spur kommen, die den einzelnen Vorgehensweisen zugrunde liegen. Uns geht es in diesem Beitrag darum, auch in der exegetischen Arbeit von Kindern nach solchen Regeln zu suchen. Soweit wir solche finden werden, können wir dann fragen, in welcher Weise sie denen der "offiziellen" Exegese entsprechen bzw. wo sie sich unterscheiden.

 

Ronald Goldman: Kinder verstehen biblische Geschichten spezifisch anders als Erwachsene – Mechanismen der Wunderdeutung

Jean Piaget hatte bei der Beschäftigung mit Intelligenztests bemerkt, dass es so etwas wie typische Fehler gibt.7 Auf dieser Grundeinsicht aufbauend konnte Piaget bei Kindern spezifisch andere Denkformen ausmachen als bei Erwachsenen. Bei der späteren Rezeption dieser Erkenntnisse wird dann allerdings zu unterscheiden sein, ob es sich bei den kindlichen "Fehldeutungen" (in der Sicht der Erwachsenen) eher um Defizite oder um Kompetenzen handelt. Der englische Religionspädagoge Ronald Goldman war ein Pionier bezüglich der Anwendung der Piagetschen Forschungen auf das religiöse Verstehen der Kinder.8 Ihm selbst ging es darum zu zeigen, wie – von seiner theologischen Perspektive aus – "falsch" viele Deutungen gerade auch biblischer Geschichten von Kindern sind. Er plädierte deshalb für eine altersmäßig spätere Begegnung mit der Bibel. Für uns heute bestechen die genauen Beobachtungen Goldmans und die interessanten Äußerungen der Kinder. Im Sinne einer "Pluri-Interpretabilität" biblischer Texte in der Postmoderne wird man den kindlichen Äußerungen ein eigenes Interesse entgegenbringen.9 Demnach wären die strukturellen Voraussetzungen kindlichen Exegesierens als spezifische Kompetenzen zu werten. Die Mechanismen, die dabei sichtbar werden, wollen wir als "Handwerkszeuge" werten.

Bei der Rekursnahme auf Goldmans Studie fällt der Zeitabstand von knapp 40 Jahren ins Auge. Eine zumindest punktuelle Wiederholung von Goldmanns Forschungen erscheint deshalb wünschenswert. Christine Martin hat eine solche für die Rezeption der Geschichte vom "Brennenden Dornbusch" (Ex 3) unternommen.10 Sie hat dabei den Original-Fragebogen11 für die sechs Interviews, die sie mit Viertklässlern und -innen geführt hat, etwas modifiziert. Wir dokumentieren hier eines ihrer Interviews und ihr Resümee.12

 


Adrian, 10 Jahre

I: Hast du die Geschichte schon einmal vorher gehört?

A: Nö.

I: Warum meinst du, ist der Dornbusch, der gebrannt hat, nicht verbrannt?

A: Vielleicht hat das der Gott da so gewollt halt, der kann doch eigentlich bestimmen, was (kurze Pause), was das jetzt macht. (Lacht) Der Gott hat ja auch die Flut von der Arche Noah, also gerufen sozusagen. Und vielleicht hat der dann gesagt: "Der Busch soll nicht aufhören zu brennen, bis ich dem die Nachricht gesendet hab."

I: Mit einer Nachricht sendet der das.

A: Ja, bis er das gesagt hat und dann geht der Busch bald aus.

I: Also Gott kann das?

A: Ja.

I: Indem er das sagt.

A: Ja, er hat ja auch die Erde erschaffen.

I: Du hast ja eben die Geschichte gehört. Was findest du selber, was das Wichtigste an der Geschichte ist?

A: Dass der Mose mit dem Gott gesprochen hat und dass der die befreien soll.

I: Die Israeliten in Ägypten?

A: Ja, die Ägypter müssen die irgendwie kaufen und dann müssen die Sklaven machen, was die wollen.

I: Weißt du noch wie der Name von Gott ist?

A: Nein.

I: Gott hat zu Mose gesagt: Mein Name ist "Ich bin für euch da!"

A: Hm.

I: Was kann damit gemeint sein?

A: Vielleicht dass der für alle sorgt oder so. Halt man braucht ja zum Beispiel nicht den Namen zu wissen, das ist ja nicht so wichtig, aber ob der gut ist. Halt, ich bin für alle Menschen da und die konnten sich ja nix unter den Göttern da vorstellen und dann hätten die sich darunter nichts vorstellen können und dann hat Gott einfach den Namen "Ich bin für euch da!" gewählt.

I: Hast du schon einmal was von Göttern gehört, weil du eben Götter gesagt hast.

A: Ja, ich war in Ägypten. Es gibt Falken, ne Katze und Menschen als Götter.

I: Meinst du, die Geschichte stimmt?

A: Vielleicht hat der gedacht "Ich spinn’ irgendwie". Weil das passiert ja nicht, wenn jetzt vor mir so ein Busch brennen würde und da würde jemand etwas sagen, dann dachte ich: "Ich spinn irgendwie!" (Lachen)

I: (Lachen) Das kann man dann gar nicht glauben.

A: Hm. (Pause) Ich denk halt, Gott hat einen Busch brennen lassen und hat das aus dem Himmel zu Mose gesagt und das macht er nur bei ganz wichtigen Sachen. Wenn was ganz wichtiges ist oder so.

I: Meinst du man hätte das auch weglassen können mit dem Dornbusch?

Dass das nicht so wichtig ist mit dem Busch.

A: Nein, sonst wär der ja kaum aufmerksam geworden.

I: Also du meinst, Gott musste das erst mal so machen, damit Mose von seiner Arbeit weggeht?

A: Ja.

I: Also du meinst, dass die Geschichte so stimmt?

A: Ja.

 

Christine Martin gibt dazu die folgende Interpretation:13

"Die Geschichte ist Adrian unbekannt. Seine Erklärung, dass der Dornbusch brennt und dennoch nicht verbrennt, ist charakteristisch für das zweite Stadium Goldmans, dem des technischen Artifizialismus: Gott greift durch reine Befehlsmacht aktiv in die natürliche Welt ein, indem er bestimmt, der Busch solle nicht aufhören zu brennen, bis er von ihm eine Nachricht erhalte. Adrian untermauert seine Annahme, Gott könne allein durch sein Wort befehlen, durch seine Äußerung, Gott habe die Flut von der Arche Noah gerufen sowie die Erde erschaffen.

Am Wichtigsten an der Geschichte findet Adrian das Gespräch zwischen Mose und Gott und den Auftrag Moses, die Israeliten zu befreien.

Unter der Gottesbezeichnung versteht Adrian, dass Gott für alle Menschen Sorge trägt, gut ist und da sein will. [...]. Er [...] stellt Beziehungen zwischen biblischen Geschichten her und macht logische Ableitungen, zum Beispiel wenn Gott die Flut gerufen und die Erde erschaffen hat, dann kann er auch den Dornbusch brennen, aber nicht verbrennen lassen.

Adrian meint, die Geschichte stimmt, da Gott nur bei wichtigen Sachen in die natürliche Welt intervenieren kann. Er stellt die Hypothese auf, Mose könnte in der damaligen Situation gedacht haben "Ich spinn’ irgendwie", ein Gedanke der ihm kommen würde, wenn ihm das mit dem brennenden, sprechenden Busch heute widerfahren würde."

Insgesamt sieht Christine Martin auf der Basis ihrer Interviews keine Veränderung im Antwortverhalten der Grundschulkinder im Vergleich zur Goldman-Studie.14 Für unsere eigene Fragestellung, nämlich nach spezifischen Mechanismen bei der Interpretation, scheint es uns fruchtbar, zu den markierten Passagen der Interpretation noch einige Anmerkungen zu machen:

– Das artifizialistische Schema dient nach Piaget als Interpretament einer Welt, die einen sinnvollen Anfang hat, weil alles bzw. die wichtigsten Dinge "mit Bedacht" hergestellt worden sind und damit im finalistischen Sinne auch ein Ziel bzw. eine Bestimmung haben.15 Eine religiöse Deutung von Welt wird dieses Schema zwar zunehmend nur noch metaphorisch verstehen, seine grundsätzliche Gültigkeit aber nicht infrage stellen. Der hier skizzierte technische Artifizialismus rechnet allerdings altersentsprechend noch mit konkreten handgreiflichen Interventionen Gottes.

– Der Analogieschluss von anderen biblischen Geschichten ist wahrscheinlich das am häufigsten eingesetzte Handwerkzeug bei der Analyse neuer biblischer Geschichten.16 Dieser Mechanismus ist einerseits Voraussetzung dafür, dass Kinder in der Lage sind, ein kohärentes Wissen über die Bibel und ihre Welt zu entfalten, es ist andererseits auch die Voraussetzung für die Entwicklung von Kriterien, etwa der von Nipkow beobachteten kindlichen Forderung, dass es in der Bibel gerecht zugehe.17

Ungewöhnlichkeit als Hervorhebung ist ein Muster, das bei mehreren der von Christine Martin befragten Kinder vorkommt, so wie hier am Schluss von Adrians Interview. Damit greifen die Kinder auf den grundlegenden Mechanismus zurück, dass Unerwartetes eine stärkere Wirkung entfaltet als Gewöhnliches.18

Die Subjektivierung des wunderhaften Phänomens zeigt sich auch bei Adrian als Mittel der Erklärung. Wenn Mose "spinnt", dann können die Ereignisse als innerphysische Phänomene gedeutet werden und die problematischen Verletzungen des Wirklichkeitsverständnisses können vermieden werden.19

 

Wie gehen Kinder mit Dubletten in der Bibel um?

Im Alten und Neuen Testament lassen sich eine ganze Reihe von Dubletten feststellen. Das gilt vor allem vom Pentateuch. Die Erzählung von der "Preisgabe" der Ahnfrau wird z.B. dreimal erzählt in Gen. 12,20-30; 20,1-18; 26,1-11. Auch das Neue Testament enthält zahlreiche Dubletten. Die wunderbare Brotspeisung, ein sog. Geschenkwunder20, wird bei Matthäus zweimal erzählt, einmal als Speisung der 5000 und das andere Mal als Speisung der 4000 (Mt 14,13-21; Mt 15,32-39). Die Dubletten vornehmlich im Pentateuch sind einer der Ausgangspunkte der historisch-kritischen Bibelauslegung geworden.21 Nach Werner H. Schmidt gilt: "Hauptanstöße und Hauptkriterien für die Quellenscheidung im Pentateuch bleiben Doppelungen (von Texten bzw. Textteilen, Sätzen, evtl. auch Satzteilen) und der Wechsel von Gottesnamen bzw. -bezeichnungen (Jahwe, Elohim)."22 Evangelikale Bibelausleger wie etwa Fritz Rienecker haben keine Probleme mit den Dubletten. Für sie vollbrachte Jesus zwei Speisungswunder während seiner Wirkungszeit.23 Wissenschaftliche Exegeten wie z.B. Joachim Gnilka sehen in den beiden Überlieferungen "Ausfaltungen einer gemeinsamen Grundtradition", nicht "selbständige Überlieferungen"24. Doch wie gehen Kinder mit solchen Dubletten um?

Anna Friederike Schmitt unternahm es, Schüler und Schülerinnen von elf Jahren mit den Dubletten beim Speisungswunder zu konfrontieren.25 Die Interviews mit sieben Kindern aus einem christlichen Gymnasium in Hessen hatten vier Teile. Zunächst wurde "die Speisung der 5000" gelesen und dann drei Fragen zum Textverständnis gestellt: "Wer war Jesus?" "Wer waren die Jünger und das Volk?" "Was ist das Besondere an der Geschichte?" Dann wurde "die Speisung der 4000" gemeinsam gelesen und besprochen. Schließlich wurden die beiden Texte miteinander verglichen. Die Schüler stellten fast ausnahmslos fest, dass es "fast die gleichen Geschichten sind" bzw. dass "das gleiche Wunder passiert". Die entscheidende Frage beim Textvergleich war dann: "Kannst du dir erklären, warum der Evangelist Matthäus zwei so ähnliche Wundergeschichten aufgeschrieben hat?"

Die meisten Kinder bezweifelten nicht, dass beide Wundergeschichten so geschehen sind, wie in der Bibel dargestellt. "Es ist auf jeden Fall zweimal passiert. Sonst wären es ja Lügengeschichten und das glaub ich nicht, dass in der Bibel Lügengeschichten stehen" (Alexandra). "Es ist beides passiert, sonst wäre ja eins gelogen. Man muss eben einfach glauben, was in der Bibel steht" (Emanuel). Zwei Schüler vertreten die Verbalinspiration: "Gott hat es Matthäus gesagt, dass er es zweimal aufschreiben soll" (Daniel). "Weil Gott ihm das so gesagt hat. Er soll das zweimal aufschreiben" (Peppi). Nur eine Schülerin denkt, dass das Wunder sich nicht zweimal ereignet hat (s.u.). Im allgemeinen scheinen also Dubletten für Kinder dieses Alters kein Problem zu sein. Hier sind Korrespondenzen zur evangelikalen Bibelauslegung festzustellen (s.o.).

Begründet wird die Dublette mit dem möglichen Verstärkungseffekt durch Jesus selbst: "Um noch mehr Menschen das [=dass bei Gott nichts unmöglich ist] zu zeigen. Beim ersten Mal sind es ja 5000 und dann noch mal 4000. Er wollte einfach noch mehr Menschen zeigen, dass er das kann" (Alexandra). – "Er wollte ja, dass sie ihm weiter nachfolgen. Deswegen hat er ihnen zweimal zu essen gegeben". Auch Jesu Gegner sollten überzeugt werden: "Und die Pharisäer hätten ja behaupten können, dass es beim ersten Mal nur Glück war. Deswegen zweimal" (Emanuel). Auch wissenschaftliche Exegeten betonen bei den Dubletten einen Verstärkungseffekt. Für den Exegeten Ulrich Luz wollte Matthäus die besondere Bedeutung Jesu betonen: "So wie es in den vielen Krankenheilungen und in beiden Speisungen berichtet ist, hat Jesus immer und immer wieder an seinem Volk Israel gehandelt. So konkret, so körperlich hat er ihm geholfen."26

Für Noemi hat Matthäus beide Geschichten aufgeschrieben, um sie zu vergleichen. Sie bemerkt die Tatsache, dass beim ersten Speisungswunder fünf Brote und zwei Fische gereicht hätten, dagegen beim zweiten sieben Brote und ein paar Fische. Sie kommt zum Schluss: "Matthäus wollte einfach zeigen, dass bei mehr Menschen weniger Brot reicht. Das erste ist also das größere Wunder." Auf die Frage, warum er dann das kleinere Wunder noch aufschreiben sollte, antwortete Noemi: "Das ist Matthäus so erzählt worden und er wollte vergleichen." Noemi hat die in der NT-Exegese festgestellte Tendenz der Überlieferung , das "Wunderbare" zu verstärken, festgestellt und auf ihre Weise zu interpretieren versucht.27

Für einige Schülerinnen und Schüler soll durch die Dublette gerade Jesus als Helfer herausgestellt werden: "Jesus wollte nicht, dass die Leute verhungern. Also hat er ihnen zweimal zu Essen gegeben" (Manuel). "Weil Jesus viele Anhänger hatte und die hatten Hunger. Dann hat er ihnen zweimal zu Essen gegeben" (Peppi). "Jesus musste den zweiten auch helfen. Er hilft ja nicht nur denen, die ihm gefallen" (Noemi). Diese Überlegungen der Kinder korrespondieren mit Aussagen der wissenschaftlichen Exegese. Ulrich Luz stellt fest: "Wenn Matthäus hier ebenso wie Markus noch einmal eine Speisungsgeschichte bringt, dann will er damit herausheben, dass das Grundmotiv des Wirkens Jesu in seiner barmherzigen Zuwendung zum ganzen Volk liegt."28 Jesus als Helfer wird – das haben Untersuchungen ergeben – gerade von Grundschulkindern besonders herausgestellt.29 Die Schülerinnen und Schüler haben ein gutes Gespür für "die existentielle Funktion urchristlicher Wundergeschichten", die sich "auf wirkliches Elend", "auf wirkliche Not" beziehen.30

Das Interview mit Anica bringt erstaunliche Überlegungen

 


A: Mein erster Gedanke war, dass Matthäus beim ersten Mal dabei war und beim zweiten Mal hat ihm das jemand anders erzählt und er hat es dann zweimal aufgeschrieben.

(kurze Denkpause)

A: Oder Luther hat das einmal aufgeschrieben und dann noch mal anders übersetzt. Ich finde, das zweite ist ein besseres Deutsch.

L: Hast du den zweiten Text leichter verstanden?

A: Ja, der ist einfacher.

L: Aber wenn Luther den Text nur einfacher machen wollte, warum hat er dann aus 5000 Menschen 4000 gemacht?

A: Das weiß ich auch nicht.

L: Glaubst du denn, dass es zweimal stattgefunden hat? Es stehen ja beide Texte in der Bibel.

A: Ne. Da müsste man mal gucken, ob es bei den anderen [Evangelisten] auch noch drin steht. Und wenn dann eins öfter drin steht, hat das bestimmt eher stattgefunden.

L: Die Speisung der 5000" steht viermal in den Evangelien und "Die Speisung der 4000" zweimal.

A: Na dann hat bestimmt das erste eher stattgefunden

 

Anna Friederike Schmitt schreibt dazu: "Bei dem Gespräch mit Anica ist besonders interessant, wie sie bereits gelernte Unterrichtsinhalte auf ein anderes Thema überträgt. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Religionslehrerin vor einigen Wochen mit den Schülern das Thema ‚Luther und seine Übersetzungen’ durchgenommen hatte. Dabei waren auch Übersetzungsfehler und verschiedene Übersetzungstexte besprochen worden. Auch andere Übersetzungen und sprachlich vereinfachte Bibeln wurden von den Schülern untersucht. Anica muss sich bei ihren Überlegungen daran erinnert haben und versuchte, daraus einen Lösungsweg für das gestellte Problem zu finden.

Weiter fällt auf, dass sie die einzige Schülerin ist, die nicht davon ausgeht, dass es sich um zwei Wunder handelt, die beide stattgefunden haben. Ihrer Theorie, dass die Speisungsgeschichte, die öfter überliefert wurde, eher stattgefunden hat, ist für sie eine logische und eindeutige Erklärung. Etwas schade ist, dass auf ihren ersten Gedanken nicht näher eingegangen wurde. Die Erkenntnis, dass Menschen, die das gleiche erlebt haben, einen Bericht über das Geschehene im Nachhinein dennoch völlig unterschiedlich wiedergeben, ist für ihr Alter erstaunlich reif. In der Tat ist die überlieferungsgeschichtliche Erklärung der Dublette durch Anica eine reife Leistung.

Zusammenfassend ist zu sagen: Die Dubletten werden von den Kindern wahrgenommen, aber nicht als schmerzliche Widersprüche erlebt. Bis auf eine Schülerin gehen alle Schülerinnen und Schüler davon aus, dass die Geschichten so geschehen sind, wie in der Bibel berichtet. Die Kinder befinden sich auf der konkret-operationalen Ebene. Nur Anica ist fähig zu formalen Operationen. Die Antworten der meisten Schülerinnen und Schülern entsprechen dem mythisch-wörtlichen Glauben, der Stufe zwei nach Fowler. Äußerst kreativ sind sie in den Überlegungen, warum zwei wunderbare Brotvermehrungen erzählt werden. Hier bringen sie Gründe zur Sprache, die in der wissenschaftlichen Bibelauslegung vertreten werden.

 

Exegetische Kompetenz als Ausdruck "epistemologischer Überzeugungen"

Warum sollte uns das Handwerkszeug unserer Schülerinnen und Schüler interessieren? Jürgen Baumert, einer der Verantwortlichen der PISA-Studie, macht Anmerkungen zu den Defiziten im deutschen Lehrbetrieb. Im Hinblick auf den Physikunterricht beklagt er die mangelnde Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Weltbildvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler. Es geht ihm dabei um die "epistemologischen Überzeugungen" als den "Vorstellungen und subjektiven Theorien", "die Personen über das Wissen und den Wissenserwerb generell oder in spezifischen Domänen entwickeln".31 "Wenn epistemologische Überzeugungen im Rahmen von Schulfächern behandelt werden, so geschieht dies nicht nur unter einem instrumentellen Blickwinkel, um Lernprozesse zu befördern, sondern immer auch mit einem bildungstheoretischen Anspruch. Denn die fachbezogenen intuitiven Theorien über Wissen und Wissensgenese geben Antworten darauf, welche Fragen in einem Fachgebiet überhaupt legitimerweise gestellt werden können. Die Klärung dessen, was Fächer und Disziplinen in ihrer spezifischen Fokussierung leisten und wo ihre Grenzen liegen, gehört zum Bildungsauftrag eines jeden Schulfaches. Im pädagogischen Bereich haben epistemologische Überzeugungen also immer gleichzeitig instrumentelle und substantielle Bedeutung."32 Baumerts Aussagen passen nach unserer Auffassung genau zu dem von uns entworfenen Programm. Die epistemologischen Überzeugungen sind im Bereich der Religionspädagogik genau die weltbildlichen Voraussetzungen, die die Schülerinnen und Schüler als Vorverständnis an die biblischen Texte herantragen. Sie bilden aber auch das Ensemble der Regeln, die diese zur Deutung neuer Texte oder unbekannter Fragestellungen heranziehen. Deren Kenntnis sollte für Religionspädagoginnen und -pädagogen und deren Aus- und Weiterbildung eine wichtige Rolle spielen. Diese überhaupt ausfindig zu machen, bleibt ein Desiderat religionspädagogischer Forschung.

 

Anmerkungen

  1. Ronald Goldman: Religious Thinking from Childhood to Adolescence, London 41968, S. 167
  2. Dazu mit kritischen Anmerkungen Friedrich Schweitzer: Die Konstruktion des Kindes in der Bibeldidaktik; in G. Lämmermann u.a. (Hg.), Bibeldidaktik in der Postmoderne FS K. Wegenast. Stuttgart u.a. 1999, S. 122-133
  3. So Klaus und Philipp Wegenast: in D. Bell u.a. (Hg.), Menschen suchen – Zugänge finden. FS Ch. Reents, Wuppertal 1999, S. 246-263
  4. Friedrich Schweitzer: Kinder und Jugendliche als Exegeten?; in: D. Bell u.a. (Hg.), Menschen suchen – Zugänge finden. FS Ch. Reents. Wuppertal 1999, S. 238-245, hier S. 241f
  5. Vgl. dazu unseren Versuch Peter Müller, Gerhard Büttner, Roman Heiligenthal / Jörg Thierfelder: Gleichnisse Jesu. Stuttgart 2002
  6. Horst Klaus Berg: Ein Wort wie Feuer. München/Stuttgart 1991
  7. Vgl. die Unterscheidung von strukturell induzierten Fehlern von Irrtümern aus Unachtsamkeit bei Titus Guldimann & Michael Zutavern, "Das passiert uns nicht noch einmal!" Schülerinnen und Schüler lernen gemeinsam den bewussten Umgang mit Fehlern, In: W. Althof (Hg.): Fehlerwelten. Vom Fehlermachen und Lernen aus Fehlern. Opladen 1999, S. 233-258
  8. Goldman a.a.O.
  9. Anton A. Bucher: Verstehen postmoderne Kinder die Bibel anders? in: G. Lämmermann u.a. (Hg.), Bibeldidaktik in der Postmoderne FS K. Wegenast. Stuttgart u.a. 1999, S. 135-147, S. 147
  10. Christine Martin: Betrachtungen zum kindlichen Bibelverständnis in der vierten Grundschulklasse – unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte vom Brennenden Dornbusch. Wiss. Hausarbeit PH Heidelberg 2002.
  11. Goldman: a.a.O., S. 254f
  12. Martin: a.a.O., S. 48f
  13. A.a.O., S. 49f
  14. A.a.O., S. 54f
  15. Grundlegend Jean Piaget: Das Weltbild des Kindes. München 41994; zur Wunderthematik Heike Bee-Schroeter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption. Stuttgart 1998
  16. Gerhard Büttner/Oliver Reis: Wie werden Kinder zu (biblischen) Theologen oder wie entsteht ein kohärentes Bibelwissen? RpB 47/2001, S. 43-54
  17. Karl Ernst Nipkow: Elementarisierung als Kern der Lehrplanung und Unterrichtsvorbereitung am Beispiel der Elia-Überlieferung. Bb 37 (1986), S. 3-16, hier S. 11
  18. Pascal Boyer berichtet, dass Szenen, in denen durch "übernatürliche" Abläufe ein Sachverhalt beeinflusst wird, ungleich besser behalten werden als "normale". Religion explained. The Evolutionary Origins of Religious Thought. New York 2001, S. 80
  19. Zu diesem Phänomen ausführlicher Gerhard Büttner: Jesus hilft! Untersuchungen zu Christologie der Schülerinnen und Schüler. Stuttgart 2002
  20. Vgl. Gerhard Theißen: Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 1973, S. 111ff
  21. Vgl. Werner H. Schmidt: Einführung in das Alte Testament, Berlin 5. erw. Auflage 40ff
  22. Ebd., S. 53
  23. Vgl. Fritz Rienecker: Das Evangelium nach Matthäus. Wuppertaler Studienbibel. Wuppertal ²1981, S. 218
  24. Joachim Gnilka: Das Evangelium nach Matthäus 2. Teil Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Freiburg 1988, S. 255
  25. Vgl. Anna Friederike Schmitt: Wie Kinder mit "widersprüchlichen" Texten in der Bibel umgehen. Empirische Untersuchungen zum kindlichen Bibelgebrauch. Wiss. Hausarbeit PH Heidelberg SoSe 02
  26. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. 2. Teilband Mt 8-17, Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1990, S. 442. Adolf Schlatter sah in der Dublette eine besondere Glaubensstärkung: "Die Jünger denken , das lasse sich nicht ändern, und fügen sich in den Zwang, den ihr natürliches Unvermögen ihnen auferlegt. Darum hat sie Jesus noch einmal erleben lassen, dass er auch in seiner Verborgenheit auf der Flucht vor den Menschen für alle, die ihn suchen, zu jeder Gabe mächtig bleibt." Adolf Schlatter: Das Evangelium des Matthäus ausgelegt für Bibelleser, Calw & Stuttgart1895, S. 262
  27. Dieses Phänomen findet sich bereits in den analogen alttestamentlichen Geschichten zur Gabe von Wachteln und Manna. Vgl. P. Maiberger: Das Manna. Eine literarische, etymologische und naturkundliche Untersuchung. (ÄAT 6). Wiesbaden 1983. [Freundl. Hinweis von Thomas Pola]
  28. Vgl. Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Zürcher Bibelkommentar, Zürich, 1993, S. 18f
  29. Vgl. Gerhard Büttner: Jesus hilft! Untersuchungen zur Christologie von Schülerinnen und Schülern, Stuttgart 2002. Gerhard Büttner/Jörg Thierfelder: Trug Jesus Sandalen? Göttingen 2001
  30. Gerd Theißen: a.a.O, S. 42f.
  31. Jürgen Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: N. Kilius u.a. (Hg.), Die Zukunft der Bildung. (es 2289). Frankfurt/Main 2002, S. 100-150, hier S. 140
  32. A.a.O., S. 131

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2005

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