Gotteserfahrungen im Lebenslauf – der gefährdete Glanz

von Michael Meyer-Blanck 

 

Ich möchte Ihnen nicht nur ein fachliches entwicklungspsychologisch-religionspädagogisches Referat halten. Ich möchte vielmehr einen integrierenden Gesichtspunkt wählen, der auch mit uns selbst als Lehrenden des christlichen Glaubens zu tun hat. Diesen entnehmen Sie meinem Untertitel: “der gefährdete Glanz.” Mit meinem Berliner Kollegen Christof Gestrich beschreibe ich die Nähe Gottes als Erfahrung des Glanzes, welcher wieder auf die Welt, auf die Dinge und auf die Menschen fällt (Gestrich, passim). Diese Erfahrung ist nicht selbstverständlich, und man hat sie auch nicht ein für alle Mal in seinem Leben.

In jedem Lebensalter ist der Glanz des Dasein gefährdet, zu verblassen oder gar zu verschwinden hinter neuen kognitiven wie lebenspraktischen Anforderungen. In jeder Lebensphase aber kann der Glanz auch ganz neu aufscheinen, und zu Gott steht der Weg in jedem Lebensalter offen. (Vgl. Nipkow, S. 16) Der Mensch ist auch ohne Gott nicht ein unvollständiges Fragment. Der Mensch braucht nicht die Gottesbeziehung, um seine Möglichkeiten und Fähigkeiten zu entfalten. Gegenteilige Behauptungen wären eine veraltete Form von Bekehrungspredigt. Jedoch den Glanz der Nähe Gottes kann sich der Mensch ohne Gott selbst nicht verschaffen. Und wer diesen Glanz einmal hat leuchten sehen, der möchte ihn nicht wieder verlieren in sich wandelnden Lebensanforderungen. Und nur darum kann es gehen bei religionspädagogischen Bemühungen: die Gefährdungen des Glanzes zu erkennen, zu benennen und zu bearbeiten, unschädlich oder wenigstens erträglich zu machen.

Wer mit Menschen gleich welchen Alters über Gott spricht, sollte von dem Glanz der Nähe Gottes selbst etwas erfahren haben und um dessen Gefährdungen wissen, um anderen nicht gut gemeint etwas überzustülpen. Weiterhin sollte man über ein Instrumentarium verfügen, diese Gefährdungen zu analysieren. Dem dient die wissenschaftliche Religionspädagogik und auch dieser zusammenfassende Vortrag.

Es ist in der Religionspädagogik unbestritten, dass die Gottesfrage besonders bei Jugendlichen von entscheidender Bedeutung für die eigene Religiosität und für deren weitere Entwicklung ist (Identität und Verständigung, S. 17 f.). Doch geht es in Religionsunterricht und Kirche nicht nur um die Gottesfrage. Mit Recht bemerkt die EKD-Denkschrift “Identität und Verständigung” (S. 79): die Gottesfrage stellen auch Philosophen. Im RU aber geht es um die vorhandene oder vermisste, kritisierte oder befragte Gotteserfahrung in Geschichte und Gegenwart, um diese Erfahrung, welche alle anderen Erfahrungen in ein anderes Licht setzt. Das meine ich mit dem “gefährdeten Glanz.”

Ich meine ferner, dass Gotteserfahrungen - nicht unbedingt individuelle Gotteserlebnisse - dem Lernen zugänglich sind. Man muss sich nur vor einem zu engen, inzwischen überholten Lernbegriff hüten. Lernen ist nicht nur das gewollte oder auch ungewollte Aneignen von Informationen und Fertigkeiten. Lernen umfasst auch Urteilen, Verhalten, Handeln, die Einstellungen und Haltungen in allen Lebensbereichen. Treffend formuliert Klaus Wegenast: “Lernen ist so etwas wie die Bezeichnung der Lebensdynamik eines Menschen, genauer seiner Fähigkeit zu neuen Erfahrungen mit sich selbst, der Welt und Gott.” (Wegenast/Lämmermann, S. 80). In diesem Sinne lassen sich auch Gotteserfahrungen lernen. Zwar lässt sich nicht das glaubende Vertrauen auf Gott didaktisch operationalisieren. Aber Erfahrungen mit Gott sind mitteilbar, analysierbar, kritisierbar und im besten Falle auch sinnlich wahrnehmbar, anschaubar, nachvollziehbar, so dass sich eigene Einstellungen ändern und neue Erfahrungen möglich werden. Weil Erfahrungen mit dem Glanz der Nähe Gottes von Menschen gemacht werden, darum sind solche Erfahrungen auch mitteilbar und darstellbar.

In einer Geschichte aus der klösterlichen Tradition wird erzählt, wie einem Mönch einmal die Nähe Gottes entschwand.(Steffensky, S. 13) Er ging zu einem alten Bruder und klagte ihm, er könne nicht mehr glauben und beten. Er bat darum, vom Gottesdienst befreit zu werden, weil sein Herz starr und seine Gebete eine Lüge seien. Der alte Mönch aber gab ihm den Rat: “Wenn du schon nicht beten kannst, dann gehe hin und schaue zu, wie deine Brüder beten.” So wurde der Jüngere nicht zu etwas gezwungen, wozu er nicht fähig war. Er brauchte nicht unehrlich zu sein. Aber seine Erfahrung wurde auch nicht für abgeschlossen erklärt. Der Ältere traute und mutete dem Jüngeren Lernen zu, und er wählte einen Impuls, welcher Erfahrung mit der Erfahrung anderer ermöglichen sollte. Denn wahr ist nicht nur die höchst individuelle Erfahrung, die aus dem individuellen, ganz “echten”, “authentischen” Glaubenserlebnis kommt. Ein solcher Begriff von Glaubenserfahrung scheint mir eher ein Reflex auf die neuzeitliche Individualisierung zu sein als im Wesen des Glaubens selbst begründet zu sein. Ich muss meine Erfahrungen selbst machen - aber nicht allein. Das ist der entscheidende Unterschied, gerade auch für Erfahrungen in der Nähe Gottes.

Meine Themenformulierung legt es nahe, nun den verschiedenen Lebensaltern zu folgen. Bevor ich so vorgehe, möchte ich jedoch einige altersübergreifende Tendenzen beschreiben, welche in der religionspädagogischen Diskussion zur Zeit wichtig sind.

 

1. Erfahrungen mit Gott – sechs wichtige gegenwärtige Tendenzen

1.1.      Gott und die Werbung
Zunehmend werden Gott und Religion, sowie kirchliche Mitarbeiter, vor allem Pfarrer (meines Wissens nicht Pfarrerinnen) Gegenstand der Werbung. Ich will dafür jetzt keine Beispiele bringen, das können Sie alles sehr gut in der Arbeitshilfe von Thomas Klie nachlesen. Wichtig ist dabei die tendenzielle Veränderung unser aller Gotteserfahrungen. Ein Berliner Student im Seminar fand dafür die treffende Formulierung: Eingeübt wird durch die Werbung der ironisierende Umgang mit der Gottesfrage. Dies ist nicht moralisch zu verurteilen, sondern schlicht als Vorerfahrung zu bedenken. Gotteserfahrungen sind nicht einfach “tabula rasa”.

 

1.2.      Gott als Prinzip statt als Gegenüber
Die Rede von der allgemeinen Säkularisierung ist durch das neue Interesse an Religion mindestens relativiert worden. Aber unbestritten ist eine zunehmende Entkirchlichung, oder allgemeiner gesprochen: eine Ent-Institutionalsierung von Religion. Verbunden damit ist die Entfernung von gemeinsamen gestalteten Gottesbegegnungen, von Liturgie. Und je weniger Gott mit “Du” angesprochen wird, desto weniger wird er als Gegenüber erfahren (um das noch stärkere Wort “Person” bereits zu vermeiden). Neben den ironisierenden tritt damit der abstrahierende Umgang mit Gotteserfahrungen. Gott wird zum Prinzip. Mit Prinzipien redet man nicht, allenfalls rechnet man mit ihnen. Auch das philosophische Reflektieren ist religionspädagogisch wichtig, und gerade Kirchengemeinden legen vielleicht zu wenig Gewicht darauf. Gott auch intellektuell zu durchdenken. Aber vom Denken Gottes als Prinzip ist doch noch ein weiter Weg zum Vertrauen, Wollen und Handeln. Wenn auch die Studie von Heiner Barz zur Religion Jugendlicher mit Recht methodisch und inhaltlich scharf kritisiert wurde, so gibt sie doch wichtige Tendenzen an, die gesamtgesellschaftlich - wesentlich in den alten Bundesländern - wirksam sein dürften. In der folgenden Äußerung in der Barz-Studie wird Gott als pantheistisches Prinzip beschrieben:

“Alles, was um uns herum ist, ist göttlich, ist Gott, alles ist ein Teil von Gott, auch wir sind ein Teil von Gott.” (Barz, S. 119)

 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass wahrscheinlich viele Unterrichtsstunden mit dem Film “Söhne der Erde” mit der angeblichen Rede des Häuptlings Seattle genau in diesem Trend lagen (vgl. dazu Meyer-Blanck, Ursprung und Tiefe).

 

1.3.      Gott und das Leben: Reinkarnation statt Auferstehung
Wo Gott zum Prinzip statt zum Gegenüber wird, da wird auch die Hoffnung jenseits des Todes ein Prinzip, welches ohne das Eingreifen dieses Gegenübers automatisch wirkt. Der Bedeutungsverlust von Kreuz und Auferstehung bei gleichzeitiger starker Zunahme des Glaubens an ein Leben nach dem Tode ist durch Umfragen breit belegt: 1991 glaubten 56 % der 15 - 24-jährigen  Westdeutschen daran,  1964 waren es nur 49 %, 1954 sind es sogar nur 43 % gewesen (in Ostdeutschland 1991 immerhin 22 %, vgl. Shell Jugend ´92 Bd. 1, S. 237). Nach Heiner Barz (125 ff.) glauben Jugendliche vor allem an die Unsterblichkeit der Seele, und zwar in Form der Wiedergeburt. Dieser Tatbestand stellt für mich eine entscheidende religionspädagogische und theologische Herausforderung der Gegenwart dar. Die dogmatische Entgegensetzung von Reinkarnation und Auferstehung dürfte nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Gesucht ist vielmehr eine Theologie der Auferstehung, welche den Glauben an Christus und die Unsterblichkeitsvorstellung zu integrieren vermag. Ohne dies jetzt näher auszuführen meine ich, dass man von der Taufe her durchaus von der "Unsterblichkeit des Geistes" im Sinne des Christusbezuges reden könnte, - nicht um sich der Mode anzupassen, sondern um neue Gotteserfahrungen zu ermöglichen.

 

1.4.      Gott und das Geschlecht: Frauen formulieren ihre eigenen Gotteserfahrungen
Es ist nicht nur so, dass Mädchen zwischen 14 und 29 Jahren häufiger als Jungen “ - Bücher lesen [...] - Geborgenheit in der Familie suchen, - an Gott glauben” (Spiegel special, S. 61) - die Gotteserfahrungen von Mädchen und Frauen werden auch qualitativ eigenständig, unabhängig von dominierenden männlichen Gotteserfahrungen formuliert. Ingrid Scholz plädiert dafür, Gottesbeschreibungen zu wählen, die Beziehungen eröffnen und Verhalten motivieren. In diesem Zusammenhang erscheint ihr die Beschreibung “Gott ist Freundschaft” besonders geeignet zu sein, besser als die zu sehr “vermarktete” Vorstellung “Gott ist Liebe” (1. Joh. 4, 16). (Scholz, S. 137)

 

1.5.      Gott und die Sünde: Versäumen statt Übertreten
Die Gotteserfahrung und die Sündenerfahrung hängen sehr eng miteinander zusammen. Die Gotteserfahrung stellt vor Augen, dass das Leben ohne Gott zwar nicht unvollständig ist, aber ohne Glanz in den Beziehungen zu sich selbst, zu anderen und zu den Dingen. Die Gotteserfahrung wertet Beziehungen um. In klassischer Terminologie: Die Gotteserfahrung ist beschreibbar als die Erlösung von der Sünde und von den Sünden.

Was aber ist es, das den Beziehungen ihren Glanz nimmt? Wodurch werde ich zum Sünder? Die klassische und weiterhin gültige theologische Antwort lautet: Durch das Überteten der von Gott zum Erhalt seiner Schöpfung gegebenen Gebote trenne ich mich von Gott und werde zum Sünder. Ich übertrete die Gebote und sondere mich ab vom Glanz der Herrlichkeit Gottes in der Schöpfung. Neben dieses Verständnis von Sünde tritt heute ein ganz anderes Grundgefühl: nicht das Übertreten, sondern das Versäumen, das Verpassen von Chancen ist es, welches mein Leben bedroht. Mein Leben wird nicht vor allem durch Ordnungen gehalten, sondern durch mich selbst konstituiert. Ich muss alles planen und organisieren. Vom Glanz des Lebens, ja damit auch von der Herrlichkeit Gottes sondere ich mich ab, wenn ich die entscheidenden Chancen verpasse. Kurz: Sünde ist im gegenwärtigen Verständnis weniger das Übertreten von Geboten, sondern das Versäumen einer Chance zur Gewinnung eigener Identität. Auch dies möchte ich nicht negativ werten. Die Sehnsucht nach Gotteserfahrungen dürfte unter diesem Verständnis eher zu - als abnehmen.

 

1.6.      Gott und die Theologie: Die Krise des klassischen Theismus
Ob die fehlende Ausstrahlungs- und Anziehungskraft der Großkirchen in Europa und Nordamerika mit deren Theologie zusammenhängt? Diese These vertritt der systematische Theologe Michael Welker in seinem Buch “Kirche im Pluralismus” von 1995. Grundlage dieser verfehlten Theologie sei eine philosophische Gotteslehre, welche Gott als Welturheber vorstelle, als “überweltliche Persönlichkeit, die sich selbst und alles andere hervorbringt, die alles bestimmt und verfügt” (Welker, S. 42) Welker nennt diese Sicht den “klassischen Theismus” und konstatiert, dass eben dieser Theismus mit der Pluralisierung in die Krise gerate. Die Kirchen hätten diesen Theismus zu sehr gepflegt und zur Normaltheologie und Normalfrömmigkeit werden lassen durch Verbindung mit dem christlichen Glauben. Trinität, Heiliger Geist und Christologie seien nur “Spezialissima” für die Gebildeteren gewesen. Für Welkers kritische Analyse scheint mir eine Menge zu sprechen. Das Fundament des abstrakten Theismus, welches den christlichen Glauben lange Zeit zu tragen schien, versinkt gegenwärtig im Meer der Differenzierung, Individualisierung, Abstrahierung und Ironisierung des Gottesbildes und  reißt die christlichen Gottesbilder mit in den Abgrund, weil sie vom Fundament des versinkenden abstrakten Theismus nicht so schnell losgemacht werden können. Die Dauerargumentation mit der Theodizeefrage auch ohne aktuelle persönliche Fragen könnte ein Symptom dafür sein. Die theologisch wie philosophisch unlösbare Theodizeefrage wird nicht nur immer wieder zum Anlass für Anfechtung, sie eignet sich auch zum Angriff auf einen bereits leck gewordenen abstrakten Theismus. Ein Unterricht in der christlichen Religion muss in dieser Lage noch konsequenter von Jesus und dem Kreuz und vom heiligen Geist ausgehen.

Die sechs von mir beschriebenen Tendenzen sind für die Gotteserfahrungen in allen Lebensaltern von Bedeutung, wenngleich in unterschiedlicher Stärke und Ausprägung. Auf jeden Fall aber müssen wir als Unterrichtende diese Tendenzen einmal durchdacht haben, um lebensgeschichtliche und altersbedingte Krisen in der Gotteserfahrung davon unterscheiden zu können.

 

2. Erfahrungen göttlichen Glanzes im Lebenslauf – Gelegenheiten und Gefährdungen

2.1.      Der Geruch Gottes oder: das Selbstverständliche der Kindheit
Wenn Sie sich an Ihre Kindheit erinnern, kommen Ihnen wahrscheinlich Bilder von Menschen und vor allem von Räumen und Eindrücke von Gerüchen. Ich meine das Wort “Geruch” im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Es steht für mich für das Atmosphärische , Selbstverständliche, Unhinterfragte, allenfalls neugierig Befragte. Genauso wie das Athmosphärische gehört Gott zum Leben des Kindes - oder auch nicht.

Die Gotteserfahrung der frühen Kindheit hängt entscheidend mit der Elternerfahrung zusammen bzw. ist davon zunächst ungetrennt. Über diese Erfahrungen ist nur schwierig Genaueres zu sagen, weil das meiste unausgesprochen bleibt. Das Selbst, die Mutter, das Grundvertrauen - diese sind noch ungeschieden. Im Angesicht der Mutter erfährt das Kind Zuwendung und Abwendung - und darin die Ambivalenz auch von Gottes Nähe und Ferne. Dies scheint eine lebenslang wirksame Erfahrung zu sein. Nicht umsonst wird im aaronitischen Segen der Glanz von Gottes Angesicht zugesprochen: “Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Dir und sei Dir gnädig.” Darauf haben Psychoanalytiker wie Erik H. Erikson immer wieder hingewiesen. (Erikson, S. 130; vgl. Schweitzer, S. 204). Die Gefährdung dieser frühen Zeit liegt psychoanalytischer Beschreibung zufolge im Spannungsfeld von Geborgenheit und Allmachtsphantasien, von Vertrauen und Misstrauen, von Verschmelzen und Verlassenwerden.

Zugänglicher ist die mittlere und späte Kindheit. Jetzt können Eltern- und Gotteserfahrung unterschieden werden. Gott wird zum Sprachereignis und damit zur bewussten Atmosphäre kindlicher Umgebung -oder auch nicht. Jetzt setzt die Verantwortung religiöser Erziehung ein. Wie in den meisten Erziehungsfragen wirkt die funktionale Erziehung wahrscheinlich mehr als die intentionale, oder einfacher: Kinder lernen nicht so sehr das, was wir ihnen sagen, sondern das, was wir sind. Je selbstverständlicher Gott seinen Platz im Alltag hat, desto einprägsamer wird die Gotteserfahrung sein.

Auf den Begriff des “Geruches” bin ich in diesem Zusammenhang durch die Kindheitsschilderung von Carl Zuckmayer gekommen.

Zuckmayer schreibt (S. 150 f.):
“Ich war katholisch - das war bei uns selbstverständlich [....] Gerade das Selbstverständliche dieser Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, deren Ritus in uralten Formen verwurzelt ist (....) aber das Kind läuft in die Kirche wie in den Bäckerladen, es ist nichts pietistisch Würdevolles oder Griesgrämiges dabei, hier riecht es nach warmem Brot, dort nach steinkühlem Weihrauch; das Kniebeugen, Niederknien, Händefalten, Kreuzschlagen..., das alles fügt sich ins tägliche Leben ein wie Schlafengehen, Aufstehen. Anziehen, Lernen, Spielen.”

Der “Geruch” Gottes wird so hingenommen wie er begegnet. Es kann dies etwas Beengenden haben - ich kenne allerdings keine heutigen Eltern, die Kindern mit dem allwissenden, strafenden sexualfeindlichen Gott drohen, von Erzieherinnen oder Religionslehrerinnen ganz zu schweigen. Es scheint sich eher um ein unkritisch aus der Literatur vergangener Jahrzehnte übernommenes Klischee zu handeln. Die Gefahr der Gegenwart ist vielmehr, dass das Selbstverständliche Gottes aus dem Alltag verschwindet und mühsam über Reden wieder “herbeididaktisiert” werden muss. Der “Geruch” Gottes - nicht umsonst volksetymologisch verbunden mit “ruchbar”, “Gerücht”! -, der “Geruch” Gottes ist nicht so einfach ersetzbar durch Gerede. Denn auch Gott wird mit dem ganzen Leib gelernt und nicht nur mit dem Verstand.

Die Kognitionspsychologen sprechen in Bezug auf die mittlere und späte Kindheit übrigens von einem “Deus-ex-machina” bzw. von einem “wie-du-mir-so-ich dir-” Gott (Schweitzer, S. 125 ff. und 205 ff.). Auch auf kognitiver Ebene wird mit Gott selbstverständlich umgegangen - befragend, aber weniger kritisch hinterfragend. Geschätzt und verstanden von Kindern im Grundschulalter wird das Klare, Konkrete; nicht verstanden wird das Übertragene, Mehrdeutige, Metaphorische. Dies hat Anton A. Bucher in seinen Gesprächen mit Kindern gezeigt. So befragte er eine elfjährige Schülerin über die Arbeiter im Weinberg (Mt 20):

“I: Hat diese Geschichte (Mt 20, 1 ff). etwas mit dem Reich Gottes zu tun?
X: Ich glaube nicht unbedingt.
I:  Und warum nicht?
X: Ich glaube nicht, dass es im Reich Gottes, also im Himmel, dass es dort Trauben gibt
     und so.” (Bucher, S. 43)

Die kognitive Durchdringung der Gottesfrage ist in der Kindheit nicht das wichtigste Problem. Grenzen des Erkennens werden akzeptiert. So hat mein knapp neunjähriger Sohn (3. Klasse) in einem Aufsatz geschrieben: “Gott kann man nicht sehen und auch nicht anfassen, man kann auch keinen Turm bauen zu ihm. An Gott kann man nur glauben. Und man kann zu ihm beten.”

 

2.2. Gott als Gefühl und Theorie oder: der “synthetisierte” Gott der Jugendzeit
Wenn in den letzten Jahren schon fast alltagssprachlich von jungendlicher “bricolage” im Hinblick auf jugendliche Gottesvorstellungen gesprochen wird oder von der “Flickerlteppich-Religiosität”, dann ist dies so neu und sensationell nicht, wie das oftmals behauptet wird. Das Phänomen hängt eben nicht nur mit soziologischen Gegebenheiten zusammen (Ausdifferenzierung von Sinnangeboten). Vielmehr gehört es einfach entwicklungspsychologisch zur Jugendzeit, Sinnangebote zusammenzusetzen. Der Glaube von Jugendlichen, so der amerikanische Religionspsychologe James W. Fowler, ist synthetisch und konventionell,”synthetic-conventional faith” (Fowler, S. 151 - 173). Um Jugendliche zu verstehen, muss man den Begriff “synthetisch-konventionell” jedoch beschreibend und nicht etwa abwertend verstehen. Jugendliche beginnen sich von ihren Kindheitsbezügen zu lösen und setzen ihren Glauben zusammen aus dem, was ihnen bei vertrauenswürdigen anderen plausibel erscheint. Statt “synthetisch” lässt sich auch sagen: bezogen auf verschiedene Personen, und statt “konventionell”: “übernommen.” Das ist ja eine Alltagsbeobachtung im Umgang mit Jugendlichen: Lernen hängt von der Beziehung ab.

Der Jugendliche hat die neue Fähigkeit und das Bedürfnis, alles ganz persönlich und gleichzeitig ganz hypothetisch zu sehen. Das Denken wird komplexer und formaler. Übertragene, metaphorische, gleichnishafte Rede wird jetzt verständlich. Gleichzeitig wird das gesamte Erleben einschließlich des Denkens sehr persönlich. Auch dies hängt nicht nur mit den körperlichen Veränderungen zusammen, sondern auch mit dem neuen Denken: Jugendliche vermögen jetzt, “neben sich” zu stehen und sich selbst zu thematisieren. Dies macht die eigentümliche Verbindung von Gefühl und Theorie aus, welche sich auch auf die Gottesbeziehung auswirkt. Jugendliche können hypothetisch die Perspektive anderer übernehmen, um sich selbst zu erkennen. Fowler spricht in diesem Zusammenhang von “Spiegel-Kommunikation.” Die zumeist gleichgeschlechtliche Zweierbeziehung wird wichtig und die Freundin/der Freund wird zum Spiegel zur Selbsterkenntnis:

“I see you seeing me: I see the me I think you see.” (Fowler, S. 153)

Beziehungen werden zugleich persönlicher und abstrakter, gefühlsbetonter und theoretischer. Auch Gott lässt sich nun nicht mehr naiv beschreiben als fragloses Gegenüber. Er wird nur noch indirekt aussagbar. Nicht mehr ist der Mensch geborgen in Gott, sondern Gott ist im Menschen und in der Natur. Folien aus Schweitzer

Der Zug zum Abstrakten und Pentheistischen im Gottesbild, welchen wir vorhin in der Äußerung eines Jugendlichen bei Heiner Barz fanden, lässt sich also auch so erklären: als entwicklungsbedingte Verbindung von Gefühl und Theorie („ .... alles ist ein Teil von Gott, auch wir ...“ Barz S. 119, s.o.). Die gesellschaftliche und die entwicklungspsychologische Perspektive müssen demnach jeweils als die beiden Seiten einer Medaille zusammengedacht werden.

Es lässt sich auch so sagen: Jugendliche durchleben gesellschaftliche Trends in stärkerem Maße als Kinder und Erwachsene. Der oben beschriebene Trend zum a-personalen Gottesbild, das veränderte Sündenverständnis und das Interesse an Reinkarnation, dies alles verstärkt sich in der Jugendzeit wie in einem Brennglas. Oder Sie können es noch einmal andersherum sehen: Weil sich unsere Gesellschaft insgesamt an dem Leitbild “Jugend” als dem Ideal von Flexibilität, Qualifikation und Chancenvielfalt orientiert, darum ist auch das Gottesbild in dieser Gesellschaft tendenziell jugendgeprägt: gefühlsbezogen und theoretisch, persönlich und abstrakt. Habe ich uns Erwachsene damit bereit selbst thematisiert, so will ich darauf noch kurz zu sprechen kommen.

 

2.3. Die Welt ohne Glanz - oder: ein unterschwelliger Gottesmangel: Das Erwachsenenalter
Der abstrakte und individuelle Gott im Dienste der Identitätsfindung, Sünde als Verpassen einer Chance zur Identitätsfindung, ein experimentierender, bisweilen spielerischer und ironisierender Umgang mit der Gottesrage ist jugendgemäß und von daher zunehmend attraktiv für Erwachsene.

Zum Erwachsensein gehört aber auch die schmerzliche Erfahrung eigener Grenzen: gesundheitlich, beruflich, in den lebensbestimmenden Beziehungen zu Partner, Kindern und Freunden. Zunehmend wird ein letzter Sinn im eigenen Tun und im eigenen Scheitern gesucht. Ein abstrakter und internalisierter Gott kommt ebenfalls an seine Grenzen. Der Bedarf an Aufklärung und an Selbstkonstitution ist erst einmal gedeckt. Mit der zunehmenden Schwierigkeit, Gesprächsfäden zu erhalten und neu zu knüpfen, wird ein Gott als Gesprächspartner und Gegenüber wieder plausibel. Eigenverantwortlichkeit und Gottes Verantwortlichkeit sind keine Gegensätze mehr. Gott kann als transzendent und immanent, als internalisiert und als Gegenüber gedacht werden. Dies ist jedoch eine erhebliche Lebens- und Denkleistung, und viele Erwachsene dringen nicht bis dahin vor. Wer aber als Erwachsener mit Grenzen an einem abstrakten Gott festhält, der kann einen - ihm vielleicht gar nicht zu Bewusstsein kommenden! - Gottesmangel durchleben. Der Mensch spürt einen Mangel in seinem Leben, auch wenn er, genau nachdenkend, alles zu haben scheint. Die Menschen und Dinge sind da, aber sie verlieren ihren Glanz: das Sinnvolle, Beglückende, die Verankerung in Gott als verlässlichem Gegenüber.

Ich bin - das werden Sie gemerkt haben - an dieser Stelle aus der entwicklungspsychologischen Perspektive in die dogmatische Ebene übergewechselt. Ich will dies so klar markieren, damit nicht doch noch Erwachsene mit so einem “Gottesmangel” als unvollständige Menschen denunziert werden. Denn erst vom Glauben an den transzendenten wie immanenten Gott her erscheinen die Dinge und die Menschen in jenem Glanz, der sie in ganz anderer Weise schön, herrlich und sinnvoll macht. Und erst von daher wird auch der Mangel an Glanz, die Gefährdung des Glanzes verständlich.
Religionspädagogisch beide Aspekte zusammenfassend wird man auf jeden Fall sagen können: Mit den Ursachen des Gottesmangels, welche dem Lernen zugänglich sind, dürfen wir uns als Lehrende und Unterrichtende nicht abfinden. Die Religionspädagogik sieht aus institutiellen Gründen zu sehr auf das Kindes- und Jugendalter. Erwachsenenbildung in der Gemeinde muss gerade Hilfe zum erwachsenen Glauben sein, also Glaubensbildung ermöglichen. Damit bin ich bereits bei praktischen Konsequenzen, mit denen ich jetzt insgesamt thesenförmig zusammenfassen möchte.

 

3. Wider die Gefährdung des Glanzes: Konsequenzen für Religionspädagogisches Handeln

  1. Der Glaube an Gott ist lehr- und lernbar, was die Anschauungsform angeht. Es dürfen nicht religionspädagogische Bemühungen mit dem Vorbehalt des Heiligen Geistes konterkariert werden.
  2. Eine zeitgemäße Redeweise von Gott muss eine Beziehung zu gegenwärtigen Reinkarnationsvorstellungen deutlich machen können (etwa: Unsterblichkeit des Geistes im Sinne des Gottesbezuges).
  3. Von Gott reden heißt immer auch, vom Gottesmangel, mithin von der Sünde reden. Dabei ist das Verhältnis von Übertretung und Versäumen besonders zu bedenken, auch unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Fragen.
  4. Um den selbstverständlichen Glauben in der Kindheit zu fördern, sind Erwachsene (in Familie, Schule, Gemeinde) zu einem unspektakulären Reden von Gott zu ermutigen. Gott sollte ein allgemeines “Gerücht” in der Wirklichkeit sein, kein Sonderthema.
  5. Im Jugendalter ist neben dem gemeinsamen Erleben verstärkt das kognitive Durchdringen der Gottesfrage wichtig. Die Frage der individuellen und kollektiven Zukunft, die Theodizee und die Kirche müssen offen und dogmatisch substantiell thematisiert werden.
  6. Die “synthetisch-konventionelle” Gestalt jugendlichen Glaubens ist zu akzeptieren, zur Sprache zu bringen und behutsam der Reflexion und Kritik auszusetzen.
  7. Die Predigt dürfte weithin die Fähigkeit der Hörenden überschätzen, Gott zugleich transzendent und immanent, Autonomie setzend wie begrenzend zu denken. Eine genauere Analyse der Gottesvorstellungen der Gemeinde könnte manchem (etwa moralistischen) Missverständnis abhelfen.
  8. Die Kirchengemeinden sollten einen Schwerpunkt ihrer erwachsenenbilderischen Arbeit auf die Glaubensbildung legen.
  9. Neu zu konzipieren ist auch eine Religionspädagogik des Alters, wenn denn das Bonmot “Mit dem Alter kommt der Psalter” als traditionelle Fiktion erwiesen ist.
  10. Die Freundlichkeit Gottes und der Glanz, welcher von daher auf Menschen und Dinge fällt, ist der Ausgangspunkt selbstgewissen und selbstkritisch-humorvollen religionspädagogischen Handelns.

 

Wider die Gefährdung des Glanzes: Konsequenzen für religionspädagogisches Handeln

  1. Der Glaube an Gott ist lehr- und lernbar, was die Anschauungsform angeht. Es dürfen nicht religionspädagogische Bemühungen mit dem Vorbehalt des Heiligen Geistes konterkariert werden.
  2. Eine zeitgemäße Redeweise von Gott muss eine Beziehung zu gegenwärtigen Reinkarnationsvorstellungen deutlich machen können (etwa: Unsterblichkeit des Geistes im Sinne des Gottesbezuges).
  3. Von Gott reden heißt immer auch, vom Gottesmangel, mithin von der Sünde reden. Dabei ist das Verhältnis von Übertretung und Versäumen besonders zu bedenken, auch unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Fragen.
  4. Um den selbstverständlichen Glauben in der Kindheit zu fördern, sind Erwachsene (in Familie, Schule, Gemeinde) zu einem unspektakulären Reden von Gott zu ermutigen. Gott sollte ein allgemeines “Gerücht” in der Wirklichkeit sein, kein Sonderthema.
  5. Im Jugendalter ist neben dem gemeinsamen Erleben verstärkt das kognitive Durchdringen der Gottesfrage wichtig. Die Frage der individuellen und kollektiven Zukunft, die Theodizee und die Kirche müssen offen und dogmatisch substantiell thematisiert werden.
  6. Die “synthetisch-konventionelle” Gestalt jugendlichen Glaubens ist zu akzeptieren, zur Sprache zu bringen und behutsam der Reflexion und Kritik auszusetzen.
  7. Die Predigt dürfte weithin die Fähigkeit der Hörenden überschätzen, Gott zugleich transzendent und immanent, Autonomie setzend wie begrenzend zu denken. Eine genauere Analyse der Gottesvorstellungen der Gemeinde könnte manchem (etwa moralistischen) Missverständnis abhelfen.
  8. Die Kirchengemeinden sollten einen Schwerpunkt ihrer erwachsenenbilderischen Arbeit auf die Glaubensbildung legen.
  9. Neu zu konzipieren ist auch eine Religionspädagogik des Alters, wenn denn das Bonmot “Mit dem Alter kommt der Psalter” als traditionelle Fiktion erwiesen ist.
  10. Die Freundlichkeit Gottes und der Glanz, welcher von daher auf Menschen und Dinge fällt, ist der Ausgangspunkt selbstgewissen und selbstkritisch-humorvollen religionspädagogischen Handelns.

 

Literaturverzeichnis

  • Bucher, Anton. A.: Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln, Freiburg/Schweiz 1990.
  • Barz, Heiner: Postmoderne Religion. Die junge Generation in den alten Bundesländern(= Jugend und Religion 2), Opladen 1992.
  • Erikson, Erik H.: Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt/M. 1975 (amerik. 1958).
  • Fowler, James W.: Stages of faith. The Psychology of human Development and the Quest for Meaning, New York 1981 (deutsch: Gütersloh 1991)
  • Gestrich, Christof: Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt. Die christliche Lehre von der Sünde und ihrer Vergebung in gegenwärtiger Verantwortung,Tübingen 21996 1989
  • Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland,Gütersloh 1994.
  • Jugend ´92 (Studie im Auftrag des Jugendwerks der Deutschen Shell), Bd. 1:Gesamtdarstellung und biografische Porträts, Opladen 1992.
  • Klie, Thomas: (Hrsg.) ... der Werbung glauben? Mythenmarketing im Zeitalter de rÄstethisierung (Arbeitshilfen BBS 20), Loccum 1995
  • Meyer-Blanck, Michael: Ursprung und Tiefe. Einige religionspädagogische Anmerkungen zu Eugen Drewermanns Märchen- und Bibelauslegung, in: Ev. Erz. 48/1996, H.1 (im Druck).
  • Nipkow, Karl Ernst: Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf. München 31990 1987.
  • Scholz, Ingrid: Raum für Mädchen - Raum für Gott, in: KU-Praxis 34/1996, S. 129 - 139.
  • Schweitzer, Friedrich: Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, München 1987 (21991)
  • Spiegel-special: Die Eigensinnigen. Selbstporträt einer Generation (November 1994)
  • Steffensky, Fulbert: Von Gott sprechen, wenn die Worte fehlen, in: KU-Praxis 34/1996, S. 13 - 14.
  • Wegenast, Klaus/Lämmermann, Godwin: Gemeindepädagogik. Kirchliche Bildungsarbeit als Herausforderung, Stuttgart u.a. 1994.
  • Welker, Michael: Kirche im Pluralismus, Gütersloh 1995.
  • Zuckmayer, Karl: Als wär´s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft, Frankfurt/M 1966

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/1996

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