Säen, ernten, danken - feiern! - Religionspädagogische Überlegungen zum Erntedankfest und zur Festkultur im Religionsunterricht

von Silke Leonard 

 

Vor-Satz

Die folgende Besinnung auf ein christliches Fest bewegt sich im Kontext religionspädagogischer Erwägungen zu Symbol, Ritual und Fest und weiß sich dabei insbesondere dem liturgischen Lernen verbunden. Sie findet ihren Ausgangspunkt in einem Erntedankfest, welches ich zusammen mit SchülerInnen einer ländlichen Orientierungsstufe gestaltet und gefeiert habe. In der mehrperspektivischen Anschauung dieses Urerlebnisses hat sich mit fortschreitender Zeit eine Gestalt ausgebildet, welche dem Wahrnehmen und Symbolisieren von Religion kommunikativ Rechnung tragen möchte.

 

1. Ein Erntedankfest in der Klassenstufe 5/6  ...

An diesem Morgen Ende September trägt die Aula der Orientierungsstufe, die sonst als Pausenhalle genutzt wird, herbstlichen Schmuck. Die lange, rechte Seitenwand und der hintere Treppenaufgang sind festlich mit Herbststräuchern verziert. Die linke Fensterseite lässt das Tageslicht langsam einströmen. Zur vorderen Bühne gewandt stehen etliche Stuhlreihen hintereinander, von einem Mittelgang durchbrochen. In dessen hinterer Mitte ist ein Tageslichtprojektor mit dem Scheinwerfer zur Bühne installiert. Auf der erhöhten hölzernen Guckkastenbühne ist der Vorhang aufgezogen: Schräg rechts sind zwei Congas, davor zwei Stühle und ein Gitarrenkoffer zu sehen. Rechts vor der Bühne hat der Hausmeister gerade das Lesepult zurechtgerückt und die Mikrofone angeschaltet. Links der Bühnenöffnung hängt in Augenhöhe, zu den Stuhlreihen gerichtet, ein helles, von einem Schüler gezimmertes Holzkreuz. Unten vor der Bühne, als Blickfang der Aula, steht ein weiß gedeckter Tisch. Auf ihm befinden sich zwei Körbe mit verschiedenen Früchten und eine Schale mit Getreide. Eine große und etliche kleine Kerzen werden von Blättern und Zweigen umrahmt. Dem Altar zu Füßen stehen fünf leere Körbe.

Der Tag bricht langsam an. Die Klassen kommen vor der ersten Stunde nach und nach in die geschmückte Aula. Immer wieder bewegen sich einzelne nach vorn und legen ihr mitgebrachtes Brot, in Scheiben oder Stücke zerteilt, in die Körbe, bis diese überquellen. Einige lecken sich mit der Zunge über die Lippen. Die Fünftklässler, die mit der Religionslehrerin das Erntedankfest vorbereitet haben, sind aufgeregt. Hinter der Bühne und davor vergewissern sie sich, dass alles vorbereitet ist. Als endlich alle einigermaßen ruhig sitzen, kann das Fest beginnen.

Maik geht, noch ein wenig unsicher, zum Lesepult und sagt das erste Lied an: Laudato si. Die Musik des Festes wird von Sebastian, dem begeisterten Schlagzeuger aus der 6. Klasse, auf den Congas, von der Religionslehrerin auf dem elektronischen Klavier und einer weiteren Lehrerin auf der Gitarre begleitet. Die Jugendlichen singen laut mit, besonders beim Refrain, denn das ist ihr Lieblingslied aus dem Religionsunterricht.

In der Begrüßung spricht die Religionslehrerin vom Lesepult aus die Situation der hiesigen Landwirte an. Viele Bauern sind nicht sehr zufrieden mit der diesjährigen Ernte; das bedeutet zwar noch keinen wirklichen Hunger, aber einen elementaren Verlust an Lebensqualität. Die Erträge stehen in keinem guten Verhältnis zu der anstrengenden Arbeit. Die Lehrerin verfolgt erzählend den Weg des Korns zum Brot und nimmt dabei das Stichwort Tägliches Brot auf. Kaum sind diese Worte laut geworden, entfalten sie ihre Signalwirkung: Das Brot am Altar zieht hungrige Blicke aus der Schulgemeinde auf sich. Unter den SchülerInnen macht sich eine gierige Stimmung bemerkbar, Hunger und Neugier, Warten aufs Brot. Die Körper schreien. Die Liturgin entfaltet die Dimensionen des Täglichen Brotes: Nahrungsmittel, handfeste Güter und Waren zum Leben, Wärme, Nähe, Freundschaft, Gemeinschaft. Einige aus der Brot-AG, mit denen sie jede Woche gemeinsam Brot backt, nicken wissend, denn sie haben sich dort schon mit der Brotsymbolik beschäftigt. Die Begrüßung schließt mit dem Motto des Erntedankfestes: Miteinander teilen.

Nun baut der Hausmeister eine große Leinwand direkt vor dem Altar auf und schaltet den Tageslichtprojektor ein. Ein leises Raunen geht durch die Schülerschar. Auf der Leinwand erscheint die Projektion des von der Schülerin Nadja erschaffenen Kulissengemäldes, einer in Gelbtönen gehaltenen, heiß und unfruchtbar anmutenden Wüstenlandschaft. Als einzige Pflanzen sind hier und da ein paar Kakteen zu erblicken. Inmitten der Wüste thront ein überdimensionales Transistorradio. Durch die Beschallungsanlage ertönt jetzt die Morgensendung "Live aus Jerusalem". Eine freundliche Frauenstimme begrüßt die Hörerinnen und Hörer und kündigt ein Interview mit einer Augenzeugin über die Speisung von Tausenden an.

Den SchülerInnen bleiben die Radiosprecherinnen während der Sendung hinter dem Vorhang verborgen; sie schmunzeln und rätseln zunächst, wer sich wohl hinter den Stimmen verbirgt. Nach kurzer Zeit sind sie erkannt: Es handelt sich um die Religionslehrerin und ihre Kollegin. Jetzt können sich alle auf den Inhalt der Sendung konzentrieren. Die Schulgemeinde hört gespannt und etwas verwundert zu.

Die Moderatorin der Morgensendung, Rebekka BenChur, interviewt Sara BenGurion, die Augenzeugin der wundersamen Brotvermehrung, und befragt sie nach deren Erfahrungen in der Menge, die den Worten Jesu gelauscht hat. Die Befragte schildert sogleich plastisch und noch von den Ereignissen hörbar erregt, was sich am Vortag in der Nähe von Betsaida zugetragen habe. Obwohl es in den umhergereichten Körben nur wenige Nahrungsmittel gegeben habe, seien alle Zuhörer am Abend nach einem langen Tag dieses Live-Auftritts Jesu satt geworden. Sie habe erfahren, dass jedes Mahl, so spärlich es auch sein mag, in Gemeinschaft viel besser schmecke als allein. Die Moderatorin animiert die HörerInnen, entgegen aller Vereinzelung und Vereinsamung mal wieder Nachbarn und Freunde einzuladen und jetzt erst einmal gemeinsam das Lied zu singen: Teile das Brot, das du hast, heute aus. Die Schulgemeinde stimmt kräftig ein.

Es folgt ein Theaterstück, das vom Teilen handelt. Zwei Schüler, Sascha und André, erscheinen auf der Bühne. Sascha trifft André und präsentiert stolz seine neuen Süßigkeiten. André fragt, ob er auch etwas davon bekommen kann. Doch Sascha gibt ihm nichts ab. Am nächsten Tag hat Sascha eine neue CD. Als André sie von ihm ausleihen möchte, schüttelt Sascha den Kopf und behält sie allein für sich. Schließlich holt André ein neues Spiel in der Hand und lädt die auftretenden Freunde zum gemeinsamen Spielen ein. Als Sascha darum bittet, ebenfalls mitspielen zu dürfen, kontert André zunächst: "Du wolltest mit mir auch nicht teilen!" Nach einem Moment des Nachdenkens entschließt er sich, ihn doch mitspielen zu lassen und sagt versöhnlich: "Lasst uns doch alle zusammen spielen!" So geschieht es denn auch.

Nach dem spontanen Beifall der SchülerInnen wird es zum anschließenden Gebet noch einmal stiller. Einige haben sichtlich Schwierigkeiten, sich ruhig zu verhalten. Fehmke, eine selbstbewusste Schülerin, fasst den Dank für die erhaltenen Gaben in Worte, beklagt den menschlichen Umgang mit dem Zuviel und bittet für Hungrige. Mit der Bitte: "Vater, schenk uns Freude am Teilen! Amen." schließt das Gebet. Zum ersten Mal wird Gott hier mit dem Namen "Vater" und "unser Gott" persönlich angesprochen. Die Religionslehrerin knüpft die Bitte um den Segen für das eigene und fremde Leben und den Segen über das Brot an, das danach alle miteinander teilen wollen.

Für die Austeilung gehen fünf SchülerInnen mit den Körben durch den Festsaal, so dass in jeder Reihe der Korb an die Nächsten weitergereicht werden kann. Es scheint den meisten SchülerInnen zu schmecken, sie kauen zufrieden ihr Brot. Aber noch melden sich SchülerInnen in verschiedenen Ecken des Raumes, die bisher nichts abbekommen haben. Bei einigen ist der eigene Hunger größer als alles Bemühen ums Teilen; sie stürzen sich aggressiv auf das Brot, nehmen sich mehrere Stücke und reißen ihrem Nachbarn gierig das Brot aus der Hand. Fordernder Kampf ums eigene Teil hier, dankbar kauende Stille dort.

Schließlich ist das gesamte Brot verteilt. Das Fest wird mit den letzten Laudato-si-Strophen, der Entlassung in den Unterricht und guten Wünschen für die kommenden Herbstferien beschlossen. Die Genießer unter den SchülerInnen kauen noch immer und nehmen den Rest ihres Brotes mit nach draußen. Die Fünftklässler scharen sich mit anderen SchülerInnen vorn zusammen und erzählen spontan, dass ihnen das Fest Spaß gemacht hat. Besonders "das Essen" fanden sie eindrucksvoll, selbst wenn allgemeine Entrüstung darüber herrscht, dass einige das Teilen noch immer nicht kapiert haben. Auch die Lehrerin erzählt, dass ihr das Fest Freude bereitet hat und bedankt sich bei den SchülerInnen für ihr engagiertes Mitwirken.

 

2. ... lädt zum Rück-Blick ein:

Mit den SchülerInnen haben wir ein Erntedankfest gestaltet, das allgemein Zustimmung gefunden hat. Die Festveranstalter sind dabei handelnd in engagierte Aktion getreten und haben auf diese Weise die Festteilnehmer mit in das Feiern hineingenommen. Es hat sich ja nicht um ein typisches Schulfest gehandelt, sondern hier wurde ein Erntedankfest gefeiert, eines der christlichen Feste, welche längst zu den Ruinen unserer Religion gehören. Die Brocken dieser Ruine sind von den SchülerInnen als Baustelle genutzt und begehbar gemacht worden. Wie konnte das gehen? Es gilt, zunächst einige Beobachtungen festzuhalten.

Da ist zunächst einmal die Form des Festes: ein Gottesdienst. Meistens finden Gottesdienste in Kirchen statt, an Orten, zu denen gegenwärtige Heranwachsende überhaupt erst eine Beziehung aufbauen müssen. Diese Aula und ihre Verwandlungsfähigkeit ist den SchülerInnen dagegen wohlbekannt - vorrangig in der Nutzung als Freizeitaufenthalt inmitten der schulischen Arbeit, aber mit dem Setting der Stuhlreihen ebenso als Ort der Feierlichkeit z.B. bei der Einschulung. Die Bühne wird bei solchen festlichen Anlässe auch oft als Theaterraum genutzt. Hier spielte beides eine Rolle: Das Setting der Stuhlanordnung signalisierte die Feierlichkeit des Festes, die Öffnung und Nutzung der Bühne gab den Raum für Inszenierungen frei. Ob und wenn ja, woran die SchülerInnen wohl gemerkt haben, dass es sich um einen Gottesdienst gehandelt hat?

Die Ordnung des Festgottesdienstes richtete sich nicht streng nach einer kirchlichen Agende, orientierte sich jedoch in seinem Vollzug daran; die Ausrichtung auf die Schulgemeinde brachte die Aktualisierung bewährter Formen mit sich. Die Festgemeinde bestand nahezu vollständig aus Jugendlichen. Für deren Anliegen und Sich-Einbringen war zu sorgen. So begann das Fest nicht nur für die Liturgiegruppe mit den Überlegungen und dem Erproben der Festkonkretionen, sondern für alle bereits mit der häuslichen Vorbereitung: Zum Erntedankfest brachten die SchülerInnen Brot von zu Hause mit. Auch wenn vermutlich der eine Schüler oder die andere Schülerin das Mitbringsel vor Hunger bereits auf dem Weg selbst verzehrt hatte, so überfüllten die angekommenen Gaben der Feiernden doch die Körbe.

Die Liturgin stellte ihre Begrüßung unter das Motto Miteinander teilen - und vollzog dieses expositorisch durch ihre Mit-Teilungen, im Bemühen, das Fest für Gemeinschaftserfahrungen zu öffnen. Fortan hielten die SchülerInnen durch ihre kreativen, musischen und organisatorischen Talente und Fähigkeiten den Prozess des Feierns in Gang. Die Form der Predigt war ebenfalls auf sie abgestimmt. Mit der Inszenierung einer biblischen Wundergeschichte zu einer Radiosendung wurde auf eine neue Weise das Staunen und Wundern bewirkt, dass durch Teilen alle satt werden können. Den zweiten Teil der Predigt, welcher durch die gesungene Ermunterung zum Teilen angeknüpft war, gestalteten die SchülerInnen in einem selbst entworfenen szenischen Spiel aus ihrer Alltagswirklichkeit. Auf eine recht simple, aber plausible Weise spielten sie vor, wie das egoistische Beharren auf Besitz durch die Bereitschaft zum Teilen in erfüllte Gemeinschaft verwandelt wird und das Prinzip des wechselseitigen Gebens und Nehmens die menschliche Ordnung aufrechterhält. Mit ihrer Facette des Haben-oder-Sein-Konflikts brachten sie zugleich die biblische Botschaft und sich selbst auf die Bühne. Hier war insbesondere der Ort für ihre Angelegenheiten; deswegen waren auch die Festbesucher beeindruckt. Im Klassenzimmer hätte solch eine Szene müdes Interesse gefunden. Hier aber, im Rahmen des festlichen Gottesdienstes, trug eine andere Kraft zu der Wirkung bei. Darin eingeschlossen war ebenso das Singen, was in dieser Gemeinschaft kräftig betrieben werden konnte. Am meisten verblüffte die SchülerInnen jedoch das gemeinsamen Essen eines "Morgenmahls". Mit welcher Bereitschaft, ja Neu-Gier haben sie sich das Feiern gefallen lassen und mitgefeiert! Sie haben in der Schule ein gottesdienstliches liturgisches Mahl gefeiert, sich auf das Symbol Brot und Speiserituale eingelassen und waren bereit, damit Erfahrungen zu machen.

 

3. Vom Ernte - Dank - Fest ...

3.1. Reminiszenzen einer landwirtschaftlich verwurzelten Religionslehrerin

Wenn ich über das Erntedankfest nachdenke, treten auch meine persönlichen Wurzeln ans Tageslicht. Erinnerungen an die eigene Jugend lassen das damalige Erntedankfest wieder lebendig werden.

Wenn der blühende Sommer längst vergangen, wenn das Korn eingefahren und verarbeitet ist, wenn der goldene September sich bis zum nächsten Jahr verabschiedet hat, kommt der Oktober mit dem fallenden Herbstlaub. Dem Festcharakter des Erntedanksonntages gelang es in unserem kleinen Dorf im Leinebergland nur schwer, die Schwellen der Kirchentür zu überschreiten und in die Häuser der soeben noch die Kirchen besuchenden Menschen zu gelangen. Auch bei uns war dieses Fest nach dem Kirchgang an der Haustür zu Ende. Warum nur? Weihnachten und Ostern wurden doch auch seit jeher in unserer Familie weitergefeiert!

Für das Erntedankfest war das so nicht möglich, und das hatte einen wirtschaftlich-existentiellen Grund. Mein Vater hätte es sich bestimmt niemals nehmen lassen, am ersten Oktobersonntag morgens zum Gottesdienst aufzubrechen. Und es war sogar eines der wenigen Male im Jahr, an denen er am Abendmahl teilnahm. Wenn jedoch die Ernte in manchen Jahren nicht genügend ertragreich ausgefallen war, schimpfte er hinterher über Predigten, die ausschließlich den Hunger ferner Menschen und Völker thematisierten. Unser Hof war nicht sehr groß, und die ökonomischen Gewinne der Landwirtschaft wurden mit zunehmenden Quotenregelungen der Produkte immer mehr zu Ungunsten der kleinen Betriebe umgeschichtet. Dies betraf die Höfe, welche Milchwirtschaft betrieben, in besonderem Maße. Je weiter die Rationalisierung der Landwirtschaft fortschritt, um so mehr musste auf unserem Hof die Bewirtschaftung eingeschränkt werden. Zwar wurde die körperliche Arbeit mit zunehmender Technisierung der Landwirtschaft erleichtert. Andererseits wurde die Unterstützung des Wachstums durch Düngung und Schädlingsbekämpfung ökologisch zunehmend fragwürdiger und immer teurer. Die Preise für veredelte Produkte wie Brot und Wurst stiegen ständig, doch mein Vater bekam für einen Zentner Weizen nach zehn Jahren nur noch knapp die Hälfte. Wofür sollten wir dankbar sein?

Es gab trotzdem ein privates, familieneigenes Erntedankfestritual, das zu diesem Zeitpunkt bereits stattgefunden hatte. Wenn Ende August der letzte Weizen gedroschen, die letzten Fuder Korn abtransportiert, das letzte Stroh eingefahren war, lockte das Ernteessen. Zum festlichen Abschluss getaner Sommerarbeit war es uns allen gegönnt, dieses eine Mal im Jahr essen zu gehen. Niemand musste kochen, das Mahl vor- oder nachbereiten; einmal durften wir alle ausschließlich genießen. Bezeichnenderweise nahmen wir ein ausländisches Essen zu uns; meistens landeten wir im Chinarestaurant. Wurde sonst sehr darauf geachtet, die Produkte der eigenen Region zu verzehren, so lockte hier das Neue, der andere Geschmack. Vertrautes kam mit Fremdem auf eine sinnlich reizvolle Art zusammen. Wir nahmen die Ernte der fernöstlichen Welt zu uns. Meine Vater erzählte manchmal beim Ernteessen, wie es auf dem Feld zugegangen war und wie er die Ernte als Kind erlebt hatte. Ich sah diese Kindheit meines Vaters lebendig vor Augen. In der Erinnerung kam eine ganz eigenartige Dankbarkeit in mir hoch: Ich stellte mir vor, dass die körperliche Arbeit früher noch viel schwerer, die Leiber der gealterten Bauern abgearbeitet und müde gewesen waren. Im Vergleich dazu hatten wir gegenwärtig viele Erleichterungen.

Das Ernteessen war ein Schwellenritual der familiären Gemeinschaft: Die wichtigste Arbeit war getan, die Sorge um das Wetter war vorbei, auch wenn wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz genau wussten, ob die Erträge diesmal ergiebig oder viel zu knapp ausgefallen waren, wie gut oder schlecht wir davon leben konnten. Ich atmete regelmäßig erleichtert auf, denn endlich durften bei Tisch auch mal wieder andere als landwirtschaftliche Themen verhandelt werden, die Familie hatte wieder etwas mehr Zeit füreinander, auch wenn die Landbearbeitung weiterging. Ein Fest des jahreszeitlichen Umbruchs: anbrechender Herbst, beginnende Ruhe und Innerlichkeit. Das Wohl anderer Menschen rückte wieder unmittelbarer in den Blick. Mit diesem Ritual gerieten wir wieder stärker ins Denken und Nachsinnen: eine Tür zur Erinnerung und Hoffnung.

 

3.2. Festliches

Erfahrungen der damals und heute erlebten Feste werfen Fragen auf. Was macht ein Fest zum Fest? Was geschieht beim Feiern? Warum und wozu feiern wir eigentlich?

Ein Fest unterbricht den Alltag und gewährt Ruhe - es findet an einem besonderen Ort und zu einer besonderen Zeit statt. Als "Moratorium des Alltags" gewährt es den täglichen Lasten Aufschub - für die SchülerInnen das tägliche, vielleicht zuweilen etwas trocken schmeckende Brot des Fachunterrichts im gewohnten Klassenraum- und schenkt dem Leben für die Zeit des Feierns ein glänzendes Gesicht. Weil ein Ereignis ansteht, das wir feierlich und freudig begehen wollen, scheint der Alltag in der Zeit des Feierns "suspendiert" zu sein. Damit dies so geschehen kann, besteht jedes Fest aus spezifischen Riten, welche das Fest strukturieren und die gemeinsamen Erfahrungen, Empfindungen und Hoffnungen derjenigen, die feiern, in Gebrauch nehmen.

Die meisten Feste, die wir aktiv begehen, bilden die gefeierte Neuauflage alter Traditionen von Festanlässen und Festen und fördern deshalb die Geschichte des Festes mit den dazugehörigen Erfahrungen in verdichteter Form zutage. Das bedeutet: Wer feiert, lässt sich ein auf Retrospektiven. Diese müssen nicht unbedingt die eigene Biographie betreffen; beim Feiern wird das Erinnern zur Gegenwart vergangener Erfahrungen. Die Feiernden lassen sich auf dem Fest von Erinnerungen berühren, die durch die Festgestaltung zu neuen Erfahrungen werden können.

Es gibt Rituale der Vorbereitung auf das Fest. Sie verändern unsere Innen- und Außenwelt, spürbar an Personen und Räumen: Wir empfinden Vorfreude und Lust, uns hübsch und festlich zu kleiden, planen den Verlauf des Festes und organisieren eine Festordnung. Wir schmücken den Festraum farbig, jahreszeitlich, symbolisch, konkret, natürlich, persönlich: der Form des Festes angemessen, zum schulischen Erntedankfest mit herbstlichen Farben und Sträuchern.

Ein Fest beansprucht mich als ganze Person: Ich bin mit meinem Körper da, bewege mich, nehme mich und die festliche Außenwelt mit allen Sinnen hörend, sehend, schmeckend, mit meinen Sinnen wahr. Ich bin als handelnde Person involviert, beteilige mich an Ritualen wie dem Essen. Das Feiern der Feste wird leiblich vollzogen.

Mit meiner Umwelt, welche in diesem Fall die Festgemeinde ist, trete ich durch verschiedene Interaktionsformen in Kontakt: in Gesprächen, beim Singen, beim Essen, beim Tanzen lerne ich den anderen kennen oder erlebe ihn neu. Denn ein Fest lässt sich schwerlich allein feiern: vielmehr ist es eine gestaltete Weise der Begegnung. Auch wenn ein einzelner Gastgeber, der Zeremonienmeister, ein Fest plant und dazu einlädt, so tragen doch alle Gäste bewusst und unbewusst durch ihre Gesten, Gespräche, ihr Verhalten zur Gestaltung und damit auch zum Gelingen des Festes bei. Viele der Festhandlungen geschehen spielerisch: Jeder Feiernde zeigt sein individuelles Gesicht, schlüpft in diese oder jene, oftmals vertraute Rolle inmitten der Festgemeinschaft und wirkt in diesem Gewand auf die Reaktionen und das Entgegenkommen der anderen ein. Manchmal wird ihm eine Rolle zugewiesen, die ihm behagt oder missfällt, in der er begeistert aufgeht oder von der er sich so weit als möglich distanziert. Im Fest erfährt die Gemeinschaft eine rituelle Stärkung.

 

3.3. Vom christlich-religiösen Fest

Die Beschreibung eines Festes könnte bis hierhin für alle Arten von Festen zutreffen. Worin liegt die Religiosität mancher Feste? Was macht Feste wie das Erntedankfest zu christlichen Festen?

Transzendierung des Alltags
Keine Frage: Das christlich-religiöse hat wie das "refugiale" Fest eine besondere Beziehung zum Alltag. Der Alltag und seine durchaus auch religiöse Lebenswelt sind oft von grauer Zufälligkeit, Beschränkung und Routine geprägt. Wir sehnen uns geradezu nach dem Anderen. Das Fest zur Ehre Gottes aber blüht in farbiger Fülle, Gefühlswogen schlagen aus und werden von der Festordnung in Ergriffenheit oder Besinnlichkeit eingependelt. Was im Klischee wie ein Moratorium erscheint, ist in Wirklichkeit eine sinnliche Übersteigung, denn das christliche Fest ist wie Religion nicht ohne den Alltag zu haben.

Der Alltag in seiner bunten, zuweilen zusammenhanglosen Vielfalt ist eine Wirklichkeitsebene des Festes, die vom Fest selbst überboten wird. Das Außenleben wird in das Innenleben mit hineingenommen, um von dem Besonderen, Nicht-Alltäglichen aufgefangen und verwandelt (verarbeitet) zu werden. Der Wechsel vom Alltag in den nicht-alltäglichen Wirklichkeitsbereich lässt sich als Grenzüberschreitung verstehen, welche der Zusammenhanglosigkeit des Alltags eine Richtung, einen Sinn und eine Perspektive gibt. Verkrustete Verhaltensweisen und Strukturen werden durch die Wahrnehmung der gegenwärtigen Wirklichkeit im Fest aufgeweicht. Das kommunikative Miteinander und seine in ihm ausgeprägten alltäglichen Praxisformen einschließlich deren Bedingungen werden hier - anders als beim refugialen Fest- nicht ausgespart, sondern im Gegenteil unter die Verheißung sinnvollen Lebens gestellt und von daher reformuliert und stabilisiert.

So können lebensweltliche Gegensätze wie Ordnung und Unordnung, Annäherung und Zurückweisung, Erfolg und Niederlage in der Fest-Inszenierung unter der Perspektive aufgenommen werden, die gespaltenen Wirklichkeiten zusammenzuführen. Für den Festvollzug des christlichen Festes besteht daher die Notwendigkeit, die Alltagsdramatik so zuzuspitzen, dass eine sinnfällige Überbietung herausgefordert wird. So erlebt, kann das Fest auch als Erfahrung in den Alltag hineinwirken und seine Spuren der Festlichkeit nach sich ziehen.

Ritualität
Das religiöse Fest hat rituellen Charakter. Was bedeutet das? Das Leben hält unzählige Spannungspole in sich bereit, die wir als paradox erfahren: Jugend und Alter, Niederlage und Erfolg, Hunger und Übersättigung, Armut und Reichtum, Einsamkeit und Gemeinschaft sind nur einige Beispiele. Diese Widersprüchlichkeit gipfelt im Widerstreit von Tod und Leben.

Ein Ritual hat die Kraft, den Einzelnen und die Gemeinschaft zu stabilisieren, um Spannungen des Lebens auszuloten und Gegensätzlichkeiten zu bewältigen. Dabei setzen und vertrauen diejenigen, welche das Ritual vollziehen, auf etwas, das außerhalb der eigenen Macht steht. Diese eigentlich "paradoxe Handlungsstruktur" nimmt das Leben mit dem Tod in deren gespaltener Wirklichkeit auf und bindet sie in ein Ganzes anderer Ordnung ein. Wie kann das geschehen?

Alle, selbst die paradoxesten Seiten des Seins, Zeiten und Orte des Lebens und Erlebens haben Übergänge, Türen zueinander. Wo eine Tür ist, ist auch eine Schwelle. Das Ritual hat die Aufgabe, diese Schwellen begehbar zu machen und Begegnung mit dem zu ermöglichen, was entgegenkommt. Das kann nur im Vollzug geschehen: Wer von einem Ort zum anderen will, der bewegt sich leibhaftig dorthin, und zwar über die Schwelle. Wer Hunger hat, der ißt und wird damit satt. Das religiöse Fest vollzieht mit dem Begehen des Rituals für jeden individuell, gemeinschaftlich geleitet und zugleich in kreativer Ausgestaltung die Schwelle zwischen Leben und Tod, Mensch und Gott und stellt einen Weg dar, Gott im Kult zu begegnen.

Ein christliches Fest setzt auf die Verheißung, dass sich Gott im Vollzug der Rituale finden lässt. Die Gestalt, in der Gott begegnet, ist Christus. Er lässt sich im Fließgeschehen des Festes, in der Teilhabe an den kultischen Ritualen wahrnehmen: Der Gottesdienst bietet als szenisch-dramatisches Geschehen einen auf Christus hin entworfenen, liturgisch begehbaren Weg der Annäherung an das Heilige. Die Liturgen, charismatische "Liberos", werden zu Grenzgängern zwischen den Welten, welche den Weg in den (Altar-)Raum der göttlichen Gegenwart rituell vorbereiten und vorangehen. Die Festgemeinde vollzieht das Angedeutete prozesshaft eigenständig nach, indem sie Gaben zum Altar trägt oder für die sakramentalen Handlungen sich selbst in räumlicher Bewegung vor Gott bringt. Danken, Loben, Bitten, Singen sind ernstgemeinte rituelle Antworten auf die Einladung und Herausforderung der göttlichen Macht und begehbare Wege auf den Schwellen zwischen Leben und Tod, Eigenem und Anderem.

Wirklichkeit und Möglichkeit
Das Ritual muss an die Wirklichkeit gebunden bleiben, sonst läuft es hohl. Denn die Lebenswirklichkeit findet im Fest Einzug, weil sie den Horizont des Möglichen aufzeigen will. Im biblischen Sinn ist ein Fest, wie es der Vater dem wiedergefundenen Sohn zuliebe stiftet, eine Einladung zur Überlistung von Moral und Funktionalität. Die karge Ernte lädt zum Feiern ein, weil sie im Fest die Perspektive reichen Ertrags schenkt. Wunsch, Sehnsucht und die Notwendigkeit zur stärkenden Verwandlung der Wirklichkeit können bei dem Gastgeber und bei den Feiernden Kreativität und schöpferisches Handeln bewirken.

Die bahnbrechende Verknüpfung von Realität und Potentialität geschieht im Ritual durch das Spiel. Das Fest ist per se kein Spiel, aber es hat Elemente des Spiels: Mit dem Fest wird ein "intermediärer Erfahrungsraum" eröffnet, der sich aus den frühesten Erfahrungen des Kinderspiels herleiten und unterschiedliche Aspekte der Realität je neu konvergieren lässt. In diesen Erfahrungsraum eingetreten, kommt der Wirklichkeit der Feiernden die Macht des Heiligen entgegen und konfrontiert sie mit der Möglichkeit des Seins. Das Festritual verknüpft damit in sich Realität und Potentialität durch spielerische Elemente und durchbricht dabei die Grenze von Gewohntem zu Neuem. Indem die Feiernden sich in die Rituale einklinken und sich dabei auf die Potentialität des Augenblicks konzentrieren, die Innen und Außen, Individuum und Gemeinschaft, Vergangenheit und Zukunft, Handeln und Bewusstsein ineinander verschmilzt, wird in der spielerischen Christusinszenierung ein Fluss-Erleben der Christusvergegenwärtigung als lebendige Schwellenbegegnung möglich.

Die Festteilnehmer vollziehen den Übergang vom Unmöglichen zum Möglichen mit. Diese Form des Spiels ist unbedingter und dramatischer Ernst. Denn nimmt man die christliche Religion beim Wort, ist das Feiern eines Festes an Symbole der Wandlung gebunden, in denen sich der gekreuzigte und auferstandene Christus inmitten der alltäglichen und nicht-alltäglichen Wirklichkeit fürwahr nehmen lässt. Die Feiernden können sich darauf einstellen, dass christliche Symbole die Wirklichkeitserfahrungen dem Möglichkeitserleben zuführen. Das religiöse Fest ist eine Verdichtung von Tod und Leben; in der Festinszenierung enthüllt sich dessen Spiel mit der Wirklichkeit als Ernst der Möglichkeit.

Zeit und Ewigkeit
Der Mensch lebt nicht nur in der Zeitordnung seiner Alltags-Lebenswelt, sondern ebenso in "anderen" Zeiten. Das Fest ist das Medium anthropologischer, kultureller und religionsgeschichtlicher Erinnerung an das eigene heilige Ursprungsgeschehen zu einer Ursprungszeit, einer mythischen Zeit, die an heilige Orte gebunden ist; der Mensch ist in ein fruchtbares Paradies hineingesetzt, dem er die Früchte der Sättigung nur zu entnehmen braucht (Gen 2). In der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies ahmt das Kultritual das Ursprungsgeschehen erinnernd nach. Damit bindet die Festzeit die Alltagszeit an die Urzeit zurück; sie existiert nur in der festlichen Begehung, in welcher sie inszeniert und damit präsentisch eingeholt wird. Die Erinnerung an schöpferische Urzeit dient der Ursprungsvergewisserung und wird von der Hoffnung genährt, Zerrüttetes möge geheilt, Zerfallenes möge wieder zu Ganzem zueinandergefügt werden. Der Begegnung der vergangenen und kommenden Zeiten entspricht die sehnsüchtige und schmerzhafte Begegnung von Gott und Mensch, welche in Christus personal und im christlichen Fest prozesshaft erfüllte Gestalt findet. So feiern wir im Fest präsentisch die Mitte der Zeit - den Anbruch der Heilszeit aus der Verheißung, dass Christus da, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, mitten unter den Menschen ist. Diese Heilshoffnung hält die Geschichte des christlichen Festes am Leben. Solches gilt auch zyklisch: Ein religiöses Fest weiß sich eingebunden in die Zeitstruktur der Ewigkeit. Die christlichen Feste markieren jährlich wiederkehrende Verortungen im Kirchenjahr und verhalten sich gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis zur zyklischen Natur und zum Schöpfungskreislauf. In der Wiederholung von Festen der Erneuerung ist die Erfahrung gespeichert, dass die Geschichte

in der Ewigkeit aufgehoben ist. Die Festzeit fließt von der mythischen Urzeit zur kommenden Heilszeit und eröffnet den Feiernden in der angebrochenen Christuszeit durch die Balance von Regression und Progression einen Weg von der Retrospektive zur Perspektive gewinnbringenden Lebens aus dem Ursprung.

Das religiöse, und allzumal das christliche Fest ist nichts, was Menschen allein stiften oder feiern könnten. Es lebt vielmehr von der Verheißung, dass sich die Macht Gottes in festlicher Gemeinschaft in Form von Energie (im wahrsten Sinne des Wortes: energisch!) Raum verschafft und diesen in erfüllte Zeit verwandelt. Ohne die Hoffnung auf die ganz andere Wirkmacht käme auch ein im Namen der Religion ausgewiesenes Fest maximal einer Gedächtnisfeier nahe. Die Dimension des ganz Anderen hingegen schlägt sich in Raum-, Zeit- und Weltphänomenen des christlich-religiösen Festes nieder.

Im Fest bekommt Religiosität eine kultische Gestalt. Meine Lebensfreude, die im Alltag von Symbolen aufgenommen, durch Rituale begleitet, von Erinnerungen und Hoffnungen oder dem Gebet in Grenzsituationen getragen, individuell getragen wird, beginnt im verdichteten und gleichzeitig Raum schaffenden Fest in Gemeinschaft zu blühen. Das hat etwas mit Glauben zu tun. Eine Religiosität, welche spirituelle, gar ekstatische Erfahrungen zur Ehre Gottes einschließt, findet ihre liturgische, ja leibliche Form. Miteinander singen wir Christen Lieder, sprechen Gebete in der Stille und laut, lassen uns segnen, feiern Taufe und Abendmahl. Unsere religiösen Bewegungen und Gefühle können so zum Ausdruck gelangen, Sehnsüchte gestillt und geweckt werden: In Klang, Bild und Bewegung, in Symbolen, Ritualen und Sakramenten kann Gottes Wirken sinnlich und geistvoll erahnt werden. In ritueller Begleitung kann die Durchkreuzung festgefahrener, verkrusteter (Alltags-)Strukturen und die Stabilisierung not-wendiger elementarer Lebensgüter gehalten werden.

Christlich-religiöse Feste wollen die Beziehung zwischen Mensch und Gott unter dem Vorzeichen der Verheißung lebendig erhalten. Feste sind insofern "Unterbrechungen des Lebens", indem sie die Grenzen des irdischen Lebens zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit überschreiten.

 

3.4. Erntedankfest

Am ersten Sonntag nach dem Michaelisfest begehen Christen hier und dort das Erntedankfest. Dieses Fest ist Teil einer bäuerlichen Kultur. Sein Termin richtet sich nach dem Vegetationszyklus. Das Korn ist gewachsen, gediehen und geerntet. Mit dem Erntedankfest feiern die Landwirte erleichtert, dass der Boden durch den Arbeitsprozeß Früchte getragen hat; das Werk ist getan, die Ernte eingefahren. Jetzt wird gedankt, und die Form des Dankes ist rituell geprägt. Trotz und wegen seiner Bodenhaftung und der wirtschaftlich-politischen Konnotationen hat das Fest im Laufe der Jahre sehr an Bedeutung verloren. In den Industrieländern ist das sakrale Mahl nach und nach dem konsumfixierten Rausch von Party oder Dinner gewichen. Erntedank ist -gesellschaftlich gesehen- eine Festreliquie.

Im Gottesdienst wird sie bis heute in Gebrauch genommen. Das Erntedankfest ist das einzige auf das Naturjahr bezogene Fest im kirchenjährlichen Festkalender und wird dort im ausklingenden Kirchenjahr verortet. Der Erntedankgottesdienst findet üblicherweise in den Kirchen statt und gewährt der Ernte an diesem Sonntag für die Gemeinde dort einen symbolischen Einzug. Dem Fest liegt eine biblische Festlegende zugrunde; das Gleichnis vom reichen Kornbauern (Lk 12,13-21), welches auch agendarisch das Evangelium für den Erntedanksonntag ist, warnt vor der oberflächlichen Beruhigung der Seele durch materielle Begüterung und ermutigt zum wahren tiefergründigen Leben im Reichtum des kommunikativen Miteinander von Gott und den Menschen. Zum Erntedankfest ist der Altar so bunt und gehaltvoll geschmückt wie nie sonst, voller Früchte, Gemüse oder Brot. Die Gaben am Altar rekonstruieren Ernte liturgisch-ästhetisch, nicht als Stilleben, sondern in ethisch-ästhetischer Herausforderung: Was dem Geber der Gaben zurückgebracht ist, wird im Anschluss an den Gottesdienst zur Hilfe an andere verschenkt.

Die Festlegende bildet in theologischer Hinsicht die konkret spürbare Spitze des kosmologischen Eisbergs. Im Licht der Schöpfung durch die Wahrheit des Mythos gesprochen, ist es Gott selbst, der das Land, den menschlichen Lebensraum, erschaffen und den Menschen zur Bewirtschaftung und Bebauung freigegeben hat. Menschliches Walten im Umgang mit Acker und Erde ist ambivalent, denn wir widersetzen uns arrogant dem elterlichen Schöpfungsauftrag (Gen 1,28; 2,15), preisen aber dennoch in Besonnenheit die Wunder der Schöpfung (Ps 8; EG 499-515). Die göttliche Zeit gibt zyklisch den Takt der Lebensrhythmen von Jahres- und Tageszeiten, Arbeiten und Ruhen, Säen und Ernten an. Zugleich ergießt sich Gottes eschatologische Zeit des Kosmos von Ewigkeit zu Ewigkeit auch geschichtlich, um seine Lebensräume und Lebewesen evolutionär, das heißt hoffnungs- und entwicklungsfähig zu erhalten. So würde sich menschliche Leistung ebenso spiralartig hochschrauben wie verhängnishafte Schuld, Sein und Da-Sein wären fatalistisch vorbestimmt und jeglicher Lebensfunke sinnlos - wenn sich nicht Begegnung und gegenseitige Wahr-Nehmung von Gott und Mensch in Christus gestalthaft rechtfertigend ereignen würden. Der Tränensaat in menschlichem Hunger nach Frieden, Bewahrung und Gerechtigkeit (Ps 126,5.6) ist trinitarisch die wunderbare Freudenernte vom sättigenden Brot des Lebens (Lk 9, 10-17; Joh 6, 26ff.) verheißen. Göttliche Gaben bringen Heil im täglichen Brot und erfordern in ethischer Hinsicht ein Leben in kommunikativer Authentizität. Konstant verheißen bleibt dabei die heilsame Saat, dass zur wohlgefälligen Sättigung alles dessen, was da lebet (Ps 145,15-16), im Sakrament des Abendmahls zyklisch und in stets neu erlebbarer Gegenwart ein rituelles Betreten göttlichen Ackers angebahnt und die Früchte der Befreiung geerntet werden können. Die himmlische Wettervorhersage gilt in der ihr eigenen Zeit als hundertprozentig verlässlich.

Das Erntedankfest inszeniert mit seinen Ritualen die dankbare Antwort auf die göttlichen Schöpfungsgaben unter den sich in der Zeit ergebenden Vorgaben je neu. Menschliche und gesellschaftlich paradoxe Situationen von Hunger, Dürre, Armut und andererseits Übersättigung, Verschwendung und materielle Ungerechtigkeit fordern dazu auch Formen von Klage, Bitte und Ermahnung ein. Die Eingeladenen feiern in Erfüllung der Zeit und bringen die erfahrene Fülle und Leere vor Gott, an seinen heiligen Ort, zum Altar: So wird das Abendmahl als stärkendes Erntedankmahl zu sich genommen, an die Aussaat auf den Feldern des eigenen Lebensraumes gedacht, an Wachsen und Gedeihen im alten Israel und an das Laubhüttenfest im Judentum erinnert, für Gaben und Reichtum gedankt, für Menschen der Armut gebetet und Gerechtigkeit erbeten. Gerade unter dem letzten Gesichtspunkt könnte das Abendmahl das Gesicht eines Mahnma(h)ls bekommen.

 

3.5. Ein anderer Blick auf Jugend und Religion

Man könnte meinen, viele Jugendliche hätten keine Feste mehr. Denjenigen, welche in ritualarmen Überresten mancher Familien aufwachsen, mögen die Lichter des Weihnachtsfestes längst erloschen, die Geburtstagsfeier zum Kahlschlagereignis eines Besuches bei McDonald’s mutiert sein. Man könnte meinen, es gäbe keine Symbole und Rituale, die für solche Jugendliche noch Bedeutung erlangen. So und so ähnlich erklang lange das Klagelied vieler Religionspädagogen um den sogenannten "Traditionsabbruch". Für manche Stimmen hat es im Freudengesang über die "Wiederkehr der Religion" eine Antwort gefunden; das Bedürfnis nach Spiritualität sei ja doch vorhanden. Als Indikatoren dafür galten zunächst etwa das Interesse an Okkultismus und Esoterik, Jugendreligionen und Sekten, aber auch der Besuch Jugendlicher bei den Kirchentagen. Ich selbst kann mir nicht vorstellen, dass sich Religion von menschlichem Interesse aufsaugen oder vertreiben ließe, sondern vermute eher: Mit dem Wandel der Zeiten und in Beziehung zum pluralen Nebeneinander unterschiedlicher Lebensformen verändert sich die Religiosität der Menschen und mit ihr die Formen gelebter christlicher Religion.

Unsere Religiosität und die von Kindern und Jugendlichen hängt von unserer Emotionalität und Fähigkeit zur Wahrnehmung ab.

Zum anderen: Das religiöse Selbstbewusstsein gegenwärtiger Jugendlicher lässt sich an der veränderten Stellung zur Tradition in religiösen Bildungsprozessen ausmachen. Die allerwenigsten von ihnen besuchen in irgendeiner Regelmäßigkeit Gottesdienste, aber viele haben eine - wohlgemerkt: äußerst kritische - Meinung zur Kirchenpraxis und äußern diese auch laut. Jugendliche sind in die Freiheit der Wahl geworfen, ob sie am Religions- und Konfirmandenunterricht teilnehmen oder nicht, und sie entscheiden sich individuell. Tendentiell ist die Lenkung durch Tradition einem bewussten Gegenübertreten in ein Verhältnis zur Tradition gewichen. Jugendliche bilden sich religiös, indem sie sich mit ihrer Biographie bewusst in ein subjektives Verhältnis zur Welt setzen.

Es ist unübersehbar: Wir, Lehrende wie Lernende, suchen -didaktisch- nach Begegnung. Dafür brauchen wir Brücken, um die auseinanderklaffenden Welten miteinander zu verbinden, begehbare Wahrnehmungs- und Handlungs-Wege vom Christentum zu den Jugendlichen und zurück.

Ich stelle mir religiöse Bildung als Begehung und Begegnung vor: Lehrende und Lernende machen gemeinsam Räume ausfindig, in denen sich Religion auffinden lässt. Solche Räume, die eine ihnen eigene Ordnung haben, könnten gemeinsam beschritten werden. Im Prozess des Begehens nehmen wir uns selbst mit allen Tätigkeiten von Körper, Seele und Geist wahr. So können wir der Struktur des Raumes, dem oder der anderen im Miteinander des Beschreitens, mal zusammen, dann wieder jeder für sich begegnen - und dem von vorn in religiöser Wirkkraft Entgegenkommenden, was die Richtung des Weges ausmacht. Die Lernenden beschreiten einen Weg, der sie wiederum strukturiert.

Didaktisch gesehen, kann erst auf solch einem religiösen Lernweg Begegnung möglich werden. Denn die Begegnung mit Religion hat etwas prozesshaftes und zugleich etwas punktuell Unverfügbares. Sie braucht einen Ort, eine Stätte, auf die man zugehen, sich hinbewegen kann, an der Raum und Zeit für sich und andere ist. Wo man Religion und ihren Phänomenen begegnet, nimmt man das Vertraute, schließlich aber auch das Fremde daran wahr. Begegnung braucht die Wahrnehmung des jeweils Anderen, die eine Wirkung zurückgibt.

Will man die Begegnung mit Religion nicht zufällig stattfinden lassen, so muss sie angebahnt werden. Was die religiösen Bildungsprozesse der Lernenden in der Schule und in der Welt betrifft, geht es also didaktischerseits um das Aufspüren und die Bereitstellung von Räumen, die begangen werden können und in denen Religion begegnet werden kann. Solch ein Raum liegt z.B. in religiösen Symbolen, welche Lebenswelt und Religion verbinden, die Erfahrungen der Lernenden in sich aufnehmen und zugleich über sich selbst hinausweisen, indem sie tiefere Dimensionen der Wirklichkeit Wie könnte also der Lernweg für die SchülerInnen aussehen?

Ich stelle mir den Prozess der Begehung, durch den eine Wundergeschichte verstanden wird, eher als eine liturgische Grenzüberschreitung vor: Die Jugendlichen sollen einen Weg des Verstehens beschreiten dürfen, der Verständnis ermöglicht, ohne das Faszinosum aufzulösen. Die Präsentation der Wundergeschichte soll ein Angebot sein, Vertrautes mit Fremdem zu konfrontieren. Jetzt kommt es auf die Form an: Inszenierungen biblischer Geschichten setzen Handlung und Botschaft in Szene, gestalten sie anschaulich und bewahren den nötigen Spielraum für subjektive Eintragungen. Nur, kann man das Wunder der Wundergeschichte wirklich sichtbar machen? Im Sinne meiner hermeneutischen Überlegungen möchte ich den SchülerInnen weder eine "Wundershow" noch eine Übertragung, in der das Wunderbare gar nicht mehr vorkommt, zumuten. Die fiktionale Erzählung eines Augenzeugenberichtes in einer Radiosendung erscheint mir dabei als eine passende Form.

Das Erntedankfestritual hat bei uns den Herbst eingeläutet: Die festliche Gestaltung von Jahreszeit und Kirchenjahr kann die kosmische Dimension von Zeit und Wiederkehr leibhaftig vermitteln. Mit dem Feiern von Festen können im religionsunterrichtlichen und schulischen Rahmen Rituale geboren oder wiederbelebt werden. Eine Symbolisierung von Ernte mit rituellen Handlungen wie dem Teilen des Brotes in der Schule und anderswo trägt dazu bei, dass die christliche Symbolik ihre Brückenfunktion zwischen Jugend und Religion entfaltet und in religiöse Bildungsprozesse Eingang findet. Durch deren Einbindung in gottesdienstliche liturgische Formen können Jugendliche subjektive Belange und Gaben fruchtbringend (schul-)gemeinschaftlich transformieren. Im Alltagsrahmen wird das Kultische individuell aufgesogen, im kultischen Rahmen dagegen kann der Alltag ins Heilige transzendiert werden.

Es ist jedoch kein blanker Aktionismus vermeintlich modern gestalteter Festgottesdienste, der den Festcharakter ausmacht, sondern in der Ausgewogenheit von Aktion und Passion im Gegenüber zu und im Miteinander von Mensch und Gott liegt die Leidenschaft des religiösen Feierns. Wenn wir, Lehrende und Lernende, das dem Fest zugrundeliegende Geschehen erinnern und auf Gegenwart und Zukunft hin gestalten, indem wir es bewegend rekonstruieren, könnte sich Gott auf eine Weise erahnen lassen, die eschatologische Qualität in sich trägt. In der gegenseitigen Befruchtung von religiöser Festkultur, Religionsunterricht und Schulleben wird deutlich: Feiern und Lernen bedingen sich wechselseitig.

Die SchülerInnen können im Hören der Augenzeugin begegnen, die das Wunder hautnah erlebt hat, die selbst satt geworden ist, in eigens bestimmter Nähe und Distanz die Wundergeschichte und mit ihr das Wunder auf sich wirken lassen. Mal sehen, was dabei passiert!

Die Botschaft vom Reichtum des miteinander geteilten Lebens bringt mit sich, was sie sagt: Unsere Mitteilungsbereitschaft bliebe ein Hauch im Wind, der Appell dazu verkümmerte zu einer moralischen Floskel, wenn wir das Teilen unseres Brotes nicht wirklich vollziehen würden. Liturgie lautet das Zauberwort, welches aus Worten Taten werden lässt. Wir werden ein liturgisches Erntedankfest mit einem Gemeinschaftsmahl in der Schule feiern. Die Mahlfeier werden wir in Gebet und Segen einbetten und transparent machen, dass sie zu unserem Fest substantiell dazugehört. Ob die SchülerInnen sich auf solch eine sakramentale Form des Brotsymbols einlassen werden? 

Nähmen SchülerInnen denn, wenn sie im Kontext von Schule, Kirche oder einer anderen Gemeinschaft religiöse Phänomene und Symbole in einer besonderen Ausgestaltung erführen, deren tiefere, über sich selbst hinausweisenden Dimensionen überhaupt wahr? Das Licht zum Beispiel, das am Tannenbaum anders und winterlicher scheint als die Geburtstagskerze neben dem Cheeseburger; das Geschenk, entfaltet es mit dem Auswickeln des Papiers noch spannungsvollen Zauber einer persönlichen Liebesgabe oder ist es zum Klischee einer materiell teuren Liebe verkommen?

In religionspädagogischer Hinsicht wäre es schön, mit einem Fest Jugend und Religion feierlich Raum zu gewähren. Dessen Herausforderung liegt darin, Fest und Alltag, die Gegensätzlichkeit der verdichteten Welt und ihre Grenzen zur Schwelle des Heiligen durch Spiel und Ernst als Verifizierung der "anderen Zeit" rituell begehbar zu machen. Ein Fest hätte eine Struktur, welche das Kommen - Lassen von Empfindungen und Wahrnehmungen zuließe und Möglichkeiten für Ausdrucksformen bieten würde. Religion könnte sich im teilnehmenden Mitvollzug erschließen.

Religion lebt nicht ohne diejenigen, die sie in Gebrauch nehmen. Von der Seite der Lehrenden her gilt es, den Wechselprozess im Blick zu behalten, in dem sie selbst wie die Lernenden Symbole wahrnehmen und erfahren und sich auf diese Weise symbolisches Lernen vollzieht. Daher ist eine Symboldidaktik immer auch Symbolisierungsdidaktik. Um die Symbolisierungsfähigkeit - auch sprachlich und ästhetisch- auszubilden, kommt es darauf an, die Wahrnehmung zu schulen.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 3/2001

PDF