Gelesen: Einquartiert bei den Großeltern

Von Oliver Friedrich

 

Als der Ich-Erzähler in Joachim Meyerhoffs Roman „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ seine Schauspielausbildung in München beginnt, entscheidet er sich, mit seinen Großeltern zusammen in deren Haus zu wohnen. Das tägliche Leben des Großvaters, der Philosoph war, und der Großmutter, die selbst Schauspielunterricht gegeben hat, orientiert sich am geregelten Konsum alkoholischer Getränke. Der Ich-Erzähler wird einerseits von den alten Menschen in ihren Alltag eingebunden, andererseits begegnet er den Tücken des Altseins und er erfährt immer wieder, welche Unterschiede zwischen einer Schauspielausbildung damals und heute bestehen.

 

Ich ließ mich rückwärts aufs Bett fallen und sah durch das Fenster den hochgerühmten Trompetenbaum in voller Blüte. Ich döste weg und wurde von der glockenhellen, aber auch glockendröhnenden Großmutterstimme aus dem Tiefschlaf gerissen. „Lieberling, sechs Uhr, Whisky-Zeit.“ Als ich ins Wohnzimmer kam, schenkte mein Großvater gerade ein. „Wasser nimmst du dir selbst. Sei gegrüßt!“ Wir stießen an. Herrlich ölig und scharf gab mir der Alkohol wieder Kraft. „Du hast ja eine ganze Stunde geschlafen, ja gibt’s denn so was! Mooahhhh. So, und jetzt erzähl mal. Wie war es denn heute? Dein erster Tag auf der Schauspielschule.“ Meine Großmutter machte ihre neugierigen Augen. Und so begann ich meine Erzählung.

Sie waren wundervoll interessierte Zuhörer und Nachfrager und ihre gewählte Ausdrucksweise, ihre Gabe, eine Unterhaltung als etwas Essenzielles zu begreifen, das Sprechen und Zuhören zu zelebrieren, gab Gesprächen immer etwas Feierliches. Es war nie Geplauder. Das schlechte Gehör meines Großvaters und die jederzeit zu Melodramatik neigende Großmutter machten mir an diesem Abend allerdings ordentlich zu schaffen.

Ich sagte: „Und dann mussten wir alle zwei Zettel ziehen. Einen Schriftsteller und ein Tier. Ich habe Fontane und Nilpferd gezogen. Eine Passage aus ‚Effi Briest‘. Jetzt muss ich am Freitag versuchen, wie ein Nilpferd ‚Effi Briest‘ zu sprechen.“ Beide sahen mich fassungslos an, so als würden sie zwar gerne reagieren, aber es schlichtweg nicht können, da sie für das soeben Gehörte keinerlei Koordinatensystem in sich finden konnten. „Wie bitte?“, rief mein Großvater. „Ich muss als Nilpferd ‚Effi Briest‘ sprechen!“ Mein überdeutliches Formulieren, Verkürzen und Laut-Reden war wie ein Bloßstellen der Worte: nackt und ungeschützt standen sie da. „Was hat er gerade gesagt?“, fragte mein Großvater meine Großmutter, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Ich weiß nicht genau. Ich glaube, er muss ein Nilpferd spielen.“ „Ein was?“ Er hielt sich wie im Märchen die gewölbte Hand ans Ohr. „Ein was, bitte?“ „Mein Gott, Hermann, ein Nilpferd! Stimmt doch, oder?“ Ich nickte.

Mein Großvater sah meine Großmutter an, überlegte einen Moment und fragte: „Warum?“ Er sprach dieses Warum mit geradezu biblischer Schlichtheit. Es klang wie die letzte noch zu stellende Frage. „Warum?“, reichte meine Großmutter die Frage an mich weiter. Da ich kurz innehielt, legte meine Großmutter nach. „Wir wüssten wirklich gerne alle beide langsam mal, warum?“ Ich wollte mich nicht blamieren, wollte das, was ich selber absonderlich fand, hier vor ihnen verteidigen. „Es ist, glaube ich, der Versuch, durch das Tier an diesen komplizierten Text heranzukommen.“ Meine Großmutter rief meinem Großvater zu: „Er will so an den Text rankommen!“ „Als Nilpferd?“, fragte mein Großvater. Meine Großmutter schlug die Hände an die Stirn. „Du Armer, wer hat sich denn diesen Humbug ausgedacht?“ „Unsere Mentorin. Gretchen Kinski.“ „Was bitte, Gretchen Kinski? Die Gymnastiklehrerin?“ „Nein, die macht mit uns Improvisationen, gibt auch Rollenunterricht.“ „Hermann, stell dir vor, er hat Rollenunterricht bei Gretchen Kinski!“ „Was, bei der Gymnastiklehrerin?“ „So hab ich es verstanden.“ Elementar erschüttert wiederholte sie das Unglaubliche: „Die war doch früher, als ich da noch unterrichtet habe, nichts weiter als eine Gymnastiklehrerin.“ „Aha!“, sagte ich ratlos.

Mein Großvater wollte es nun ganz genau wissen. „Jetzt erkläre mir das mal bitte: Was hat ‚Effi Briest‘ mit einem Nilpferd zu tun?“ Ich überlegte lange. „Na, nichts“, sagte ich, „genau das ist die ja die Idee.“ Mein Großvater lächelte. „Diese Antwort ist für einen Philosophen eine echte Herausforderung!“ Meine Großmutter applaudierte ihm, drei kurze angedeutete Beifallsklatscher. Das tat sie andauernd, wenn sie seinen spitzfindigen Äußerungen huldigte. „Ach, du armer Junge! ‚Effi Briest‘ mit der Gymnastiklehrerin! Arme Effi!“ „Wie bitte?“, mischte sich mein Großvater erneut ein. „Arme Effi, habe ich gesagt.“ Mein Großvater schüttelte den Kopf und triumphierte mit: „Armes Nilpferd!“ Wir alle drei lachten, und ich schenkte mir noch einen Whisky ein.

„Morgen lernen wir unsere Lehrer kennen und dann geh ich in den Zoo und schau mir mal so ein Nilpferd an.“ „Früher“, meine Großmutter spülte sich den Whisky durch ihre etwas zu weiß geratenen Schneidezähne, „früher, da hat man auf einer Schauspielschule an Rollen gearbeitet und ist nicht in den Zoo gegangen.“ „Rollenarbeit gibt es erst ab dem zweiten Jahr.“ „Du lieber Himmel, und was macht ihr denn das ganze erste Jahr?“ „Viel Improvisation, Körperarbeit, Workshops, haben sie gesagt, Gesang, Sprecherziehung sicher auch.“ „Na immerhin. Du musst dein Norddeutsch in den Griff bekommen. Es heißt nicht Kese, sondern Kääse und auch nicht Medchen, sondern Määdchen. Leider hör ich so was ja alles. Das ist eine solche Unart von dir, mein Lieberling!“

Meine Großmutter war tief in ihrem Sessel zusammengesunken. Vielleicht war ihr durch meinen Bericht die Zeit, als sie noch als Schauspiellehrerin gearbeitet hatte, wieder in den Sinn gekommen. Das viele Nichtstun in diesem wunderschönen Haus war ihr oft eine Last. Mein Großvater begann davon zu schwärmen, wie er einst „Effi Briest“ mit neunzehn auf einer Wanderung durch die Karpaten gelesen hatte. Er hielt inne, überlegte und fragte: „Wie hieß noch mal der Mann von Effi? Von Stetten?“ Meine Großmutter drückte sich ruckartig im Sessel nach oben und rief: „Von Stetten? Hermann, ich bitte dich. So einen Unsinn habe ich schon lange nicht mehr gehört! Er hieß doch … Herrschaftszeiten, wie hieß der noch mal?“ Ich hatte keine Ahnung.

Sie dachte nach, sah dabei aus wie jemand, der bedrohliche Stimmen hört. „Wartet mal kurz“, sie musste wegen ihres schmerzenden Beines einen Augenblick verharren, bevor sie das Zimmer verließ. Ich hörte sie die Treppe hochgehen, den unterschiedlichen Klang ihrer Absätze, da das eine Bein nicht so belastbar war wie das andere.

Mein Großvater schüttelte gerührt den Kopf. „Jetzt holt sie das Buch. Es lässt ihr keine Ruhe, etwas nicht zu wissen.“ Wir warteten auf die Rückkehr der Großmutter. Wenn sie nicht im Zimmer war, verfiel ich mit meinem Großvater in ein ratloses Schweigen. Ihn beunruhigte das weit weniger als mich. Ich war eingeschüchtert durch sein würdevolles Aussehen, dadurch, dass der Beruf dieses Mannes das Denken an sich war. Nie verließ mich die Sorge, ihn durch Banalitäten zu langweilen, ihn durch meine Leichtgewichtigkeit in seiner Schwergewichtigkeit zu stören. Dann lieber schweigen und sich der Illusion der Ebenbürtigkeit hingeben.

In diesem Moment wurde deutlich, wie sehr meine Großmutter diejenige war, die die Worte in der Luft hielt, der die Aufgabe zukam, für Lebendigkeit und Leichtigkeit zu sorgen. Das Schweigen meines Großvaters hatte etwas Versteinerndes, als würde mich sein Intellekt mit einer Kruste überziehen.

Meine Großmutter kam mit dem Roman wieder und verkündete: „Instetten! Baron von Instetten heißt der.“ Und dann schlug sie das Buch mittig auf und las uns ein paar Zeilen vor. Sie machte das großartig: Wurde leise und laut, schneller und langsamer, und alle Bilder erstanden prächtig aus ihrem Vortrag. Am Ende war ich regelrecht ergriffen und landete umso härter als mein Großvater sich zum mir vorbeugte und sagt: „Das war doch wirklich toll, oder? Und weißt du was, alles ganz ohne Nilpferd.“ Es wurde dann aber noch ein sehr schöner Abend, und wir tranken zu viel und redeten bis Mitternacht.

Und so begann ich denn ein neues Leben: Als erwachsener Enkel im Haus meiner Großeltern und als staunender Anfänger auf der Schauspielschule.

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„Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ Joachim Meyerhoff,
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