Wenn in Geschichten Gottes neue Welt aufblitzt - Mit Kindern über Gleichnisse nachdenken

von Beate Peters

 

Mit Kindern apokalyptischen Vorstellungen nachzugehen, wird im Sinne religionspädagogischer Zielsetzungen eher nicht lernförderlich sein. Apokalyptische Schreckensszenarien und Gut-Böse-Zuschreibungen wollen analysiert und symbolisch gedeutet werden und erfordern ein hohes Reflexionsniveau, wenn sie gewinnbringend bearbeitet werden sollen. Geht man von Zukunftsvorstellungen der Kinder selbst aus, offenbart sich ein interessanter Befund: Wie die Studie „Jugend.Leben 2012“ (vgl. Fraij, in diesem Heft, S. 58ff.) zeigt, entwickeln Kinder per se eher hoffnungsvolle Zukunftsvorstellungen in Bezug auf die Welt insgesamt.

Nicht nur in wöchentlichen Erzählkreisen wird allerdings deutlich: Kinder im Grundschulalter nehmen durchaus sehr tiefgehend Krisensituationen in persönlichen und auch in globalen Zusammenhängen wahr und lassen sich emotional oft stark dadurch berühren. Doch in der Regel sind ihre Vorstellungen auf überschaubare Zeiträume bezogen, entwickeln sich Geschichtsverständnis und die Vorstellung von Zukunftsperspektiven doch erst im Laufe der Zeit differenzierter.

Eher doch wird es hilfreich sein, Kindern durch Geschichten, die Hoffnung machen und deutlicher auf das Hier und Jetzt bezogen werden können, Stärkung anzubieten und Potenziale des eigenen Handelns vor Augen zu führen. Dabei steht nicht die Komplexität der großen weiten Welt im Vordergrund, sondern der Fokus wird auf Aspekte gelenkt, die das unmittelbar wahrnehmbare Leben betreffen.

Geschichten vom Reich Gottes bebildern in vielfältiger Weise Vorstellungen von einer Welt, die nicht allein durch menschliche Maßstäbe und Werte geprägt wird, sondern in der ein gutes erfülltes Leben in der Nähe Gottes möglich ist. Die Evangelien bieten eine Vielzahl an Gleichnissen, die – angelehnt an Erfahrungen mit der Natur oder mit Menschen – in eine eigene Erzählwelt einladen, die oft bekannte Wirklichkeitserfahrungen aufnimmt, diese aber überraschend wendet und überbietet. Innerhalb der Gleichniserzählungen ereignet sich etwas, das in der Alltagswelt häufig gerade nicht so zu finden ist. Im Sinne einer metaphorischen Gleichnisauslegung ereignet sich im Gleichnis selbst etwas, das das Reich Gottes innerhalb des Erzähl- und Wahrnehmungsgeschehens präsent macht. Das Himmelreich komme im Gleichnis als Gleichnis, so formuliert z. B. Wolfgang Harnisch in Anlehnung an Hans Weder (vgl. Harnisch 2002, 15). Gleichniserzählungen laden dazu ein, in den Handlungsverlauf einzusteigen, sich in die Handlung verwickeln zu lassen und aus der Perspektive der Protagonisten heraus mitzuerleben, was ihnen widerfährt. In überraschenden Zufällen erfahren Figuren darin oft, dass ihnen etwas oder jemand begegnet, der eine lebensförderliche Wende auslöst (z. B. begegnet dem verlorenen Sohn der Vater überraschend aufgeschlossen und herzlich). Ohne dass auf Sperriges, Schwieriges verzichtet wird, wird meist eine hoffnungsvolle Perspektive eröffnet, die neues Leben ermöglicht.

Deshalb laden Gleichnisse dazu ein, sie in Szene zu setzen und durchaus unterschiedliche Erfahrungen aus den Perspektiven der Figuren heraus nachzuvollziehen, um Bekanntes, Widersprüchliches und auch Hoffnung Machendes zu entdecken. Es lohnt sich, mit Kindern lange und intensiv in der Handlungsebene zu bleiben, um Resonanzräume im eigenen Leben zu nutzen.

Theologisch betrachtet beinhaltet die Vorstellung des „Reiches Gottes“ präsentische und futurische Aspekte. Es geht sowohl um ein Leben bei Gott im Hier und Jetzt als auch um die Vision eines zukünftigen, im Hier und Jetzt nicht erreichbaren gelingenden Lebens in unmittelbarer Nähe zu Gott. Für die unterrichtliche Umsetzung wird der präsentische Aspekt als Anknüpfungspunkt im Mittelpunkt stehen, der zwei wesentliche Bereiche berührt: Die Frage danach, was hält und trägt und Hoffnung macht (nach Gott/Jesus Christus fragen) sowie die Frage nach der Gestaltung des Lebens im Hier und Jetzt und dem entsprechenden eigenen Anteil (Nach der Verantwortung des Menschen in der Welt fragen).

Mögliche Kompetenzen für den 3. und 4. Schuljahrgang können sein:

  • Die Schülerinnen und Schüler wissen, dass Jesus Gottes neue Welt verkündet und gelebt hat. (Nach Jesus Christus fragen)
  • Die Schülerinnen und Schüler können ihre Fragen nach Gott und ihre Gottesvorstellung zu bestimmten Geschichten und zu eigenen Erfahrungen in Beziehung setzen. (Nach Gott fragen)
  • Die Schülerinnen und Schüler kennen biblische Texte, die davon erzählen, dass Gott dem Menschen Verantwortung zutraut und übergibt. (Nach der Verantwortung des Menschen in der Welt fragen)
     

Vor der Durchführung einer Unterrichtssequenz gilt es zu bedenken, welche sprachliche Formulierung genutzt werden soll: „Reich Gottes“ impliziert ein Königreich und könnte den Charakter des ganz anderen betonen. Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, von „Gottes neuer Welt“ zu sprechen. Diese Formulierung, die auch im Kerncurriculum verwendet wird, setzt beim Bekannten an: Wir leben in der Welt. Gleichzeitig impliziert sie, dass es etwas Neues geben könnte. Dieses Neue knüpft aber an dem Vertrauten an und lässt offen, ob dieses verändert oder gänzlich erneuert wird.
 


Mit einem Gleichnis-Erzählkoffer Gottes neuer Welt auf der Spur

Um zu verdeutlichen, dass Gleichnisse einer Erzählgattung angehören und Aspekte von Gottes neuer Welt in den Mittelpunkt rücken, bietet es sich an, für den Unterricht einen gemeinsamen Rahmen zu schaffen. Zum Beispiel könnten in einem Geschichten-Koffer Requisiten bzw. Symbole für verschiedene ausgewählte Gleichnisse zusammengestellt und nach und nach präsentiert werden. Um für die Kinder den Bezugspunkt, d. h. die Frage nach dem Reich Gottes, nachvollziehbar zu machen, könnte die Gleichnisthematik zum Beispiel folgendermaßen eingeführt werden (je nach Klassensituation und Konzentrationsfähigkeit gekürzt):

„Wo kann man eigentlich Gott in der Welt finden? Schon immer haben Menschen darüber nachgedacht. Als Jesus lebte, wünschten sie sich, dass Jesus alles zum Guten verändern und endlich Gottes Welt sichtbar werden sollte. „Wo ist sie denn nun, die Welt Gottes?“, fragten diejenigen, die Jesus nicht vertrauten. Jesus sagte nicht: „Schaut doch her, hier ist sie, die Welt Gottes!“. Er machte es anders: Er brachte die Menschen zum genauen Hinsehen, zum Hinhören und zum Nachdenken. Deshalb antwortete er nicht direkt. Er erzählte Geschichten von Gottes neuer Welt. –
Diese Geschichten werden bis heute erzählt. Man kann darin versteckt etwas von Gottes neuer Welt entdecken. Aber man muss hinsehen, hinhören und nachdenken …
Ich habe schon viel über die Geschichten nachgedacht und einige für euch ausgewählt. Die habe ich hier in meinem Geschichtenkoffer versteckt. Vielleicht finden wir in den Geschichten auch etwas über Gottes neue Welt.“

In den folgenden Ausführungen wird anhand zweier Gleichnisse beispielhaft entfaltet, wie mit Schülerinnen und Schülern einer dritten Klasse gearbeitet werden kann. Ziel ist es, dass die Schülerinnen und Schüler den Handlungsablauf verschiedener Gleichnisse kennen und entsprechende Gleichnisinhalte auf die Frage nach Gottes neuer Welt beziehen können.

Je nach zeitlichen Möglichkeiten könnte sich jedes Kind selbst einen Gleichniskoffer bzw. eine kleinere Gleichniskiste (Schuhkarton) herstellen, der im Laufe der Zeit mit entsprechenden Symbolen und Bildern der behandelten Gleichnisse gefüllt wird. Auch die Frage nach der Außengestaltung könnte der Beschäftigung mit den Gleichnissen dienen: Wie soll die Kiste gestaltet sein, wenn sie von Gottes neuer Welt erzählen soll?
 


Beispiel 1:
Alles muss klein beginnen – die Geschichte vom kleinen Anfang und großen Ende

Die Geschichte vom Senfkorn ist das kürzeste Gleichnis, das vom Wachstum eines winzig kleinen Senf-Körnchens zum großen Senfbaum erzählt, in dem die Vögel ihr Nest bauen. Dieses Wachstumsgleichnis bebildert auch die Kraft, die sich schon in den Anfängen des Reiches Gottes verbirgt und macht Hoffnung auf eine Entwicklung zu einem guten, lebensdienlichen Ende hin. Die Entwicklung vom Kleinen zum Großen ist Kindern nahe, nehmen sie doch ihr eigenes Wachstum wahr und sind sie oft sehr interessiert an Naturereignissen. Das Bild vom Senfbaum wird nicht von allen Kindern sogleich auf das Reich Gottes hin gedeutet werden können. Im Religionsunterricht der Grundschule geht es aber darum, Bilder und Geschichten anzubieten, denen ein großes Deutungspotenzial zu eigen ist, das es im Laufe der Zeit zu entdecken und auf Situationen des Lebens hin zu befragen gilt. In einer ersten Unterrichtssequenz zur Frage nach dem Reich Gottes sowie in späteren Einheiten sollte immer wieder die Frage nach Deutungsmöglichkeiten angeboten und gemeinsam bedacht werden, um die Prozesshaftigkeit der Suche nach Bedeutungen zu unterstützen und verschiedenen Denkniveaus der Kinder gerecht zu werden.

Erster Schritt: Vom winzig kleinen Körnchen

Wir bilden einen Sitzkreis um eine vorbereitete Mitte: In ein braunes Tuch habe ich vor dem Unterricht vier Hände voll Blumenerde gelegt und das Tuch so zu zusammengenommen, dass in der Mitte vier Zipfel sichtbar sind. Spontan äußern sich einige Kinder: „Das ist ja heute ganz schön braun in der Mitte.“ „Vielleicht ist da Erde drin.“ „Aber wieso ist sie eingepackt?“ Ich nehme das Päckchen aus der Mitte, gebe es im Kreis herum und bitte die Kinder, nur zu fühlen und evtl. zu riechen, ohne etwas zu sagen. Anschließend lege ich die verpackte Erde zurück und wähle vier Kinder aus, die nacheinander vorsichtig jeweils einen Zipfel ziehen dürfen. Diese stille Phase konzentriert die Kinder und macht sie offenbar gespannt auf das Kommende. Ich öffne den Gleichniskoffer nur ein wenig und suche – mit der Hand auffällig tastend – nach einer kleinen vorbereiteten Schachtel. Nur diese hole ich heraus und zeige sie den Kindern. „In dieser kleinen Schachtel steckt die kürzeste Geschichte, die ich euch jemals erzählt habe. Aber es steckt eine große Kraft in ihr. Vielleicht entdecken wir etwas darin über Gottes neue Welt. – Beinahe könnt ihr die Geschichte sogar selbst erzählen. Schließt bitte die Augen und öffnet eine Hand. Ich lege jedem und jeder den Anfang der Geschichte in die Hand. Fühlt mal genau, ohne zu gucken.“

Als jedes Kind ein Samenkörnchen in der Hand hält, äußern sich wiederum die Kinder spontan: „Äh, das ist ja klein!“ „Ist vielleicht Gottes Welt, weil sie so klein ist. Man sieht sie ja fast nicht.“ „Ach dafür ist die Erde da, dass wir die Körnchen da rein legen!“ Damit kein Körnchen verloren geht, legen wir nun tatsächlich die Körnchen in den kleinen Erdhaufen in der Mitte. „Da liegen sie nun, die Körner. Und – wie denkt ihr geht nun die Geschichte?“ Ich bitte die Kinder, die in dieser Klasse gut zusammenarbeiten können und überwiegend gern schreiben, sich zu zweit zusammenzutun und eine kurze Geschichte zum Samenkorn zu schreiben.

(Eine Möglichkeit der Erarbeitung für Klassen, in denen sich das selbstständige Schreiben nicht anbietet, ist die Erarbeitung durch eine Verklanglichung, an der alle Kinder beteiligt werden. Klassen, die gut selbstständig arbeiten können, könnte der kurze Text M 1 für eine Gruppenarbeit zur Verfügung gestellt werden. Mit Klassen, in denen eine stärkere Lenkung sinnvoll ist, könnte das Gedicht M 2 gemeinsam verklanglicht werden.)

In dieser Klasse ist allen Geschichten schließlich gemein, dass aus dem Körnchen etwas wächst. Wir arbeiten heraus, dass zum Wachstum Licht, Wasser, Erde und viel Zeit nötig sind. Schließlich erzähle ich das Gleichnis in Anlehnung an Luther und die Kinder reagieren kurz darauf: „Die Geschichte ist ja fast so wie unsere.“ „Irgendwie komisch, dass aus so einem winzigen Samenkorn so ein riesiger Baum wird!“ Zur musikalischen Illustrierung singen wir den Refrain des Liedes „Alles muss klein beginnen“ von Gerhard Schöne (M 3) und machen am Ende jeder Zeile entsprechende Geräusche:
Zum Abschluss der Stunde überlegen wir Titel für die Geschichte: „Vom Kleinen zum Großen“ „Ein Wunder – es wächst!“ „Aus einem Samenkorn wird was!“
Zur Vorbereitung der Hausaufgabe bespreche ich mit den Kindern, wie man ein Daumenkino herstellt und biete als Option eine Vorlage zum Kolorieren an (M 4). Es bebildert das Wachstum, kann zur Wiederholung in der Folgestunde genutzt und später als Erinnerung in einer eigenen Gleichniskiste aufbewahrt werden.

Zweiter Schritt: Von Körnchen und Baum zur Frage nach Gottes neuer Welt

Als stummen Impuls lege ich in der Folgestunde wieder das braune Tuch mit Erde und Samenkörnern in die Mitte. (Ggf. können hier Samenkörner genutzt werden, die schnellwachsend sind wie z. B. Kresse, so dass schon Veränderungen sichtbar sind.) Daneben lege ich ein großes Fragezeichen, das als Zeichen für das gemeinsame Fragen und Nachdenken eingeführt ist, und ein Schild mit der Aufschrift „Gottes neue Welt“. „Hä, versteh ich nicht! Sollen in Gottes neuer Welt Bäume wachsen?“ Ich bitte die Kinder, noch mal an die ganze, wenn auch kurze Geschichte zu denken. Ein Kind wiederholt den Ablauf, so dass der Prozess des Werdens in den Blick gerückt wird. „Vielleicht wird Gottes Welt auch mal ganz groß.“ „Aber vielleicht muss sie erst wachsen.“ „Vielleicht ist sie ganz klein. Man sieht sie gar nicht. Aber wo soll sie dann sein?“

Ich ermutige die Kinder, der Frage nach Gottes neuer Welt auf der Spur zu bleiben und bei dem anzufangen, was wir kennen.

Wir überlegen: „Was beginnt klein und unscheinbar und endet groß und schön?“

„Gibt es auch etwas zwischen Menschen, das man nicht sehen kann, das klein und unscheinbar beginnt und groß und schön endet?“ Sehr unterschiedlich sind die Antworten der Kinder, manche sehr konkret und angelehnt an die Bilder des Gleichnisses. Andere zeugen von Transferleistungen: „Irgendwie ist das doch auch so mit Freunden. Also zuerst muss man sich mal genauer kennen. Dann spielt man vielleicht mal zusammen. Und dann wird man immer mehr befreundet. Und dann hat man irgendwann einen guten Freund.“

Zur weiteren Auseinandersetzung biete ich verschiedene Aufgaben an, die nach Möglichkeit den unterschiedlichen Lernmöglichkeiten der Kinder entsprechen. Deshalb wähle ich sowohl Aufgaben, die in der Ebene der Geschichte bleiben, als auch Aufgaben, die darüber hinausgehen:

  • Suche dir eine Partnerin oder einen Partner. Erzählt die Geschichte noch einmal und nutzt dafür Instrumente, die ausdrücken, was passiert.
  • Das Samenkorn erzählt seine Geschichte. Schreibe sie auf: Ich bin ein kleines Samenkorn. Wenn ich in die Erde komme, ist es dunkel um mich herum. Damit ich wachsen kann, brauche ich …
  • Jesus erzählt die Geschichte. Seine Freunde überlegen: Was will Jesus eigentlich damit sagen? Schreibe ein Gespräch der Freunde auf.
  • „Mit Gottes neuer Welt ist es wie mit einem kleinen Samenkorn, das zum großen Baum wird.“ Wie würdest du diesen Satz erklären?

 


Beispiel 2:
Ansehen und Angesehen werden – die Geschichte von einem, dem Ansehen zufiel

Ein weiteres Gleichnis soll hier beispielhaft entfaltet werden, so dass der prozesshafte Charakter der Bearbeitung der Frage nach dem Reich Gottes deutlich wird. Ich wähle das lukanische Gleichnis vom barmherzigen Samariter aus, in dem es um die Frage der Zuwendung von Menschen, ihren Beziehungen und Vorurteilen geht. Anders als das Gleichnis vom Senfkorn entfaltet es in einem dramaturgischen Handlungsaufbau die Entwicklung einer Situation und den Umgang verschiedener Charaktere mit ihr, mit denen man sich – je nach eigener Geschichte – identifizieren kann. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach dem Nächsten, die in der Rahmenhandlung von Schriftgelehrten gestellt und am Ende von Jesus umgekehrt wird: Es gilt nicht, vom eigenen Standpunkt aus zu sehen, sondern die Perspektive des anderen einzunehmen: Für wen bin ich der Nächste? In der Geichnisauslegung zeigen sich unterschiedliche Akzente: Die Geschichte könnte als Beispielgeschichte für gutes Handeln gedeutet werden, aber im Sinne einer metaphorischen Deutung könnte der Akzent auch stärker auf das unerhörte Ereignis der Zuwendung gelegt werden, so dass dieser Zu-Fall aus der Perspektive des Verletzten als Erlebnis des Reiches Gottes gedacht wird. Ich möchte die Geschichte so anbieten, dass Kinder sich in verschiedene Perspektiven hineindenken und aus der Perspektive des Verletzten die Wirkung des Handelns der anderen Personen assoziieren sollen. Der Unterricht zielt also nicht im Sinne von Beispielgeschichten auf unmittelbare Konsequenzen im eigenen Handeln, doch soll durchaus die Empathie gefördert werden. Außerdem soll am Ende das Gleichnis auf Aspekte von Gottes neuer Welt hin befragt werden.

Als Anknüpfungspunkt und Zugangsweise wähle ich die Frage nach dem Ansehen und Angesehenwerden, weil sie ein elementares Bedürfnis jedes Menschen betrifft. Gerade in Jesus-Geschichten lassen sich viele Begegnungen auf die Frage des Ansehens hin bedenken. In den Unterricht baue ich zur Wahrnehmungsschulung kleine Übungen zum Sehen, genauen Hinschauen und gegenseitigen Ansehen ein, um so auch die Klassengemeinschaft und das Selbstwertgefühl einzelner zu stärken. – In dieser Geschichte lassen sich viele Aspekte des Ansehens finden, z. B. sehen die Vorbeigehenden den Verletzten an und sofort weg oder der Samariter sieht über die Grenzen des Fremdseins hinweg und das Leid des Verletzten direkt an. – Zur Weiterführung können der Aspekt des Ansehens und die Frage nach dem Nächsten und dem Fremden vertieft werden. Auf dieser Grundlage kann schließlich wiederum ein Zusammenhang zur Frage nach Gottes neuer Welt hergestellt werden.

Erster Schritt: Szenische Darstellung im Gleichniskoffer

Für diese Geschichte öffne ich den Koffer und lege ein schwarzes Tuch über die Rückwand. An der vorderen Kante des Koffers habe ich einen zehn Zentimeter langen, drei Zentimeter hohen Streifen aus Styropor befestigt, der für die Befestigung von Stabfiguren (M 5) benutzt werden kann. Der gesamte Bodenbereich ist grünbraun gestaltet und erinnert an einen Weg.

Ich erzähle die Geschichte in Anlehnung an den Erzähltext von Irmgard Weth (M 6). Dabei habe ich den Gleichniskoffer vor mich gestellt und stecke entsprechend die Figuren fest. Dabei bleibt die Personenkonstellation besonders eindrücklich vor Augen. Wie gewohnt, äußern sich die Kinder nach der Erzählung spontan: „Ganz schön ätzend, da so zu liegen!“ „Und zu denken, gleich stirbt man!“ „Hatten die sowas Wichtiges vor, dass die beiden Männer nicht mal genauer geguckt hatten?“ „Vielleicht hatten die auch Angst, dass das nur vorgespielt ist vom Verletzten und sie auch überfallen werden.“ „Dass gerade der Ausländer hilft, ist ja auch merkwürdig.“ Wir überlegen, was der eigentlich genau anders macht als die beiden anderen:

„Der guckt genau hin.“ „Der nimmt sich Zeit.“ „Der versorgt den Verletzten.“ Gemeinsam singen wir das Lied „Wo ein Mensch Vertrauen gibt“ (M 7) und überlegen, inwiefern das Lied etwas mit der Geschichte zu tun hat und inwiefern in der Geschichte aus einer Wüste ein Garten geworden ist.

Zweiter Schritt: Perspektiven übernehmen und selbst in die Rollen schlüpfen

In der folgenden Phase kann aus einer Auswahl an Aufgaben gewählt werden:

  • Gestaltet ein Standbild, in dem alle Personen aus der Geschichte vorkommen. Bildet eine Fünfergruppe. Überlegt gemeinsam, wie und wo die Personen sich platzieren sollen. Bestimmt dann, wer von euch der Standbilderbauer sein soll und legt die übrigen Rollen fest. Der Standbildbauer soll am Ende drei Fotos von eurem Standbild machen.
  • Suche dir eine Person aus der Geschichte aus und nimm dir ein passendes Figuren-Bild. Klebe die Figur auf und beschrifte eine Gedankenblase für sie mit ihren Gedanken zu der Szene auf dem Weg zwischen Jerusalem und Jericho.
  • Male eine Bildergeschichte als Konturengeschichte in schwarz-weiß. Überlege zuerst, wie viele Bilder du brauchst, um die Geschichte verständlich zu erzählen. Nimm dir einen Papierstreifen und teile ihn in die passenden Abschnitte ein. (Du kannst ein Zickzack-Büchlein falten oder eine Geschichtenrolle gestalten.)
  • Stell dir vor, der Verletzte schreibt einen Brief aus der Herberge an seinen Freund, in dem er erzählt, was er gerade erlebt hat. Was schreibt er? Übernimm diese Aufgabe und schreibe selbst den Brief.
     

In der Präsentationsphase stellen die Kinder ihre Ergebnisse vor und erhalten Rückmeldungen von den anderen in Bezug auf die Nachvollziehbarkeit. Nach Möglichkeit werden Standbilder erneut gestellt, so dass geäußert werden kann: „Was sehe ich?“ „Was denken die Personen?“

Dritter Schritt: Ansehen erleben und in der Geschichte entdecken

Eine weitere Stunde beginnt mit einer Übung zum Ansehen: Wir singen erneut das Lied „Wo ein Mensch Vertrauen gibt“. Dabei darf ein Kind beginnen aufzustehen und ein zweites ansehen, das daraufhin ebenfalls aufstehen und ein anderes ansehen darf. Dieses verfährt wiederum ebenso mit einem weiteren Kind und so weiter. Kinder, die bereits ein Kind angesehen haben, stellen sich in einer Reihe an, die gleichzeitig zur Vorbereitung der nächsten Übung dient. Wir singen weiter, bis schließlich jedes Kind in der Reihe steht.

Ich beginne mit der zweiten Übung bei dem Kind, das als letztes seinen Platz verlassen durfte. Ich schaue dem Kind in die Augen, gebe ihm die Hand und sage: „Schön, dass du da bist, …!“ Dann wechsle ich zum nächsten Kind in der Reihe und verfahre ebenso. Das erste Kind folgt mir und schaut dem Kind ebenfalls in die Augen, gibt ihm die Hand und sagt den Satz. Dieses Kind schließt sich uns an und verfährt ebenso. Wir gehen weiter in der Reihe und geben auf diese Weise jedem Kind die Hand. Wer am Ende der Reihe angekommen ist, setzt sich auf seinen Platz.

Dort sprechen wir darüber, wie es ist, wenn man ansieht und angesehen wird. Dabei kann auch Unangenehmes zur Sprache kommen. – Ich öffne den Gleichniskoffer und stecke wieder die Figuren zur Geschichte auf. Daneben stecke ich nun ein kleineres Fragezeichen-Schild und ein Schild mit dem Wort „Ansehen“. Die Kinder überlegen und benennen, wo sie in der Geschichte Ansehen wahrnehmen. „Vielleicht muss einer von denen, die den Verletzten nicht richtig ansehen, zu Hause was Dringendes ansehen.“ „Vielleicht sieht einer von den beiden auch zu Hause sein Herz an und merkt, dass er nicht richtig hingeguckt hat.“

Vierter Schritt: Vom Ansehen zur Frage nach Gottes neuer Welt

Wieder lege ich neben den Gleichniskoffer das bekannte Fragezeichen und das Schild „Gottes neue Welt“. Einige Kinder haben schnell Ideen: „Vielleicht sieht man sich in Gottes neuer Welt gut.“ „Ja, wahrscheinlich wird da keiner einfach liegen gelassen.“ „Da sieht man, wenn einer Hilfe braucht.“ „Und man hilft dem auch so richtig.“

Ich ergänze ein Klassenfoto neben dem Fragezeichen. Nach anfänglichem Zögern beziehen die Kinder die letzten Äußerungen auf die Klasse: „Manchmal ist das bei uns ja auch so, dass einer Hilfe braucht.“ „Und wenn man Glück hat, kriegt man auch Hilfe.“

Nach einigen weiteren Äußerungen lege ich zusätzlich ein Daumenkino und ein paar Samenkörner in die Mitte. Ich frage direkt: „Was könnte Gottes neue Welt mit uns zu tun haben?“ „Hm. Also, wir können so klein wie ein Samenkorn anfangen. Zum Beispiel in der Pause und können nicht einfach weggucken.“ „Oder wenn jemand was nicht kapiert, dann können wir helfen. Vielleicht kapiert in einer anderen Klasse trotzdem nicht jeder alles. Aber das Kapieren ist schon ein bisschen gewachsen.“

Die Antwortversuche auf die Frage nach Gottes neuer Welt können in diesem Sinne mitwachsen – im Rahmen einer Unterrichtssequenz und darüber hinaus im Laufe der Grundschulzeit. Wenn es gelingt, dadurch eine Fragehaltung zu fördern und die Lust daran zu unterstützen, sich auf Bedeutungssuche zu begeben, ist Grundlegendes zur religiösen Bildung beigetragen.

Im besten Falle bleiben Kinder als Heranwachsende selbstständig auf der Spur der Fragen – vielleicht auch mithilfe einer Gleichnis-Kiste, mit der sie Verbindungen zwischen Erinnerungen an Selbsterstelltes in ihrer Schulzeit, Inhalten zum Nach-Denken, dem Hier und Jetzt und der Perspektive der Hoffnung herstellen können.
 


Literatur

  • Baldermann, Ingo: Gottes Reich – Hoffnung für Kinder. Entdeckungen mit Kindern in den Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1999
  • Harnisch, Wolfgang: Die Gleichniserzählungen Jesu, 3. Auflage 2002
  • Weth, Irmgard: Neukirchener Kinderbibel, Neukirchen-Vluyn 16. Auflage 2008
  • Müller, Peter u. a.: Die Gleichnisse Jesu. Ein Studien- und Arbeitsbuch für den Unterricht, Stuttgart 2002
  • Zimmermann, Ruben (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007
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