Das Pippi-Langstrumpf-Evangelium - Eine überfällige theologische Hermeneutik des Kinderbuchklassikers und ihre Didaktisierung in der Oberstufe

von Rainer Merkel

 

“Aber es war, als ob ihnen jemand die Augen zuhielt,
und sie erkannten ihn nicht.” (Lk 24,16)

 

Wer dem Religiösen in Astrid Lindgrens Kinderbuchklassiker Pippi Langstrumpf nachgeht, kann eine bemerkenswerte, völlig unerwartete Entdeckung machen. Dass das Buch als Vorreiter der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur eine implizit religiöse Tiefenstruktur hat, ist nicht sonderlich überraschend. Bei genauerer Betrachtung weist die Erlöserfigur Pippi Langstrumpf darüber hinaus aber weit reichende, eigentlich überdeutliche Jesus-Parallelen auf. Die christliche Tradition ist daher ein überaus fruchtbarer hermeneutischer Schlüssel. Das ist insofern erstaunlich, als das Werk breit erforscht ist, christlich-religiöse Deutungsansätze bisher kaum eine Rolle spielen und Astrid Lindgren nachweisbar nicht im Sinne hatte, ein Jesus-Abbild zu erschaffen. Pippi Langstrumpf entpuppt sich somit als einzigartiger religionsphänomenologischer Glücksfall. 

 

Die gängigen Deutungsansätze  

Pippi Langstrumpf ist eines der meistuntersuchten Kinder- und Jugendbücher überhaupt und “das wohl berühmteste Kinderbuch der Weltliteratur” (Payrhuber 2004, S. 7). Neben zahlreichen Einzelanalysen gibt es allgemein bekannte Rezeptionslinien, die unumstritten sind. Erstens gilt Pippi als Symbol einer neuen Pädagogik und antiautoritären Erziehung. Mit ihrer nonkonformistischen Haltung wurde sie zum Vorbild für Autonome und Anarchisten, in den 70er Jahren zierten Pippi Langstrumpf-Aufnäher bisweilen die Kleidung der Punkkultur. Zweitens vertrat Pippi – Erscheinungsjahr 1945, deutsch 1949 – mit ihrem eigenwilligen Wesen eine untypische und anstößige Form von Weiblichkeit. Der Feminismus späterer Jahrzehnte feierte sie entsprechend als literarische Emanzipationsfigur. Für die Literaturwissenschaft markierte sie drittens den Beginn der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit, anknüpfend an Alice im Wunderland oder Peter Pan. Ihr Humor gab schließlich den Anlass, sie als Beispiel für Komik im Kinderbuch zu analysieren.

Merkwürdig unterbelichtet bleibt dagegen eine religionssensible Lesart. Obwohl zum Beispiel treffend die zwei Naturen der Hauptfigur benannt werden – “das übermenschliche Wesen” im “beschaulichen Alltag” (Nix 2002, S. 231), “zum einen ganz gewöhnliches Kind […], zum anderen das unschlagbare Superkind” (Nölling-Schweers 1995, S. 74) – werden Jesus und die christliche Zwei-Naturen-Lehre nicht assoziiert. Mitunter stößt man auf Aussagen wie “Pippi Langstrumpf verkündet ein Spielevangelium” (Nix 2002, S. 274). So deutlich das Mädchen aber als übernatürliche Erlöserfigur erkannt wird: Ihre jesuanischen Züge werden bisher nicht gesehen und schon gar nicht systematisch erforscht.1

Eine sachliche Erklärung dafür liegt allein darin, dass die literarisch überzeugend ausgestaltete Kindlichkeit Pippi Langstrumpfs völlig untypisch für Jesus ist. Nichtsdestoweniger ist hier ein blinder Fleck der Astrid Lindgren-Forschung aufzuarbeiten, wie schon Anja Ballis vermutet: “Fast könnte man aber den Eindruck gewinnen, dass das Schweigen in der Forschung über Religion im Werk Astrid Lindgrens Methode hat.” (Ballis 2009, S. 24).2

  

Astrid Lindgren und die christliche Religion

Biografischen Zeugnissen ist schnell zu entnehmen, dass Astrid Lindgren seit frühester Kindheit ausgesprochen religiös erzogen und christlich geprägt wurde. Sie wuchs als Bauerntochter auf einem gepachteten Pfarrhof auf. Ihre Mutter sang abends im Bett oft ein Kirchenlied, ihr Vater sprach Vaterunser und Segen (Gräfin Schönfeldt 32007, S. 7f.11.118), die biblische Tradition war ihr vertraut. Dennoch intendierte Astrid Lindgren keinesfalls bewusst, Pippi Langstrumpf analog zu Jesus anzulegen.

Die einzelnen Episoden erfand sie 1944 zur Belustigung ihrer kranken Tochter, die sich den Namen der Figur ausgedacht hatte. Sowohl in ihren Büchern als auch in Selbstaussagen setzt die Autorin Selbstbestimmung, Kindheit und Religion stets in eine programmatische Beziehung. Als Zentrum dieser Beziehung entwirft sie ein biografisch begründetes Kindheitsideal der Freiheit. Der christlichen Erziehung wird dagegen kein Befreiungs-, sondern sogar ein Gefährdungspotenzial zugeschrieben: “Gewiss wurden wir in Zucht und Gottesfurcht erzogen, wie es dazumal Sitte war, aber in unseren Spielen waren wir herrlich frei” (Lindgren 1975/77, S. 38).

Passend dazu schätzt Astrid Lindgren ihr Verhältnis zu Glaube und Kirche ein: “Wenn ich in einer großen Schreibarbeit stecke, so sage ich: Bitte, lieber Gott!, aber dazwischen habe ich nichts mit ihm zu schaffen. Es gibt sicher eine übersinnliche Welt, über die man nicht viel weiß. Ich bin Agnostiker. Man muss abwarten. Die Kirchen aber – darüber lächelt Gott jeden Tag.” (zitiert nach Gräfin Schönfeldt 32007, S. 148). Zudem wehrte sich die Schriftstellerin, auf ihre Intentionen befragt, zeitlebens gegen jedwede didaktische, moralische, politische oder religiöse Vereinnahmung ihres Werkes: “Wenn ich jemals beabsichtigt hätte, die Figur der Pippi zu etwas anderem als der Unterhaltung meiner jungen Leser dienen zu lassen, so wäre es dieses: ihnen zu zeigen, dass man Macht haben kann, ohne sie zu missbrauchen.” (ebd. S. 81, ein ähnliches Zitat bei Payrhuber 2004, S. 10). Auch auf den konkreten Vorschlag, Ronja Räubertocher als Jesus aufzufassen, reagierte sie mit verächtlicher Ironie (Gräfin Schönfeldt 32007, S. 145f.).

Ein weiteres Puzzleteil liefert der Vergleich des ursprünglichen und vom Verlag abgelehnten Manuskripts, 2007 als “Ur-Pippi” auf Deutsch erschienen, mit der “offiziellen” Fassung von 1945. Ursprünglich war die Figur noch alberner, kindlicher, rotziger und stärker im Diesseits verankert als in der entschärften, bearbeiteten Fassung. Nicht nur Pippis biografische Rückbindung an Mutter und Vater ist neu, sie erscheint “gleichsam von der Wirklichkeit befreit und bekommt nahezu mystische Ausmaße” (Lindgren/Lundqvist 2007, S. 127 bzw. 168). Der literarische Ausgangspunkt war also eher das freche Kind, das mit dem herkömmlichen Jesusbild kaum korrespondiert.

 

Die Frohe Botschaft:
Pippi Langstrumpf und Jesus im Vergleich

Die Familienähnlichkeit zwischen Pippi Langstrumpf und Jesus, die im Folgenden aufgezeigt werden soll, ist keine billige Allegorisierung. Lindgrens immer eigenständiges literarisches Schaffen verbindet sich mit einer tief eingewurzelten, christlich-religiös bestimmten Weltsicht, so dass sich unbeabsichtigt engste Parallelen ergeben. 

Die auf den ersten Blick ganz andere Kinderwelt Pippi Langstrumpfs funktioniert nicht anders als die neutestamentlichen Evangelien. Den breitesten Raum nimmt auch im Kinderbuch die Charakterisierung der Hauptfigur ein, die über perikopenartig aneinandergehängte Episoden erfolgt (vgl. ähnlich Nix 2002, S. 231). Alle weiteren Personen haben Statistenrollen. Das gilt letztlich auch für den engeren Jüngerkreis – bei Pippi Langstrumpf die beiden Kinder Thomas und Annika. Die Leserschaft identifiziert sich mit den unschwer als wesensgleich erkennbaren Statisten im Sinne einer “admirative[n] Identifikation” (ebd. S. 235.250). 

Bis in die Stoffverteilung hinein folgen sowohl der Kinderbuchklassiker als auch die Evangelien dramaturgisch derselben dreiteiligen Struktur: Nachdem Wirken und Botschaft facettenreich ausgemalt sind, wird erst in den drei letzten Kapiteln des zweiten Lindgren-Bandes klimaxartig der Verlust des als übermenschlich skizzierten Erlösers aufgebaut: “Pippi Langstrumpf geht an Bord” lautet der Titel. In einem dritten Teil schließlich werden eschatologische Fragen bearbeitet, die an eine jenseitige, paradiesische Welt (“Taka-Tuka-Land”) geknüpft sind. 

 

(1) Wirken und Botschaft
Auch wenn Pippi Langstrumpf keine programmatischen Redepassagen wie die Bergpredigt parat hat, ist ihre zentrale Botschaft offensichtlich. Artig, adrett und vom Leben gelangweilt sind Thomas und Annika geradezu Karikaturen einer erlösungsbedürftigen Kindheit. Pippi befreit von Konventionen, Regeln und Zwängen. Doch auch im Einzelnen entspricht sie dem Bild, das Gerd Theißen und Annette Merz von Wirken und Botschaft Jesu in fünf Kategorien entwerfen: 

Sowohl Pippi als auch Jesus sind Charismatiker (vgl. Theißen/Merz 1996, S. 175ff.): Sie haben eine feste Anhängerschaft, wenden sich insbesondere an die hierarchisch Unterlegenen und entfalten eine außergewöhnliche Wirkung (vgl. etwa M 2, Belege 5 und 11, ähnlich I 132, III 324, u. ö.).3 Zugleich setzen sie sich jeweils mit Gegnern ihres freien, unkonventionellen Auftretens auseinander, Polizisten etwa wollen Pippi in ein Kinderheim bringen (I 36ff.). Zweitens sind sie mit der Botschaft einer befreiten Existenz bzw. freien Kindheit Propheten (vgl. Theißen/Merz 1996, S. 221ff.), in deren Auftreten sich bereits das realisiert, was sich zukünftig und für immer vollenden soll. Ob Pippi, Thomas und Annika am Ende tatsächlich ewiges Kindsein erlangen, indem sie “Krummeluspillen”/Erbsen einnehmen, bleibt offen (M 3, Beleg 18). Eine Gerichtspredigt – bei Jesus der Heilsverkündigung zwar nachgeordnet, aber präsent – spielt für Pippi Langstrumpf keine Rolle. Vielmehr wird in einer Episode ein gerichtliches Antiszenario geschildert, in dem Pippi rettend für die Kinder eintritt (III 314-24, vgl. ausführlich Fischer-Nielsen 1999, S. 49-54). 

Frappierend sind die Parallelen vor allem, wenn man die Protagonisten als Wundertäter in den Blick nimmt (vgl. Theißen/Merz 1996, S. 256ff.). Jesus wirkt Wunder dank einer messianischen, von Gott verliehenen Vollmacht. Pippi Langstrumpf, die dank ihres Vaters über einen immensen Goldkoffer und supranaturale Körperkräfte verfügt, hat eine vergleichbare Machtfülle (M 2, Belege 2 und 9). 

Darüber hinaus nennen Theißen/Merz sechs Gattungen von Wundergeschichten (S. 265-69), die sich alle, mit Ausnahme der Epiphanien, bei Pippi Langstrumpf nachweisen lassen: In Rettungswundern bewahrt sie Kinder vor Schlägen, aus Flammen oder vor einem entlaufenen Tiger (I 29-31, I 123-132, II 216-18). Das kindliche Pendant zu den materiellen Gütern neutestamentlicher Geschenkwunder (Brot, Fische, Wein) sind Bonbons, Spielzeug und Limonade (II 165-71; M 2, Belege 7 und 8). Analog zur Toraentschärfung der Normenwunder stellt Pippi mit Krach und ungesunder Ernährung die Prinzipien der freien Kindheit über die Regeln der Erwachsenen (II 169-71). Merkmale von Exorzismen treffen eindrucksvoll auf die Laban-Episode zu (M 2, Beleg 5). Und mit der freilich negativ als Grenzerfahrung erzählten Totenerweckung eines Vogels ist sogar ein Beispiel der Gattung “Therapien” zu greifen (M 2, Beleg 6). 

Neben Geld und Körperkraft verfügt Pippi über eine weitere Stütze ihres Erfolgs: ihre über-kindliche, entwaffnende Schlagfertigkeit. Wie Jesus schlägt sie ihre Gegner mit rhetorischen Mitteln (M 2, Beleg 4 u. ö.). Beide sind also Dichter (vgl. Theißen/Merz 1996, S. 286ff.), und bedienen sich metaphorischer Rede. So wie Jesu Gleichnisse auf das Reich Gottes verweisen, so sind die (teilweise erlogenen) Geschichten über Kapitän Langstrumpf in mehrfacher Hinsicht Zeichen einer erlösenden Freiheit. Und auch ganz wörtlich hat Pippi Lust am Dichten. Das ursprüngliche Manuskript quillt geradezu über von verrückten Reimen und Gedichten. 

Auch der fünfte Aspekt, die Ethik, zeigt Übereinstimmungen: Als Lehrer (a.a.O. S. 311ff.) folgen sowohl Jesus als auch Pippi dem Liebesgebot, indem sie für Gewaltlosigkeit und Solidarität mit Schwachen eintreten (M 2, Beleg 3). Pippi schenkt Einbrechern Goldstücke zum Abschied und praktiziert damit sogar Feindesliebe (I 109). Sie steht freilich in keiner positiven Gesetzestradition wie Jesus. Angesichts der vielen Gemeinsamkeiten ist das aber ein marginaler Unterschied. 

 

(2) Kreuzigung – Pippi geht an Bord
Theologisch interessant wird es, wenn man den Vergleich zwischen Jesus Christus und Pippi Langstrumpf bis in die Soteriologie hinein weiterverfolgt. Auf den ersten Blick scheint die Kinderbuch-Heldin mit Jesus als Märtyrer (so Theißen/Merz 1996, S. 388ff.) rein gar nichts gemein zu haben. Als urplötzlich der “Südseekönig” erscheint, um seine Tochter zu sich zu holen, zeigt sie eine unbändige und unbekümmerte Freude (II 247f.). Bei Astrid Lindgren tauchen weder Opfer noch Verrat, Stellvertretung oder Schuld auf.4 Aus der admirativen Leserperspektive betrachtet geht es allerdings zweimal um dasselbe: die abrupte Bekanntgabe des unausweichlichen Entzogenseins des Erlösers. Was die Evangelien nachösterlich zu deuten versuchen, wird von Astrid Lindgren als bevorstehende Verlusterfahrung erzählt (vgl. M 2, Beleg 10). So gesehen gibt es bis in retardierende Elemente wie ein letztes gemeinsames Mahl (II 251/263), ein “Ringen” zwischen Vater und Tochter (II 254f.), das Verschließen der Villa Kunterbunt und den quälend langen Fußweg zum Hafen (II 270) auch in Pippi-Langstrumpf eine “Passionszeit”. Unter den “Pippi soll leben”-Rufen der Volksmenge erleiden Thomas, Annika und mit ihnen alle Leserinnen und Leser den Abschied wie einen Tod. Doch Pippi, selbst ihrem Vater gegenüber souverän, ändert im letzten Moment ihren Entschluss und bleibt (M 2, Beleg 11). Es liegt auf der Hand, diesen Effekt als literarische Bewältigung einer für Lindgren inakzeptablen dogmatischen Christologie zu deuten. Die Autorin erzählt hier erstmals gegen die christliche Tradition – und lässt einen außergewöhnlichen Jesusbezug folgen, indem sie Pippi behaupten lässt, man könne auf dem Wasser laufen (M 2, Beleg 12). 

 

(3) Paradies und Ewigkeit – Pippi in Taka-Tuka-Land
Bezeichnenderweise setzt sich Astrid Lindgren mit der selben Problemsituation in einem dritten und letzten Band noch ein weiteres Mal auseinander (vgl. M 3, Beleg 13). Dazu muss sie die Erlösungsbedürftigkeit der Kinder umfassender reformulieren: Thomas und Annika werden in der kalten Umgebung krank und blass. Was literarisch einen deutlichen Schwachpunkt darstellt, ist theologisch erklärbar. Pippis Weigerung, die “irdische” Villa Kunterbunt zu räumen, ließ das Verhältnis von Vater und Tochter unversöhnt und eschatologische Fragen unbeantwortet. Unter den neuen Vorzeichen wird das paradiesische Taka-Tuka-Land mit seinen Negerkindern zu einer leicht dechiffrierbaren symbolischen Gegenwelt des Irdischen. Meer und Schifffahrt stellen einen zeichenhaften Übergang dar (vgl. etwa M 3, Belege 14, 15, 17). Dass Astrid Lindgren auch ihr jenseitiges Paradies im ständigen Dialog mit der christlichen Dogmatik entwirft, macht nicht zuletzt eine Anlehnung an den zweiten Artikel des Glaubensbekenntnisses deutlich (vgl. “er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters” mit M 3, Beleg 16). 

Ein theologisch befriedigendes Ende stellt indes weitere Ansprüche. Zum einen gehören zur vollständigen Versöhnung von Gott und Welt die von Thomas und Annika geliebten Eltern. Zum anderen steht die Frage im Raum, wie der erreichte Heilszustand, im Lindgrenschen Erzählprogramm also das freie Kindsein perpetuiert und auf ewig gesichert werden kann. Selbst dieser literarisch ehrgeizigen Aufgabe stellt sich die Schriftstellerin. Zum Weihnachtsfest (!) lässt sie die drei Kinder in die Heimat zurückkehren. Dort steht am Ende Pippis Versprechen, die sogenannten “Krummeluspillen” würden das Erwachsenwerden verhindern (M 3, Beleg 18). Diese Pillen nicht für getrocknete Erbsen zu halten, sind alle eingeladen – auch die erwachsenen Leserinnen und Leser.

 

Didaktische Überlegungen  

Wie eindrucksvoll und fruchtbar der Pippi Langstrumpf-Vergleich mit Jesus Christus auch ausfällt, so schwierig ist seine Didaktisierung. Joachim Kunstmann und Ingo Reuter treffen das Problem im Kern, wenn sie für die religiöse Spurensuche etwa in der Popularkultur eine “folgenlos bleibende[r] Begeisterung über die immer neue Entdeckung von Religion” konstatieren (Kunstmann / Reuter 2009, 17). Religionspädagogisch stellt sich dieses Problem verschärft. Religiöse Elemente in Beispielen, die eine Lehrkraft für den Unterricht auswählt, sind zwangsläufig immer schon entdeckt. Es ist daher alles andere als trivial, kulturhermeneutische Zugänge zu Religion didaktisch fruchtbar zu machen. 

 

Mögliche Ansätze und Kompetenzgewinn  

Als Ausweg aus diesen Aporien formuliert Johannes Kubik das didaktische Zwischenziel, Schülerinnen und Schüler auf der Basis eines induktiven Vorgehens “ schlicht und einfach staunen” zu lassen, um von dort aus Religion als “anthropologische Gegebenheit” zu erweisen (Kubik 2011, 180; ähnlich zur Didaktisierung von Fantasy Zimmermann in dieser Ausgabe, S. 62). Einem solchen Ansatz, der sich auf die Wahrnehmungskompetenzen des Kerncurriculums (“religiöse Spuren und Dimensionen in der Lebenswelt aufdecken”, “grundlegende religiöse Ausdrucksformen wahrnehmen und in verschiedenen Kontexten wiedererkennen und einordnen”; KC Oberstufe 18) berufen kann, ist uneingeschränkt zuzustimmen. 

Der Spezialfall Pippi Langstrumpf, der nicht intentional, aber trotzdem nahezu explizit religiöse Bezüge aufweist, bietet allerdings weitergehende Möglichkeiten. Ein deutender Vergleich zwischen den Erlöserfiguren Jesus Christus und Pippi Langstrumpf fordert und fördert das Verständnis der “eigenen” christlichen Tradition. Neben dem Kompetenzbereich der Wahrnehmung ist dann die Deutungskompetenz “religiöse Motive und Elemente in Texten, ästhetisch-künstlerischen und medialen Ausdrucksformen identifizieren und ihre Bedeutung und Funktion erklären” ein zentraler Ausgangs- und Zielpunkt der Planung. Um es in den Kategorien Georg Langenhorsts auszudrücken: Die unterrichtliche Beschäftigung mit Pippi Langstrumpf muss nicht bei einer detaillierten Wahrnehmung und Beschreibung der “Textspiegelung” stehen bleiben, sondern sollte auch das Potenzial der “Erfahrungserweiterung” nutzen (vgl. Langenhorst in dieser Ausgabe, S. 57ff.). Wie das unterrichtspraktisch Gestalt annehmen kann, möchte ich im Folgenden wenigstens grob skizzieren. 

 

Eine Unterrichtssequenz in vier Schritten 

Aus Gründen der didaktischen Reduktion konzentriert sich der Unterrichtsvorschlag auf die ersten beiden Pippi-Langstrumpf Bände. Da man Pippis Umkehr als Kontrasterzählung zur Kreuzigung Jesu lesen kann, bietet es sich an, die Unterrichtssequenz auf mögliche Deutungen der Kreuzigung Jesu hinauslaufen zu lassen. Dazu ist eine Progression in vier Unterrichtsschritten förderlich. Im ersten Schritt werden Wirken und Botschaft Jesu rekapituliert. Im zweiten Schritt erfolgt ein Vergleich mit Pippi Langstrumpf. Anschließend geht es um das bereits vorhandene Wissen der Schülerinnen und Schüler über Deutungen des Kreuzestodes Jesu (Schritt 3), bevor in einem vierten Schritt zu prüfen ist, ob und wie Astrid Lindgren in “Pippi Langstrumpf geht an Bord” christologische Aspekte literarisch verarbeitet. 

Schritt 1 müsste in Grundzügen auf der Basis des Mittelstufenunterrichts möglich sein: Nicht nur unter dem Leitthema “Wirken und Botschaft Jesu” sind im Jahrgang 7/8 relevante inhaltsbezogene Kompetenzen erworben worden (KC Jg. 5-10, 27). Um differenziertere Ergebnisse zu erzielen, können folgende Maßnahmen getroffen werden: Die Schülerinnen und Schüler arbeiten in vier arbeitsteiligen Gruppen zu je einer Leitfrage: (1) Welche Botschaft hat Jesus, etwa in Gleichnissen, verkündet? (2) Was hat Jesus durch Taten bewirkt? (3) Welche Reaktionen hat Jesus hervorgerufen? und (4) Was für eine Ethik hat Jesus vertreten? Ihre Ergebnisse, die sie mit mindestens einer Bibelstelle belegen sollen, halten sie auf quadratischen Plakaten fest (ca. 40 cm x 40 cm). Bei der Gruppeneinteilung ist der (absteigende) Schwierigkeitsgrad der Leitfragen zu beachten. Auf einem weiteren, für alle zugänglichen Plakat ist Platz für offene Fragen. Günstig ist, wenn die Schülerinnen und Schüler Recherchemöglichkeiten, auf jeden Fall aber eine Bibel zur Hand haben. Der gemeinsame Ergebnisaustausch lässt sich vertiefen, indem Zusammenhänge und Überschneidungen der vier Aspekte thematisiert werden. 

Der zweite Schritt wird mit der offenen Einstiegsfrage begonnen, inwiefern die Helden und Erlöserfiguren, die aus Filmen oder Büchern bekannt sind, etwas mit Jesus zu tun haben. Anschließend wird auf das Beispiel “Pippi Langstrumpf” übergeleitet. Da die Schülerinnen und Schüler die Figur wenigstens in ihrer Grundanlage kennen, können sie sich spontan äußern. Es folgt eine intensive Erarbeitungsphase mithilfe des ersten Teils von M 2 (Zitate 1-8). Dabei ist induktiv vorzugehen. Auf der Grundlage des vorangegangenen Unterrichtsschrittes sollten die Schülerinnen und Schüler in der Lage sein, die überraschende Jesus-Nähe Pippi Langstrumpfs, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, an verschiedenen Stellen selbst entdecken und benennen zu können. Das Ziel der Unterrichtsstunde besteht darin, die wesentlichen Aspekte Jesu im neuen Kontext erkennen zu können (Wahrnehmungskompetenz) – und ggf. darüber zu staunen. 

Der dritte Schritt befasst sich mit dem Schwerpunkt, der im KC für Jg. 9/10 “Der erlösende Charakter von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi” genannt wird (KC Jg. 5-10, 25). Die entsprechende Leitfrage “Warum musste Jesus sterben? Deutungen des Todes Jesu” wird in Gruppen- oder Partnerarbeit beantwortet. Wenn diese Ergebnisse auf einem großen Plakat in Kreuzform gesammelt werden, ergibt sich nach dem Muster von M1 ein übersichtliches Gesamtbild. Da diese Ergebnisse im Folgenden auf Oberstufenniveau vertieft werden sollen, ist es durchaus akzeptabel, wenn die Antworten zunächst vorläufig und ggf. lückenhaft bleiben. 

Im vierten, letzten und anspruchsvollsten Schritt erhält die Lerngruppe sowohl Joh 16,16-23 (Trauer und Hoffnung bei Jesu Abschied) als auch die Belege 9-12 zur Lektüre. Bei größerem Interesse kann das Ende des Bandes auch ganz gelesen werden (II 246-280). Im Rahmen des Einstiegs lässt sich schnell klären, dass es sich mit dem schmerzlichen Abschied des Erlösers um eine ähnliche Grundkonstellation handelt. In der Erarbeitungsphase sind die Schülerinnen und Schüler aufgefordert, (ggf. arbeitsteilig) je ein Soziogramm zu erstellen, also ein Schaubild, das die jeweiligen Figurenbeziehungen darstellt. Anhand der Ergebnisse kann die Beziehung zwischen “Jesus – Jünger – Gott” mit der Beziehung “Pippi – Thomas & Annika – Kapitän Langstrumpf” verglichen werden, so dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede anschaulich werden und als Tafelbild gesichert werden können. 

Als Vertiefung ist der Impuls sinnvoll, warum die Astrid-Lindgren-Lösung einer “Abschiedsvermeidung” theologisch nicht in Frage kommt – zugleich der ideale Ausgangspunkt, um “sich mit verschiedenen Deutungen des Kreuzes(todes) Jesu auseinanderzusetzen” (KC Oberstufe S. 25, dort auch ein Katalog möglicher Inhalte). Dass Astrid Lindgren mit Band III einen alternativen Schluss bietet, kann im Lehrervortrag oder als Referat berichtet und mit Hilfe von M 3 veranschaulicht werden. 

Eines ist wichtig: Die Lehrkraft sollte einem verkürzten Verständnis, das die literarisch-ästhetische Dimension ausblendet und das Kinderbuch auf einen theologischen Stichwortlieferanten reduziert, entschieden entgegensteuern. Und kann man, so ließe sich kritisch fragen, die Deutungen des Kreuzestodes Jesu nicht ebenso gut ohne den intertextuellen Vergleich mit Pippi Langstrumpf erarbeiten? Sicher. Gepaart aber mit der Erkenntnis, dass biblisch-theologische Konstellationen und Fragen in einem Klassiker der Kinderliteratur eine zentrale Rolle spielen, verlieren Kreuzigung, Erlösung und die historischen Lebensumstände Jesu möglicherweise ihre Fremdheit.

 

Anmerkungen

  1. Eine Ausnahme stellt ein (populärwissenschaftliches) Buch in schwedischer Sprache dar (Fischer-Nielsen 1999) dar, das etliche Bibelbezüge und Jesus-Parallelen aufzeigt. Die unsystematischen, meist als kommentierte Paraphrase vorgetragenen Beobachtungen beschränken sich allerdings auf das Wirken beider Erlöserfiguren, gehen also weder auf die literarische Verarbeitung der Kreuzigung noch den Symbolcharakter des dritten Langstrumpf-Bandes ein. Für die gründliche Hilfe bei der Literaturrecherche bedanke ich mich bei Britta Papenhausen, für die Übersetzungshilfen bei der Skandinavistin Caroline Merkel.
  2. Ein (behutsamer) Schritt in die richtige Richtung, freilich ohne Analyse der Pippi Langstrumpf-Trilogie, ist der Vortrag von Thissen (2008).
  3. Einige signifikante Textausschnitte sind direkt im Material M 2 nachzulesen. Auf weitere wird im Folgenden verkürzt durch die Angabe “Bandnummer/Seite” in der Gesamtausgabe von 1987 verwiesen.
  4. In II 252 ist im Zusammenhang mit Kapitän Langstrumpfs Trommelmusik allerdings von “Opferfeste[n]” die Rede.

 

Quellen

  • Astrid Lindgren: Ur-Pippi, kommentiert von Ulla Lundqvist, dt. von C. Heinig und A. Kutsch, Hamburg 1944 und 2007.
  • Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf (Gesamtausgabe), mit Zeichnungen von Rolf Rettich, Hamburg 1987 (schwed. Originalausgaben Stockholm 1945 (Band I), 1946 (Band II), 1948 (Band III)).
  • Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf geht an Bord, dt. von C. Heinig, Sonderausg. Band II, Hamburg 1999 (11950, schwed. Stockholm 1946).
  • Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf in Taka-Tuka-Land, dt. von C. Heinig, Hamburg 1999 , Sonderausg. Band III, ( 11950, schwed. Stockholm 1945).
  • Astrid Lindgren: Das entschwundene Land, dt. von A.-L. Kornitzky, Hamburg 1977 (schwed. Stockholm 1975).

 

Weitere Literatur

  • Ballis, Anja: Pippi, Michel und der liebe Gott. Neue Blicke auf Astrid Lindgren und ihr Werk, LiU 1/2009, 17-28. 
  • Kubik, Johannes: Was ist Religion? Anregungen zu einer wahrnehmungskompetenzorientierten Unterrichtssequenz, Loccumer Pelikan 4/2011, 179-186.
  • Fischer-Nielsen, Werner: Astrid Lindgren och kristendomen. Utifrån Pippi, Emil och Madicken, Varberg 1999.
  • Gräfin Schönfeldt, Sybil: Astrid Lindgren, Reinbek 32007 (überarb. Aufl. zu 11987).
  • Kunstmann, Joachim/Reuter, Ingo (Hg.): Sinnspiegel. Theologische Hermeneutik populärer Kultur, Paderborn 2009.
  • Langenhorst, Georg: Literarische Texte im Religionsunterricht? Chancen und Beispiele, Loccumer Pelikan 2/2013, Seiten 57-62.
  • Nix, Angelika: Das Kind des Jh. im Jh. des Kindes. Zur Entstehung der phantastischen Erzählung in der schwedischen Kinderliteratur, Freiburg 2002.
  • Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Schuljahrgänge 5-10. Evangelische Religion, Hannover 2009.
  • Niedersächsisches Kultusministerium (Hg.): Kerncurriculum für das Gymnasium. Gymnasiale Oberstufe. Evangelische Religion, Hannover 2011.
  • Nölling-Schweers, Claudia: “Hei hopp, was ist das für ein Leben!”, Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, in: Hurrelmann, Bettina (Hg.): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur, Frankfurt am Main 1995, 69-89.
  • Payrhuber, Franz-Josef: Astrid Lindgren, in: Kinder- und Jugendliteratur: ein Lexikon, Meitingen 1995ff, Loseblattausgabe, 21. Erg.-Lfg. 2004, 1-66.
  • Theißen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996.
  • Thissen, Werner: Lindgrens Zeit und Ewigkeit. Religiöse Elemente bei Astrid Lindgren, in: Schade, Frauke (Hg.): Astrid Lindgren. Ein neuer Blick, Berlin 2008.
  • Zimmermann, Mirjam: “Hilfe, mein Kind liest nur Fantasy!”. Religionspädagogische Überlegungen zu Harry Potter, Reckless und anderer Fantasyliteratur, Loccumer Pelikan 2/2013, Seiten 62-66.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2013

PDF