Literarische Texte im Religionsunterricht? - Chancen und Beispiele

von Georg Langenhorst

 

Hermeneutische, didaktische und methodische Vorbemerkungen

Seit den 1950er Jahren, seit der Öffnung zu hermeneutischen Konzeptionen des Religionsunterrichts, gehören literarische Texte zu den grundlegenden Medien dieses Schulfachs, aufgenommen in Schulbücher oder Handreichungen, präsentiert in thematisch und didaktisch aufbereiteten Anthologien. Zunächst orientierte man sich ausgehend von Paul Tillichs Korrelationsverständnis an den Schemata von Frage-Antwort oder Problem-Lösung, wobei den literarischen Texten jeweils der erste Pol, der biblischen Botschaft der zweite zugedacht war (vgl. Langenhorst 2011, 16-22).

In den letzten 30 Jahren verschiebt sich das Interesse hin zu einer wirklich dialogisch verstandenen Herausforderung: Literarische Texte sind nicht nur als Provokation, Anregung, Problemschilderung und Anfrage didaktisch interessant für den Religionsunterricht, sondern gerade in der Form ihrer ästhetischen Gestaltung als eigenständige Ebene des Zugangs zu Wirklichkeit und Möglichkeit. Nach heutigem Verständnis geht es eher um ein Ausloten der spezifischen Chancen von literarisch vermitteltem religiösen Lernen – im Blick auf Lebenserfahrungen, vielfältige Weisen der Weltdeutung, interreligiöse Perspektiven und sprachliche Versuche der Annäherung an Transzendenz.

Diese neue didaktische Ausrichtung hängt eng zusammen mit einer auf breiter Ebene, wenn auch in völlig verschiedenartiger Form erfolgenden, neuen Öffnung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur für religiöse Fragen (vgl. Langenhorst 2009). Nach Jahrzehnten der vorherrschenden Religionsdistanz schreiben sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller unserer Zeit ohne Scheu in Bereiche von Religion, Konfession, Transzendenzsuche hinein. Ihre Texte lassen sich nicht in den vorher üblichen religionsdidaktischen Deuterahmen einspannen. Gerade diese Sperrigkeit wird zur Chance zu einem neuen Nachdenken über den hermeneutischen, didaktischen und methodischen Ort von literarischen Texten im Religionsunterricht.

Eine Warnung vorweg: Theologinnen und Theologen, Religionspädagoginnen und Religionspädagogen mag das Nachspüren der neuen Präsenz von Religion in der Gegenwartsliteratur Freude bereiten und zu theologischen wie didaktischen Inspirationen anregen. Einen vergleichbaren Enthusiasmus darf man von Schülerinnen und Schülern nicht erwarten. Für sie sind auch literarische Texte eben genau das: Texte. Also Medien, die im Religionsunterricht im Übermaß eingesetzt werden, selten anregend, kaum die eigene Lebenswelt betreffend. Im Unterricht scheitert jede überzogene Erwartung an die Motivationskraft eines dichterischen Zugangs zur Welt. Konsequenzen:

  • Literarische Texte dürfen nicht zu oft eingesetzt werden;
  • wenn, dann als Zentralmedium anstelle von Sachtexten;
  • didaktisch so, dass ihr ästhetischer Charakter im Zentrum steht;
  • methodisch so, dass die Chancen des handlungs- und produktionsorientierten Zugangs genutzt werden.

 

Wie das funktionieren und was damit gewonnen werden kann, welche konkreten Perspektiven sich für den Religionsunterricht aus einer Integration von zeitgenössischen literarischen Texten ergeben können, soll im induktiven Verfahren anhand von zwei konkreten Beispielen aufgezeigt werden. Im Sinne der Konzentration beschränken wir uns hier auf Gedichte, die Ausweitung auf erzählende Texte und ‚Ganzschriften‘ wäre unschwer möglich (vgl. dazu Zimmermann 2012).

 

Ludwig Steinherr: Glauben

An Versuchen, Wesen und Funktion von ‚Religion‘ sowie Eigenart und Grenzen von ‚Glauben‘ zu bestimmen, mangelt es in Philosophie, Religionswissenschaft und Theologie nicht. Meistens zeichnen sie sich dadurch aus, analytisch, definitorisch, funktional oder empirisch die Begriffe und ihr Bedeutungsfeld auszuloten. Literarische Annäherungen erfolgen grundlegend anders. Sie versuchen eher in Andeutung, über Einfühlung und ‚von innen‘ Glauben verstehbar zu machen. Das wird an einem kleinen neueren lyrischen Text idealtypisch deutlich.

Der Autor, Ludwig Steinherr (*1962), lebt als promovierter Philosoph und freier Schriftsteller in München. Seit 1985 veröffentlichte er elf Gedichtbände, die zwar ihre Leserinnen und Leser und Aufmerksamkeit finden, aber – wie Gegenwartslyrik überhaupt – nie in das Licht der großen Öffentlichkeit treten. In seinen unprätentiösen, keiner literarischen Mode verpflichteten Versen spiegeln sich alltägliche Gegenwartserfahrungen mit philosophischen Reflexionen und Wirklichkeitsdeutungen. Ohne dass Religion ein dominierendes Themenfeld würde, gehören die religiösen Erfahrungs- und Deutungsebenen selbstverständlich in den literarischen Kosmos Steinherrs. „Glauben“ lautet die Überschrift eines kleinen Textes aus dem Jahr 2005 (Steinherr 2005, S. 103).

Glauben
Die Hand
ins Feuer legen –
Die Hand
die im Feuer liegt
so
oder so

Das Gedicht verkörpert nichts weniger als eine auf das Wesentliche reduzierte verdichtete lyrische Reflexion über das Wesen von Glauben. Aufgegriffen wird das Sprichwort „die Hand für jemanden ins Feuer legen“. Diese Redewendung geht auf den grausamen mittelalterlichen Brauch zurück, dass man Angeklagten – verstanden als eine Art ‚Gottesurteil‘ – tatsächlich die Hände in ein Feuer legte und je nach Schwere der Verbrennung auf die Schwere der jeweiligen Schuld zurück schloss und dann entsprechend die Strafe bestimmte. Unschuldige, so dachte man, würde Gott vor Verbrennung verschonen …

Heute fungiert die Redewendung als bildlicher Ausdruck dafür, sich einer Sache zwar völlig sicher zu sein, ohne sie jedoch letztlich beweisen zu können. Sie steht dafür, sich für jemanden ohne Einschränkung zu verbürgen, jemandem unbedingt und vorbehaltlos zu vertrauen, so sehr, dass man die Möglichkeit, getäuscht zu werden, von Vornherein ausschließt. Denn der vermeintliche Einsatz, das (Ver-)Brennen der eigenen Hand, ist so absurd, dass er gar nicht realistisch angedacht wird.

Dieses im normalen Sprachgebrauch auf Personen bezogene Sprichwort wird in der ersten Versgruppe auf die abstrakte Dimension des Glaubens übertragen. So also ist Glaube: ein Akt des unbedingten und vorbehaltlosen Vertrauens, ein Handeln aus subjektiver Gewissheit, die sich objektiv letztlich nicht beweisen lässt. Und die gerade so das öffentliche Zeugnis, das Bekenntnis braucht – denn nur in Augenblicken der Not bekennt man öffentlich, für jemanden (oder etwas) „die Hand ins Feuer“ zu legen. Aber, so zeigt die entscheidende zweite Versgruppe: Es handelt sich um ein Vertrauen, das eigentlich nur die Bestätigung für einen Zustand ist, der vorgängig bereits immer schon gegeben ist. Der Mensch ist immer schon in die Gottesbeziehung eingestiftet, die er nur bewusst annehmen und gestalten kann („so“) – oder aber ignorieren und ablehnen („oder so“) kann. An dem Grundzustand, der vorgängigen Einbindung in Religion, an der religio in Gott ändert das nichts. Glauben ist so die bewusste Annahme und das öffentliche Bezeugen dessen, was das Wesen des Menschen ausmacht.

Wie lässt sich das Gedicht im Religionsunterricht – ab der neunten Klassenstufe – einsetzen? Zwei thematische Kontexte legen sich nahe: einmal der Blick auf das Wesen des Menschen, zum anderen der Blick auf den Begriff ‚Religion‘. Bevor den Schülerinnen und Schülern das Gedicht präsentiert wird, sollte man sie mit dem Sprichwort „die Hand für jemanden ins Feuer legen“ konfrontieren. In einem Schreibgespräch können sie sich in Gruppen oder zu zweit Notizen dazu machen, was sie damit verbinden. Mögliche Leitfragen: Wie kann man das Sprichwort in anderen Worten erklären? Habt ihr schon einmal für jemanden „die Hand ins Feuer gelegt“? Welche anderen Gedanken fallen euch dazu ein? Die Schülerinnen und Schüler dürfen dabei auch graphisch und zeichnerisch arbeiten. Erst nach einer Bündelung der Ergebnisse wird dann das Gedicht präsentiert als Beispiel dafür, wie ein Dichter unserer Zeit das zuvor genau beleuchtete Sprichwort aufgreift und gestaltet. Im Interpretationsgespräch können zunächst Parallelen zu den eigenen Assoziationen herausgearbeitet, dann Unterschiede und Unverständliches benannt werden. Deutungsimpulse des Lehrenden können zu einer kritischen Rückfrage überleiten: Überzeugt diese literarische Annäherung an das Wesen von Glauben? Als Rundung bietet sich ein Impuls zum kreativen Schreiben an: Die Schülerinnen und Schüler sollen ihrerseits einen knappen, an den Formvorgaben von Steinherr orientierten Kurztext darüber schreiben, wie sie selbst „Glauben“ verstehen. Von diesen persönlichen Annäherungen an das Wesen von Glauben ist es nur ein kurzer Sprung bis hin zur Frage, was denn diesen Glauben inhaltlich auszeichnet.

 

SAID: Psalmen der Einforderung

Die Frage, was Glauben inhaltlich auszeichnet, treibt auch den Autor des zweiten Beispieltextes um, wenngleich in völlig anderer Perspektive. Es handelt sich um den seit über 40 Jahren in Deutschland lebenden, muslimisch aufgewachsenen Exiliraner SAID (*1947). Mit Gedichtbänden, Hörspielen, politischen Essays und erzählerischer Prosa hat er sich einen Namen gemacht und wurde vielfach preisgekrönt (vgl. Gellner/Langenhorst 2013, S. 222-241). Aufsehen erregte vor allem ein Lyrikband, der im Jahr 2007 erschien und mit einer überraschend religiösen Thematik aufwartete. „Psalmen“ nennt SAID seine 99 Gedichte und schlägt damit schon im Titel den bewussten Bogen zu den alttestamentlichen Gebeten. Mit der Zahl 99 spielt SAID bewusst auf die vor allem im Islam bezeugte Tradition der ‚99 schönen Namen Gottes‘ an. Ausgespannt zwischen den spirituellen Grundgesten von Lob, Preis, Dank, Bitte und Klage haben alle Psalmendichterinnen und -dichter ihren je eigenen Zugang gesucht. Doch nie so radikal wie hier. Für SAID – doppelt vertrieben vom Regime des Schahs wie von den Mullahs; gezeichnet vom Wissen um Folter, Ermordungen und äußerste menschliche Grausamkeit gegen sein Volk (darunter engste Freunde), selbst religionsfern aufgewachsen im Hallraum des Islam – sind die Psalmen vor allem eines: Texte der Einforderung des Eingreifens Gottes.

In der christlichen Spiritualität hat sich erst in den letzten Jahrzehnten die vom Alten Testament angebotene Einsicht durchgesetzt, dass Klagen einer der Grundvollzüge einer lebendigen Gottesbeziehung sein kann. Aber ‚Einforderung‘? Tatsächlich leben die biblischen Psalmen auch von diesem Sprachduktus: Gottes ausbleibende Hilfe wird nicht nur beklagt; Gottes wirksames Handeln wird nicht nur erfleht, erbeten und erhofft, sondern konkret eingefordert. Diese spirituelle Haltung ist im Christentum, geschweige denn im Islam kaum entwickelt. Bei SAID steht sie im Vordergrund. Von Lob, Preis und Dank ist hingegen keine Rede. Schon diese bewusst gesetzte Einseitigkeit verdeutlicht, dass die Rezeption dieser Gedichte von (produktiven) Spannungen und Auseinandersetzungen bestimmt ist. Aber mehr noch: Alle 99 Psalmen richten sich in direkter Anrede an den ‚Herrn‘. SAID gibt jedoch offen zu, an den Gott der monotheistischen Religionen nicht glauben zu können, bestenfalls auf der Suche nach ihm zu sein, ohne die Erwartung, ihn wirklich finden zu können.

Was also findet sich in diesem Gedichtband? Versuche, ganz eigenartige, heutiger Spiritualität verpflichtete Psalmen zu schreiben, die sich im Spannungsrahmen von Islam, Judentum, Christentum und Humanismus bewegen. Wer nach Bestätigung von bereits nur zu gut Bekanntem und Gewusstem sucht, wird hier nicht fündig. Texte wie der folgende (SAID 2007, S. 60) wollen provozieren und herausfordern:

herr
gib dass ich unbelehrbar bleibe
mich vor der kompatiblen vernunft schütze
und deren postmodernen furien
so dass ich meine erregbarkeit nicht verliere
denn dann verlöre ich auch dich
höre auf mich
oh herr
nicht auf diejenigen
die auf dich hören
denn sie sprechen
von einer mischung aus gott und vernunft
nützlich und konvertierbar

Immer wieder greift SAID diejenigen an, die sich im Besitz Gottes glauben, die vorgeben, Gottes Willen zu kennen und auszuführen, egal, welcher Religion oder Konfession sie verpflichtet sind. Dem stellt er eine rebellische eigene Spiritualität der erregbaren Suche entgegen, eine Spiritualität des Nichtwissens, des sich einer theologisch ausgefeilten vernünftigen Gotteslehre Verweigerns. „Kompatible Vernunft“ als Zugang zu Religion – darin scheint ihm das Grundübel von jeglichem Missbrauch und der letztlich Desavouierung der Gottesidee zu liegen.

Für die Auslegung zentral: SAIDs Texte sind auf mehreren Ebenen lesbar. Im Wissen um den Hintergrund des Verfassers kann man sie als Gegenrede zu den biblischen Psalmen lesen, die im Spiegel der fiktiven Anrede des ‚Herrn‘ eigene Gefühle, Gedanken, Überlegungen in Sprache bringen. „das gedicht entsteht aus der schwäche des gebets – diese chronische krankheit unserer Zeit“ (SAID 2008, S. 100), so schreibt SAID 2008 in einem Nachwort zu den Gedichten des Jesuiten Georg Maria Roers. Weil das klassische Gebet in unserer Zeit ‚schwach‘ ist, ‚chronisch krank‘, braucht es Gedichte als Ersatz … Soweit die eine Lesart.

Genauso gut lassen sich die Texte im Gefolge der Tradition der islamischen Mystik aber auch als Zeugnisse innerhalb einer Gottesbeziehung lesen und deuten, in der Klage und Einforderung eben jener Platz zukommt, der ihnen in der Bibel selbst auch gewährt wird. Folgt man dieser Lesart, so liegen hier Zeugnisse des Ringens um eine neue Gottesrede vor, entstanden aus tiefster Befangenheit und Verstrickung. Dann geht es um eine Gottesbeziehung, die von Auseinandersetzung und Konflikt bestimmt ist, von Unsicherheit und Zweifel, von Trotz und Erwartung gegen alle Erfahrung.

Als sinnvollster didaktischer Ort dieses Gedichtes im Religionsunterricht (der Oberstufe) lässt sich die Ebene der Infragestellung, der Herausforderung traditioneller Vorstellungen bestimmen. Gut möglich, dass einige Schülerinnen oder Schüler, potentiell natürlich auch die Lehrkraft, die benannten Anfragen teilen und unterstützen. Es bietet sich an, diesen Text nach der Lektüre eines biblischen Psalms in den Unterricht aufzunehmen, um alten und neuen Text, Vorbild und Variation vergleichen zu können. Dabei sollten die spirituellen Grundgesten der Psalmen: Lob, Preis, Dank, Bitte und Klage benannt und problematisiert werden. Welche Sprachform ist uns vertraut, welche fremd? Welche haben einen Sitz im Leben in unserem Alltag, welche nicht (mehr)? Was lässt sich daraus schließen, dass sich SAID auf den ungewöhnlichen Gestus der Einforderung konzentriert?

Der Text selbst wählt in der Du-Anrede die Form des Dialogs. Diese Form kann man methodisch nutzen, indem man den Dialog aufnimmt: Die Lerngruppe erhält den Text so auf ein Blatt kopiert, dass rechts ausreichend Platz für eigene Zeilen bleibt. Wenn SAID „Gott“ probehalber herausfordernd anspricht, können die Schülerinnen und Schüler ihm probehalber antworten. Sie schreiben zu jeder Zeile eine Antwort, Reaktion oder einen Kommentar – sei es aus der Perspektive des angeredeten ‚Herrn‘, sei es aus ihrer eigenen Lebenserfahrung; so entsteht ein eigenständiger Begleittext. Ob dieser selbst wie ein poetischer Text gestaltet wird oder eher wie eine Addition zusammenhangloser Rückfragen, bleibt jedem selbst überlassen.

Im Blick auf den Originaltext wie auf die von den Schülerinnen und Schülern produzierten Begleittexte geht es am Ende darum, Fragen und Ziele für die weitere Unterrichtseinheit zu formulieren: Mit welchen Herausforderungen und Fragen will man sich im Folgenden näher beschäftigen? Beispiele dazu könnten sein: Was sagen denn „diejenigen, die auf dich hören“ über Gott? Ist das tatsächlich so verwerflich? Ist die übliche Rede von Gott wirklich eine „Mischung aus Gott und Vernunft“? Und wenn, ja: Ist das ein Fehler? Ist diese Mischung wirklich durch Konvertierbarkeit und Anpassbarkeit korrumpierbar, oder schützt sie gerade vor Missbrauch? SAIDs Text öffnet so ideal den Zugang zu einer Unterrichtseinheit über Gotteslehre.

 

Chancen zur Förderung von Kompetenzen

Literarische Texte können selbst Zeugnisse religiöser Suche und religiöser Positionierung sein. Durch ihre verdichtete Form, durch den Freiraum fiktional durchgespielter Authentizität bieten sie dem Religionsunterricht ganz eigene Chancen, regen sie die Ausbildung spezifischer Kompetenzen bei den Schülerinnen und Schülern an. Fünf derartige Chancen zur Förderung von Kompetenzen lassen sich theoretisch abgrenzen und im Blick auf die ausgewählten Gedichte verdeutlichen (vgl. Langenhorst 2011, S. 57ff.).

 

Textspiegelung

Von Textspiegelung kann man dann sprechen, wenn in einem literarischen Text ein Bezug auf – aus dem religiösen Bereich entlehnte – ‚Prätexte‘ deutlich wird, wenn also in Zitat, Anspielung, Motiv, Stoff oder Handlungsgefüge auf vorhergehende Texte Bezug genommen wird. Bei SAID etwa geht es um eine Spiegelung der alttestamentlichen Psalmen. Zwei Dimensionen werden so einander jeweils gegenüber gestellt: der literarische Text und die mit verschärftem Blick betrachtete biblische Texttradition. Die Schülerinnen und Schüler können in dieser Hinsicht ihre Wahrnehmungskompetenzen im Umgang mit vernetzten Textbezügen ausbauen. Sie lernen die Besonderheit religiöser und literarischer Texte kennen und verstehen, wie sie aufeinander aufbauen und in Beziehung zueinander stehen.

 

Sprachsensibilisierung

Schriftstellerinnen und Schriftsteller reflektieren intensiv über die zeitgemäßen Potentiale und Grenzen von Sprache. In der Auseinandersetzung mit literarischen Texten ergibt sich die Chance, das produktive Erbe gerade religiöser Sprache zu erkennen und für eigenes Schreiben oder eigene Analysen zu nutzen. Auch hier wird also die Wahrnehmungskompetenz der Schülerinnen und Schüler gefördert, etwa im Blick auf das, was ein kurzes Gedicht wie „Glauben“ gerade durch seine Aussparungen und Andeutungen ermöglicht. Zusätzlich geht es jedoch um die Anregung der Ausdruckskompetenz. Die literarisch-ästhetische Ebene drängt danach, eigene Möglichkeiten der religiösen Sprache – sei es spielerisch – auszuprobieren und zu vertiefen.

 

Erfahrungserweiterung

Schriftstellerinnen und Schriftsteller stehen in individuellen Erfahrungszusammenhängen mit sich selbst, anderen Menschen, ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft und lassen diese Erfahrungen in ihren Sprachwerken gerinnen. Lesende haben dabei niemals einen direkten Zugriff auf die Erfahrungen anderer, handelt es sich doch stets um gestaltete, gedeutete, geformte Erfahrung. Über den doppelten Filter der schriftstellerischen Gestaltung einerseits und einer stets individuellen Deutung andererseits ist hier aber zumindest ein indirekter Zugang möglich. Hinter Steinherrs Text scheint die Welt der strengen Wortsuche eines Philosophen auf, hinter SAIDs Psalm die Auseinandersetzung mit den allzu selbstsicheren ‚Gottesbesitzern‘. Durch diese Korrelationen entsteht ein neuer Blick sowohl auf die heutige Erfahrung wie auf die biblischen Texte. Der Aspekt der Erfahrungserweiterung konkretisiert so eine grundlegende Dimension der Deutungskompetenz.

 

Wirklichkeitserschließung

Der didaktische Gewinn für den Religionsunterricht im Blick auf die Deutungskompetenz erschöpft sich aber nicht in der Erfahrungsdimension. Mit der Kategorie der Wirklichkeitserschließung wird noch einmal eine neue Perspektive eröffnet. Während die Erfahrungserweiterung eher ‚zurück‘ schaut, auf die hinter den Texten liegende Erfahrung der Autorinnen und Autoren, blickt diese Perspektive eher nach ‚vorn‘, auf die mit dem Text für die Leserinnen und Leser neu möglichen Auseinandersetzungen. Glaube als unbedingter Akt des Vertrauens (Steinherr), das Ringen um einen ‚Gott auf Augenhöhe‘, der sich gefälligst als wirkmächtig erweisen soll (SAID) – diese Wirklichkeitsdeutungen stehen mit den beiden Gedichten zur Bewährung an.

 

Möglichkeitsandeutung

Literatur lebt schließlich nicht nur von erfahrener und erschriebener Wirklichkeit, sondern vor allem vom „Möglichkeitssinn“, wie es Robert Musil in seinem epochalen Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ benannt hat. „Möglichkeitssinn“, das sei die zentrale Fähigkeit, „alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“. Das so benannte, fiktiv erahnte Mögliche könne man „die noch nicht erwachten Absichten Gottes“ (Musil 1930, S. 16) nennen. Gerade die Kraft der Visionen dessen, was sein könnte, zeichnet die besondere Faszination literarischer Texte aus.

Gewiss geht es auch bei der Möglichkeitsandeutung um die Förderung der Deutungskompetenz der Schülerinnen und Schüler, im Verbund mit einer Sensibilisierung im Bereich der Wahrnehmungskompetenz und einer Schulung der Ausdruckskompetenz. Im Zentrum aber steht hier die spezifische, sicherlich nur in Ausnahmen und ersten Ansätzen mögliche Anbahnung einer Transzendierungskompetenz, also der Fähigkeit, eine die empirische Wirklichkeit übersteigende und sie umfassende Realität zu spüren und zu gestalten. Wie wäre es, wenn der Vertrauensakt des Glaubens wirklich bei Gott aufgehoben wäre (Steinherr); wie, wenn sich Gott auf die Einforderung SAIDs einlassen und sich als wirkmächtig erweisen würde? Die Gedichte öffnen diese Dimension, ohne sie wieder zu schließen. Über die literarischen Texte werden religiöse Lerndimensionen eröffnet, die einerseits der Besonderheit des Glaubens entsprechen und zugleich der Eigenart des zeitgenössischen Gedichts.

 

Literatur

  • Gellner, Christoph/Langenhorst, Georg: Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013
  • Langenhorst, Georg: „Ich gönne mir das Wort Gott“. Annäherungen an Gott in der Gegenwartsliteratur, Freiburg 2009
  • Ders.: Literarische Texte im Religionsunterricht. Ein Handbuch für die Praxis, Freiburg 2011
  • Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman 11930-1943, hrsg. von Adolf Frisé, Reinbek 2001
  • SAID: Psalmen, München 2007
  • Ders.: Nachwort, in: Georg Maria Roers: Bildrauschen. Gedichte, München 2008, S. 100-106
  • Steinherr, Ludwig: Die Hand im Feuer. Gedichte, Norderstedt 2005
  • Zimmermann, Mirjam: Literatur für den Religionsunterricht. Kinder- und Jugendbücher für die Primar- und Sekundarstufe, Göttingen 2012

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2013

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