Wie kommt das Wort Gottes zu den Menschen? – Die Bibelgesellschaften

Von Steffen Marklein

 

Hast du die Bibel gelesen?“, fragt der Landstreicher Wladimir seinen Freund Estragon in Samuel Becketts berühmten Theaterstück „Warten auf Godot“. Nach einigen Gedankenpausen antwortet dieser: „Möglich. Ich erinnere mich an die Karten vom Heiligen Land. Bunte Karten. Sehr schön. Das Tote Meer war blassblau. Wenn ich nur hinguckte, hatte ich schon Durst. Ich sagte mir, da werden wir unsere Flitterwochen verbringen. Wir werden schwimmen. Wir werden glücklich sein.“

Samuel Beckett bringt es auf den Punkt: Die Bibel ist heute für viele Menschen ein Buch ohne Bedeutung. Sie zeugt möglicherweise von einer großartigen Vergangenheit, doch ihre Botschaft, ihr Herzensanliegen wird nicht mehr verstanden. So bleiben die Bilder und Karten im Einband, an die man sich erinnert. Ein kurzes Durchblättern und Überfliegen der Seiten muss als Lesen genügen.

Was heute als Herausforderung einer christlich-kulturellen Identität angesehen wird, hat bereits vor gut zweihundert Jahren Menschen in Mitteleuropa bewegt. In einer Zeit großer politischer, wirtschaftlicher und religiöser Umbrüche kam es – von England ausgehend – zur Gründung zahlreicher Bibelgesellschaften im deutschsprachigen Raum.

Die Bewegung besaß eine doppelte Motivation: Napoleon war 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig besiegt worden. Nicht nur in den Augen einfacher Gläubiger, sondern auch vieler einflussreicher Politiker sollte eine Rückbesinnung auf die Bibel einen wesentlichen Beitrag für eine neue friedliche Ordnung in Europa leisten. Um einen umfassenden Einfluss auf die gesellschaftliche Neugestaltung zu haben, musste die Bibel für jedermann erschwinglich sein. Hierzu trugen die Mitglieder der Bibelgesellschaften tatkräftig bei. Daneben wurden die Bibelgesellschaften durch die sogenannte „Erweckungsbewegung“ geprägt. Häufig als Gegenbewegung zu der auch in der Kirche zunehmend verbreiteten „Vernunftreligion“ der Aufklärung beschrieben, hoffte man hier auf eine Verlebendigung des Glaubens, deren Grundlage nicht die erklärende Vernunft, sondern allein die Bibel sein sollte. Eine lebendige volksmissionarische Tätigkeit sollte auf der Basis der Bibel aufgebaut werden.

Beide Traditionsstränge sind bis heute in der Arbeit der Bibelgesellschaften erkennbar geblieben.

Nach der Gründung der Hannoverschen Bibelgesellschaft 1814 entstanden im Königreich Hannover im Bereich der anderen Konsistorien weitere Gesellschaften, so in Osnabrück (1815), Aurich (1816), Stade (1816) und Göttingen (1818). Bis heute haben sie sich als eigenständige Bibelgesellschaften im Gebiet der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers erhalten. Nach der Trennung von der „British and Foreign Bible Society“ (1824) waren die Bibelgesellschaften für den Druck und die Herausgabe von Bibelausgaben auf zusätzliche Spenden und Kollekten angewiesen. 1835 kam es erstmals zu der bis heute praktizierten Kollekte für die Arbeit der Bibelgesellschaften. Sie wird am sogenannten „Bibel-Sonntag“ jeweils am letzten Sonntag im Januar in den Gemeinden erbeten.

Die Aufgaben und Arbeitsschwerpunkte der Bibelgesellschaften haben sich in den letzten Jahren verändert. Der Verkauf und die allgemeine Verbreitung von Bibeln stehen für die regionalen Bibelgesellschaften nicht mehr so stark im Mittelpunkt ihrer Arbeit wie noch in der Vergangenheit. In diesem Bereich arbeitet man eher mit dem örtlichen Buchhandel zusammen. Weiterhin jedoch wird auf vielfältige Weise über Bibelausgaben, Sekundärliteratur zur Bibel u. ä. informiert. Wer beispielsweise eine gute Kinder- oder Schulbibel sucht, kommt heute ohne eine qualifizierte Beratung nicht aus. Nur in Glücksfällen findet man sie im „Buchladen um die Ecke“. Damit aber öffnen und erweitern sich heute die Arbeitsfelder der Bibelgesellschaften. Je nach ehrenamtlichen Engagement und hauptamtlicher Unterstützung werden bibelpädagogische Veranstaltungen in Gemeinden, Kirchenkreisen, Bildungseinrichtungen u. ä. durchgeführt. Kindergärten und Schulen nehmen an gemeinsamen Projekten und Ausstellungen „rund um die Bibel“ teil. Es werden Vorträge und Bibelkurse angeboten. Auch im Internet werden Unterrichtsmaterialien zur Bibel gezielt gesammelt und kostenlos zur Verfügung gestellt. Von der schlichten Bibelverbreitung hat sich so der Schwerpunkt verschoben zur Bildungsarbeit mit der Bibel.

Einen Eindruck über Themen und Veranstaltungen erhält man beispielsweise durch einen Blick in das aktuelle Jahresprogramm der Hannoverschen Bibelgesellschaft. Sie reichen von „Steinwurf und Kriegsgeschrei. Bibliodrama zur Erzählung von David und Goliath“, „Dem Volk aufs Maul geschaut? Die neue revidierte Lutherbibel“ und „Kinderbibeln – mit Kindern gemeinsam das Leben entdecken“ bis hin zu „Das Leben und die Passion Jesu Christi – Filmkunst und Bibel“, „Bibelfit – ein ökumenischer Bibel-Coaching-Workshop“ und „Rette dein Leben und sieh nicht hinter dich – Bibelseminar zur Geschichte von Lot und seiner Frau“.

Das „Lesen“ der Bibel erschöpft sich heute nicht mehr in der Bereitstellung von Bibelleseplänen. Es erfordert neue kreative Zugänge. Denn die Geschichten der Bibel gewinnen dann für uns an Bedeutung, wenn wir eigene Lebenserfahrungen und -Themen in ihnen wiederentdecken. So können Kinder, Jugendliche und Erwachsene im Glauben wach bleiben und wachsen.

Die Arbeit der Bibelgesellschaften ist von Beginn an ökumenisch ausgerichtet gewesen. Die Mitgliedschaft als Einzelperson, Gemeinde oder Einrichtung ist nicht an eine Konfession gebunden. Trotzdem existieren heute zwei große Dachverbände. Zum einen gibt es die evangelisch geprägte „Deutsche Bibelgesellschaft“ in Stuttgart. Alle regionalen Bibelgesellschaften und Bibelzentren sind hierin Mitglied. Zum anderen gibt es das katholische „Bibelwerk“, ebenfalls mit Sitz in Stuttgart, aber auch mit einer eigenen regionalen Struktur. Bibelwerk und Deutsche Bibelgesellschaft arbeiten in enger ökumenischer Partnerschaft zusammen. Neben der Herausgabe und Vermarktung zahlreicher Bibelausgaben wie zum Beispiel der Lutherrevision 2017 oder der Einheitsübersetzung 2016 widmen sie sich in auch der Herausgabe von wissenschaftlichen Bibelausgaben wie der bekannten hebräischen „Stuttgartensia“ oder dem griechischen Neuen Testament, bekannt als Ausgabe „Nestle-Aland“. Außerdem wird das digitale Angebot von Bibelausgaben, Lexika u.a. kontinuierlich erweitert.

Wer in Niedersachsen Kontakt mit den Bibelgesellschaften aufnimmt, trifft auf eine aufgeschlossene Mitarbeiterschaft und einen vielfältigen Unterstützerkreis. Meistens engagieren sich die Mitglieder ehrenamtlich in den Regionen vor Ort. Da es zur Zeit kein eigenes Bibelzentrum im Raum von Niedersachsen mehr gibt, sind die Bibelgesellschaften auf eine gute Vernetzung, die gegenseitige Unterstützung sowie Kooperationsbereitschaft angewiesen. Hierzu dient unter anderem das „Netzwerk Bibel Niedersachsen“, in dem nicht nur die Bibelgesellschaften, sondern die gesamte ökumenische Vielfalt der Arbeit mit der Bibel im Raum Niedersachsens zusammengeführt und sichtbar gemacht werden soll. Das Netzwerk unterstützt die Arbeit mit der Bibel in seinen unterschiedlichsten Formen und Facetten. Es regt gemeinsame Projekte an, vermittelt Referenten, verweist auf Veranstaltungen. Wer in dieses Netzwerk aufgenommen und darin mitwirken will, ist herzlich zur Teilnahme eingeladen.

„Hast du die Bibel gelesen?“ – Die Bibel ist bis heute die Grundlage des christlichen Glaubens. Ohne sie gäbe es keine Kirche. Ohne sie sähe die Welt heute anders aus als sie ist. Doch die Bibel bleibt ein sperriges Buch. Wer sie lesen, verstehen, neu entdecken will, nimmt sich viel vor. Manchmal braucht es mehr Zeit, Geduld und Phantasie als gedacht. Die vermeintlichen Antworten werden zu Fragen, die neu aufbrechen lassen, eigene Suchbewegungen initiieren, die Freiheit und Verantwortung des Glaubens erneut ins Spiel bringen. So verstaubt manchem das Image der Bibelgesellschaften vorkommen mag – das Herzensanliegen bleibt diese Lebendigkeit, die biblische Texte zum Wort Gottes macht. Gut wenn sich hierfür immer wieder Menschen gewinnen und begeistern lassen.

2-17_marklein
Die Bibelgesellschaften in der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers. – © Karte: Ev.-luth. Landeskirche Hannovers 2016