Texttheater im Religionsunterricht

von Dietmar Peter 

 

Die Auseinandersetzung mit biblischen Texten kann im Religionsunterricht der Sekundarstufe I und II nicht immer als selbstverständlich bezeichnet werden. Begründet wird dieser Verlust des ehemals nicht in Frage gestellten Umgangs mit christlicher Tradition mit mangelnder Akzeptanz auf Seiten der Schülerinnen und Schüler. Vielfach verlieren Unterrichtende dann den Mut, Jugendliche mit Inhalten der Bibel zu konfrontieren. dass es aber insbesondere diesen scheinbar bibelrenitenten Schülerinnen und Schülern Spaß machen kann, sich auf Texte der Bibel einzulassen, belegt eine nicht unerhebliche Zahl an Beispielen. Dieses gelingt immer dann, wenn die Unterrichtenden die Texte auf ungewohnte Weise ins Spiel und damit ins Bewusstsein der Schülerinnen und Schüler bringen.

Als Beispiel dafür steht das Texttheater. Es zählt von seinem Grundgedanken zu den Theaterformen, die von Bertolt Brecht in seiner differenzierten Theorie des epischen Theaters bedacht wurden. Die hier von Brecht entwickelten didaktischen Theaterprinzipen finden sich in der von Augusto Boal aufgegriffenen und weiterentwickelten Form des "Zeitungstheaters" wieder. Ursprünglich hatte diese Methode bei Boal einen explizit-politischen Charakter. Im Verzicht auf aufwendige Requisiten, Bühne, Maske etc. sowie in der Unkompliziertheit und Spontaneität dieser Theaterform sah er einen wesentlichen Vorteil. Genau wegen dieser Einfachheit ist sie als Unterrichtsmethode in besonderer Weise geeignet.

Das Arbeitsprinzip des Texttheaters lässt sich am ehesten vergleichen mit dem der Collage. Ausgehend von einem von der/dem Unterrichtenden gewählten biblischen Text erhalten die Schülerinnen und Schüler die Aufgabe, alle ihnen wichtigen und/oder problematischen Formulierungen zu benennen und gemeinsam in einer Kleingruppe zu einem ‘dramatischen’ Text umzuarbeiten. Im Gegensatz etwa zum Schreiben eigener, freier Texte sind die Schülerinnen und Schüler nicht selber Produzenten, sondern sie erhalten die Rolle der Bearbeiter des vorliegenden Materials. Ziel ist, den vorgegebenen Text zu einem ‘dramatischen’ Text umzugestalten/ändern. So werden Sinnzusammenhänge aufgelöst, und neue zusammengefügt. Im Spiel mit dem Text werden Sätze verändert. Wiederholungen und Betonungen oder der Einsatz eines Chores verdeutlichen den kritischen Kommentar und die eigene Einstellung zu den Textaussagen. Durch die Montage wird ihre scheinbar selbstverständliche Gültigkeit hinterfragt. Möglich ist auch eine Kontrastierung der Textauszüge durch andere Berichte oder Texte. Bei allem ist zu beachten, dass der Wortlaut wesentlicher Stellen, etwa eines Jesuswortes, nicht verändert, allerdings im Vortrag variiert werden darf. Dazu müssen die Unterrichtenden den Schülerinnen und Schüler diese Stellen im Text vorher kenntlich machen. Ausgeschlossen werden darf dadurch allerdings nicht, dass durch die Montage dieser Stellen in andere Kontexte ihre Inhalte zum Diskussionsstoff werden.

Ein geschickter sprachlicher Umgang mit dem Text ist geeignet, Betroffenheit bei den Spielerinnen und Spielern sowie den Zuschauern entstehen zu lassen. Dieses gelingt z.B. wenn die unveränderbaren Stellen wiederholt, unterschiedlich betont, monoton, gehetzt, seufzend etc. vorgetragen werden. So entstehen Bekräftigungen oder Verfremdungen. Körpersprache kann die Bedeutung verstärken. Rhythmisches Klopfen oder die Zuhilfenahme Orffscher Instrumente bietet sich hierzu in gleicher Weise an. Bekannte Personen können imitiert werden, Satzteile ironisch, sarkastisch, in Form eines Befehls oder naiv deklamiert werden. Durch die Wahl einander widersprechender Sätze kann eine Polarisierung erreicht werden. Des weiteren kann der Vortrag in Form einer kleinen Revue gestaltet werden. Darüber hinaus sind vielfältige dramaturgische Weiterentwicklungen denkbar.

Für den Einsatz im Unterricht sind allerdings einige grundsätzliche Überlegungen notwendig: Zunächst hat der Unterrichtende zu klären, ob alle Schülerinnen und Schüler den selben Bibeltext bekommen oder ob verschiedene ggf. gegensätzliche Texte von verschiedenen Gruppen bearbeitet werden. Wie jedes Theater erfordert auch das Texttheater Zuschauerinnen und Zuschauer, denen Ergebnisse präsentiert werden können. Diese Grundvoraussetzung sollte nicht unterschätzt werden, da sie von hohem motivationalen Wert ist, eine produktive Arbeitsatmosphäre und Konzentration auf den Arbeitsprozess schafft.

Ebenso wichtig ist, dass die einzelnen Gruppen in unterschiedlichen Räumen arbeiten. Da diese Voraussetzung im Schulalltag nicht immer leicht zu schaffen ist, ist der Einsatz des Texttheaters gut im Rahmen von Projekttagen oder auf Klassenfahrten denkbar.

Obwohl die Methode zunächst anspruchsvoll klingt und bei den Beteiligten gelegentlich zunächst zu Ratlosigkeit führt, weicht diese erfahrungsgemäß sehr schnell einem lebhaften, kreativen Arbeiten am Text. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die schauspielerischen Fähigkeiten einen relativ geringen Stellenwert einnehmen. Schülerinnen und Schüler, die Ängste haben, sich schauspielerisch darzustellen, werden nicht überfordert. Alles Tun konzentriert sich auf das Wesentliche, und das ist der biblische Text. So tragen die Schülerinnen und Schüler ihre Fragen an den Text heran, erarbeiten Antworten und verleihen der Darbietung interpretatorischen Ausdruck. Spielerisch wird dabei der aktiv-fragende Umgang mit einem biblischen Text eingeübt.

Damit das Arbeiten mit den vorgegebenen Bibeltexten in beabsichtigter Weise gelingt, sollte jede Lehrerin bzw. jeder Lehrer vor dem Einsatz der Methode die ausgewählten Texte daraufhin prüfen, ob sie vom Schwierigkeitsgrad her für die entsprechenden Altersgruppen geeignet sind, welche kontroversen Interpretationsmöglichkeiten an sie herangetragen werden können, ob sie Fragen bzw. Problemkomplexe offen lassen und welche Missverständnisse sie möglicherweise bei den Schülerinnen und Schülern hervorrufen können. Es bietet sich an, die Methode zunächst an kurzen Texten zu erproben, um zum einen die Möglichkeiten dieser Art der Texterschließung aufzuzeigen aber auch zum anderen um den Schülerinnen und Schülern Unsicherheiten zu nehmen.

Die Präsentation kann sich weitestgehend auf rein verbale Elemente beschränken, die Spielerinnen und Spieler können ihre umgestalteten Texte vom Blatt ablesen, und die in der Regel gegebene Kürze der Zeit lässt Anspruch auf Perfektionismus nicht aufkommen. Darüber hinaus lernen die Schüler auf ein konkretes Ergebnis hin in Kooperation miteinander zu arbeiten. Innere Konsequenz, personales Engagement, Kreativität, Ideenreichtum sowie Kompromissfähigkeit in der Gruppe werden entwickelt und eingeübt.

Der Präsentation der verschiedenen Texttheaterstücke folgt auf vertiefendem Niveau die Arbeit am Ursprungstext. Die neuen, ungewohnten und vielfach aufschlussreichen Zugänge des Texttheaters werden nun an den Text herangetragen. Dabei wird der Text daraufhin befragt, ob er den Interpretationen standhält. Ist dieses nicht der Fall, wird gemeinsam nach weiteren, angemesseneren Deutungsmöglichkeiten gesucht.

Die Methode ist dort besonders angezeigt, wo Schülerinnen und Schüler Hemmungen haben, mit Texten der Bibel zu arbeiten, und wo Unterrichtende den Mut haben, den Schülerinnen und Schülern ungewohnte neue Zugänge zu eröffnen. Damit werden ihnen zugleich Perspektiven erschlossen, die sich zunächst gegen althergebrachte Interpretationsmuster sperren, die aber letztlich weiterführen. So eröffnen die durch den experimentellen Zugang des Texttheaters geschaffenen Irritationen Einsichten, die dem Unterricht unvermutete Wendungen geben können und neue Blicke auf scheinbar Selbstverständliches ermöglichen. Dabei ist ausdrücklich darauf verwiesen, dass der hierdurch geschaffene Gewinn an Erkenntnis nicht nur den Unterrichteten vorbehalten bleibt.

 

Literatur

  • Augusto Boal: Theater der Unterdrückten. Frankfurt am Main 1979

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/1997

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