Inklusive Schule – die Differenz denken und die Gemeinschaft leben Helmut Simon zum 90sten Geburtstag

von Kerstin Gäfgen-Track

 

Zur Situation

Im Frühjahr 2009 ist in Deutschland die UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen in Kraft getreten, wonach allen Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Hautfarbe, ihrer Behinderung, ihrer ethnischen Zugehörigkeit etc. der gleiche Zugang zum gesamten gesellschaftlichen und auch kirchlichen Leben zu gewähren ist. Inklusion als gesellschaftliches und kirchliches Ziel konsequent gedacht bedeutet eine Veränderung menschlichen Denkens und Handelns, indem alle Menschen als Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit wahrgenommen und anerkannt werden. Selbstverständlich gehören für alle die gleichen Rechte und Möglichkeiten der Teilhabe am gesellschaftlichen und damit am kirchlichen Leben dazu. Über das eigene Leben selbst bestimmen können bei gleichzeitiger Gewährung der dafür notwendigen Hilfe, insoweit sie erforderlich ist, ist eine grundlegende Voraussetzung für die Umsetzung von Inklusion.

Es geht in der gegenwärtigen Situation um einen Be­wusstseinswandel, der die Anerkennung der Verschiedenheit, die Differenz als Normalität definiert und damit als „normal“ die Bewusstheit der eigenen, individuellen Identität und das Anderssein der anderen begreift. Das „Normale“ als Ausgangspunkt der Differenz gibt es nicht mehr und damit beginnen sich Wertungen, die auf gesellschaftlich etablierten, allgemein anerkannten und damit positiv konnotierten Differenzen und abweichenden, negativ konnotierten Differenzen beruhen, aufzulösen.

 

Anthropologische und theologische Grundfragen der Inklusion

Bisher sind anthropologische Ansätze oftmals so ausdifferenziert, dass sie jeweils Gruppen von Menschen auf spezifische Weise betrachten: kranke Menschen, Menschen mit Behinderung, mit Migrationshintergrund, in gleichgeschlechtlichen Beziehungen Lebende, Kinder etc. Es gilt demgegenüber erst noch eine inklusive Anthropologie zu entwickeln, für die die Differenzen selbstverständliche Grundlage sind und die Menschsein in Differenzen be­stimmt. Theologisch werden alle Menschen als Geschöpfe Gottes mit individuellen Fähigkeiten und Grenzen begriffen. Der Mensch als Geschöpf Gottes ist von Gott geliebt, erfährt die Rechtfertigung als Person unabhängig von seinem Handeln und hat zugleich den Auftrag das eigene Leben, das Zusammenleben und den Umgang mit der nichtmenschlichen Schöpfung zu gestalten. Darin drückt sich die Universalität des christlichen Glaubens aus, der einen einzigen dreieinigen Gott bekennt, der Heil für Mensch und Schöpfung verheißt. Die Universalität von Gott und Glauben widerspricht jeder Form von Ausgrenzung. Das verheißene Heil für alle Menschen und die damit verbundene Überwindung jeder Form von Ausgrenzung sind der Mittelpunkt christlichen Gemeinschaftsverständnisses. Christliche Gemeinde lebt aus diesem Geist Gottes, richtet sich deshalb in ihrer Verkündigung und ihrem Handeln an alle Menschen und zielt darauf, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1.Tim 2,4). Die Ausgangsthese, alle Menschen seien Geschöpfe Gottes, verwischt nicht die Unterschiede, eliminiert nicht das Anderssein eines jeden Menschen; diese These bietet vielmehr eine gemeinsame Basis, die niemand dem anderen streitig machen kann, weil Gott sie setzt.

Gottes Ebenbildlichkeit wehrt sowohl dem Gedanken, Gott als perfektes menschliches Wunschbild, also allmächtig, allwissend und unberührbar zu denken, als auch der Vorstellung vom Menschen als dem perfekten Wesen, das gottgleich in dieser Welt agiert. Der Mensch ist nach dem Ebenbild Gottes geschaffen. Dabei gibt es nicht das „eine“ Ebenbild, sondern viele Ebenbilder, d.h. jede und jeder Einzelne in seiner unverwechselbaren Identität ist Gottes Ebenbild und erhält dadurch Würde und Wert. Gott ist umgekehrt nicht monolithisch, sondern in sich selbst noch viel differenzierter zu denken, als wir menschliche Differenzen denken.

Bis in das 20. Jahrhundert hinein wurde in theologischen Anthropologien immer wieder Behinderung als defizitär oder auch ebenso wie Krankheit als Ausdruck von Sünde verstanden. Trotz dieser verhängnisvollen Inbeziehungsetzung von Behinderung/Krankheit und Sünde war christliches Handeln gegenüber allen Menschen immer am Vorbild Jesu orientiert, der sich gerade der Schwachen, Kranken und Behinderten annahm. Das diakonische Engagement für Menschen, die in Not sind, die Unterstützung oder Hilfe bei der Wahrnehmung ihrer Rechte benötigen, ist Kennzeichen christlichen Glaubens. Eine andere theologische Richtung sieht in der Behinderung eine besondere Last, Aufgabe und Prüfung, die es anzunehmen und zu bewältigen gilt. Die Gegenbewegung im 20. Jahrhundert spricht von Behinderung als besonderer Gabe und Begabung, auch als besondere Begabung zum Leben. Hierin liegt die Gefahr, die Behinderung zu überhöhen oder aber das mit ihr auch verbundene Leiden, die Beschädigung von Leben zu idealisieren und zu marginalisieren. Theologisch angemessen kann nur der schlichte Verzicht auf Zuschreibungen und Deutungsmuster der Behinderung sein; weder Gabe noch Begabung oder gefallene Schöpfung. Es ist eine Gegebenheit menschlichen Lebens, die anzuerkennen ist. Der Gedanke der Ebenbildlichkeit Gottes impliziert: Gott hat diesen Menschen mit seiner Behinderung gewollt, und er bejaht ihn. Auf dieser Basis kann nicht nur mit Bezug auf Menschen mit Behinderung eine inklusive Anthropologie entwickelt werden. Die Gottes-Ebenbildlichkeit inkludiert alle menschlichen Differenzen als Grundlage von Menschsein und bejaht von Gott her die Individualität eines jeden Menschen. Jeder Mensch ist als Ebenbild Gottes in seiner Einzigartigkeit und Würde zu achten und darf in keiner Phase seines Lebens ausgegrenzt werden.

Die Konsequenz einer so gedachten inklusiven Anthropologie ist eine inklusive Theologie. Ausgehend vom Kreuz Christi gehören zum Menschsein, aber auch zum Gottsein das Leiden, die Selbstbegrenzung, die Fragilität und die Veränderung. Dieses bedeutet gerade den Abschied von einem im Gegensatz zu allen menschlichen Kategorien gedachten Gottesgedanken: der Gott Jesu Christi riskiert sein Gottsein in aller Schärfe, indem er Mensch wurde und damit sich selbst als einen Gott offenbart, der nicht unveränderlich ist, sondern eine Geschichte hat, sich immer wieder neu offenbart. Die Herausforderung liegt darin, Gott im Leiden, in der Selbstbegrenzung, der Fragilität und der Veränderung zu denken. Die Rede von der Trinität Gottes denkt die Differenz in Gott selbst und kann gerade von daher auch alle menschlichen Differenzen im Menschsein als in der Gottes-Ebenbildlichkeit grundgelegt denken.

Inklusive Anthropologie heißt die unterschiedlichen Gegebenheiten menschlichen Lebens wahrnehmen und anerkennen. „Wenn wir uns an den Lebensbedingungen wirklicher Menschen orientieren, dann ist der unbeeinträchtigte Mensch … gerade nicht die Regel, sondern die Ausnahme.“ (Grewel 1991, 10) Gleichheit in der Würde jedes menschlichen Lebens und Differenz in der Gestalt des Menschseins sind die anthropologischen Grundkonstanten. Die Anerkennung der Würde aller Menschen (Gleichheit) besteht im Ernstnehmen ihrer Differenz und im Wahrnehmen, dass Fragilität, Leiden und Behinderung, Begrenzung und Endlichkeit zum Leben in sehr unterschiedlicher Weise gehören. Dies schließt den Verzicht ein, Menschen mit Behinderung immer noch im Modus der Betreuungsmentalität, die auch immer sowohl ein Entmündigungsmoment wie einen Machtanspruch implizieren kann, zu begegnen. Es ist dabei bleibend zu beachten, dass auch nicht latent ein Entmündigungsprozess in Gang gesetzt oder ein Machtanspruch erhoben wird.2

 

Denken in Differenzen – diakonisch und solidarisch leben

Das Denken der Differenz und das Leben mit ihr ist unhintergehbar in allen Bereichen menschlichen Lebens, in der Bildung, in der Arbeitswelt, in Gesellschaft und Kirche. Es gilt im 21. Jahrhundert viel stärker als in früheren Jahrhunderten mit Heterogenität und Differenz als Normallage umzugehen; nicht zuletzt deshalb, weil die Globalisierung das multikulturelle und multireligiöse Zusammenleben immer stärker zur Aufgabe macht. Weltweit betrachtet zeigen sich aber weiterhin deutliche Grenzen beim Denken der Differenz und dem Leben mit der Differenz, die zugleich Grenzen der Toleranz bedeuten. Erforderlich ist dagegen „ein intelligenter Umgang mit Heterogenität“ (Jürgen Baumert).

Für das Gelingen von Inklusion ist ein differenziertes Denken und damit auch ein Denken in Differenzen erforderlich. Die damit aber auch verbundene immer weitere Ausdifferenzierung erhöht die Komplexität, was den Ruf nach einer Reduktion von Komplexität auch im Inklusionsdiskurs erzeugen wird, um so Sinn und Orientierung zu ermöglichen. Inklusion bedarf der Eröffnung von Sinn gerade aufgrund eines Denkens von Differenzen, um so in der Komplexität die Vielfalt menschlichen Lebens als Grundlage menschlichen Zusammenlebens in seiner faszinierenden Variabilität und Fülle ernst zu nehmen und fruchtbar zu machen. Zugleich ist ein solches Denken in seinem hohen Abstraktionsniveau so anspruchsvoll, dass es auch möglich sein muss, Formen von Differenziertheit zu denken, in denen die Komplexität deutlich reduziert ist und somit lebensdienlich. Die Reduktion von Komplexität ist immer wieder erforderlich, um Sinn im Sinne von Orientierung denken zu können (Niklas Luhmann). Sinn selbst kann dabei in unterschiedlichen Graden von Differenziertheit gedacht werden, aber bei aller notwendigen Reduktion von Kom­plexität gibt es ein nicht hintergehbares Maß von Differenziertheit auch im Denken von Sinn. Sinn ist für die Frage der Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderung in der Spannung von Behindert und Nicht-Behindert, von Macht und Ohnmacht, von Scheitern und Gelingen zu denken, um so die Basis für ein konstruktives Zusammenleben zu entwickeln.

Jedem Menschen ist das Recht auf individuelle Entwicklung, Selbstbestimmung und Partizipation am gesellschaftlichen Leben zu gewähren. Der Rechtsanspruch auf Inklusion und Teilhabe muss so in der Gesellschaft zur Geltung kommen, dass er jedem einzelnen Menschen die Möglichkeit eröffnet, die Teilhabe auch im eigenen Leben zu verwirklichen. Dabei ist für das Verständnis und die Umsetzung von Inklusion das Leben in der Gemeinschaft grundlegend. So wie der christliche Glauben immer als Glauben des Einzelnen in der Gemeinschaft gelebt wird und zur Sprache kommt, so braucht Inklusion die Gemeinschaft. Wesentlicher Ausdruck eines diakonisch orientierten Lebens ist die Subjektorientierung auf den anderen Menschen hin und die Sensibilität ihm und zugleich sich selbst gegenüber: der andere mit seinen Begabungen und Begrenzungen, mit seinen Stärken und Bedürfnissen ist zu achten und zu fördern. Für das Zusammenleben nicht nur in einer christlichen Gemeinde ist die Orientierung an einem kommutativen (jeder das Ihre und jedem das Seine), nicht nur distributiven (jeder und jedem das Gleiche) Verständnis von Gerechtigkeit konstitutiv.

 

Bildungsgerechtigkeit als Grundbedingung von Inklusion

Der Aufbau einer inklusiven Schule und damit untrennbar verbunden die Entwicklung einer inklusiven Pädagogik ist ein wesentliches Element von Bildungsgerechtigkeit: Es geht sowohl um eine systemimmanente Gerechtigkeit, d.h. um Gerechtigkeit im Sinne von distributiver Gerechtigkeit innerhalb eines Bildungssystems, als auch um eine personale Gerechtigkeit im Sinne der kommutativen Gerechtigkeit, die jedem das Seine und jeder das Ihre gibt, damit Bildung auch im Sinne von Identitätsbildung gelingt. Systemgerechtigkeit zielt auf die Überwindung ungerechter Bildungsverhältnisse, aber auch innerhalb des jeweiligen Systems auf gerechte und damit vergleichbare Bedingungen. Die Umsetzung personaler Gerechtigkeit darf nicht zu einem Exklusionskriterium werden, das Schülerinnen und Schülern mit einer Behinderung den Zugang zu Schulen verwehrt. Personale Gerechtigkeit schließt die Möglichkeit ein, dass im Interesse des Kindeswohls entweder eine Beschulung im Regelschulsystem oder in einer Förderschule infrage kommen kann. Bildungsgerechtigkeit als Aus­gangspunkt für alle Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung, um Anschluss an eine Schulgemeinschaft, eine Kirchengemeinde3 ebenso wie an die Gesellschaft und auch an eine Berufstätigkeit, die ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht, zu finden. (Vgl. Bildung schafft Anschluss, 2010 und „Niemand darf verloren gehen! Ein evangelisches Plädoyer für mehr Bildungsgerechtigkeit.“ Kundgebung der 11. Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) auf ihrer 3. Tagung vom 7. bis 10. November 2010 in Hannover.)

 

Pädagogik der Inklusion

Inklusive Pädagogik rechnet grundsätzlich mit der Komplexität, Diversität und Heterogenität der Lerngruppen und macht sie zum Ausgangspunkt. Sie fordert die Unterrichtenden zukünftig in ganz neuer Weise heraus, sich mit ihren kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklungs- und Lernangeboten darauf einzustellen.4 Es bedarf einer dementsprechenden Binnendifferenzierung innerhalb und außerhalb des Unterrichts. „No child left behind“ oder „Keine und keiner darf verloren gehen“ als Leitmotiv inklusiver Pädagogik umfasst differenzierte Förderung bei undifferenzierter Achtung. Um eine differenzierte Förderung in Bildungsprozessen zu erreichen, sind der Verzicht auf alle Ontologien und ein Abschied vom Streben nach Vervollkommnung und Vollendung notwendig, ohne dabei im Bildungsprozess von Entwicklung, Reifung und dem Erbringen von Leistung abzusehen. Notwendige Voraussetzung für eine inklusive Pädagogik, die sich diese Ziele setzt, sind hohe Sensibilität und Wahrnehmungskompetenz sowie ein hohes Verantwortungsbewusstsein.

Inklusion braucht eine Teilhabe- und Befähigungspädagogik, die jeder Schülerin und jedem Schüler Selbstbestimmung und Partizipation ermöglicht sowie die Subjektorientierung fördert. Die einzelne Schülerin bzw. der einzelne Schüler steht im Mittelpunkt, sie oder er soll optimal gefördert werden, ihr oder sein Wohl, die Entfaltung ihrer oder seiner Identität, ihre oder seine Lebensgestaltungskompetenz und ihre oder seine Berufs- und Studierfähigkeit sollen gefördert werden. Bildung von Identität, Förderung von Selbstbewusstsein und Beziehungsfähigkeit als grundlegendes Erziehungsprinzip und Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen als grundlegendes Bildungsziel müssen gerade beim Gedanken der Inklusion in eine gute Balance gebracht werden. Die Fachlichkeit, das Vermitteln von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen darf bei einer inklusiven Pädagogik nicht in den Hintergrund treten und wird es auch nicht, wenn es sich in der Breite bewahrheiten sollte, dass heterogene Klassen ein hohes individuelles Leistungsvermögen fördern. Inklusion braucht eine Teilhabe- und Befähigungspädagogik, die selbstverständlich auch auf Kompetenzvermittlung zielt. Es bleibt bei einer hohen Spannbreite an Leistungsvermögen, an Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen, auch in der inklusiven Schule, die dann gute Schule ist, wenn sie einen differenzierten Umgang mit der einzelnen Schülerin- und Schülerpersönlichkeit ebenso wie einen differenzierten Unterricht leistet, so dass am Ende der Schulzeit individuelle Schülerpersönlichkeiten mit einer je individuellen Bildung stehen werden.

Um einen schulischen Beitrag zum gesamtgesellschaftlichen Umdenken zu leisten, ist es zudem notwendig, dass über den Unterricht hinaus Erfahrungen mit Heterogenität und Inklusion gemacht werden. Dieses gelingt insbesondere im Schulleben, gerade auch in der schulnahen Jugendarbeit. Daher muss es das Ziel einer inklusiven Schule immer sein, als (teil)gebundene Ganztagsschule zu arbeiten. Das gemeinsame Leben in der Ganztagsschule bietet allen Beteiligten Chancen zur Auseinandersetzung, zur Annäherung, zum Einüben von Verantwortungsübernahme und zum Hineinwachsen in eine solidarische Gemeinschaft. Hier liegt ein wesentlicher Schlüssel zur gesellschaftlichen Akzeptanz der Heterogenität und Bereitschaft zur unterschiedlichen Inklusion aller Menschen in ihrer Individualität. Erst das Erleben von Situationen, die Schülerinnen und Schülern Achtung vor anderen und soziale Verantwortung abverlangen, wird zukünftig dazu beitragen, Vorurteile und Vorbehalte abzubauen, ohne dass die Tatsache eines gemeinsamen Unterrichts allein schon zwingend Veränderungen im Denken und Handeln der Schüler bewirkt. Letztlich unverantwortlich wäre es, wenn Inklusion in der Schule gelingt, aber im gesellschaftlichen (Arbeitsmarkt!) und kirchlichen Leben nicht stattfindet.

 

Resilienz und Empowerment als prägende Elemente inklusiver Pädagogik

Um mit der Fragilität, mit Krisen und Brüchen im Leben, um mit Krankheit und Behinderung leben zu können, bedürfen insbesondere schon Kinder und Jugendliche der Fähigkeit zur Resilienz. Resilienz wird verstanden als die Fähigkeit, damit durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen konstruktiv umgehen zu können, die Kraft zu haben, das davon gekennzeichnete Leben dennoch als ein gelingendes zu verstehen und zu bewältigen, indem z.B. Krisen oder Behinderungen als Anlass für Entwicklungen genutzt werden, um so bereit zu nachhaltigen und auch entscheidenden Veränderungen zu sein. Um resilient zu werden, brauchen die Kinder und Jugendlichen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein und müssen Widerstandsfähigkeit ausbilden. Für ihre Resilienz ist eine umfassende Bildung ihrer emotionalen, sozialen und religiösen Kompetenzen notwendig. Dabei ist Hoffnung, dass eine Veränderung zum Besseren möglich ist, ein unverzichtbares Element.

Aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King stammt der Begriff des „Empowerment“, der bei der Frage der vollen gesellschaftlichen Teilhabe von Frauen ebenfalls eine zentrale Rolle spielt (Dorothee Sölle u.a.). „Empowerment“ bedeutet Ermächtigung oder Befähigung des oder der jeweils anderen zum Handeln. Macht, Kraft und Stärke werden geteilt, damit eine andere oder ein anderer ebenfalls Macht, Kraft oder Stärke erhält, um Leben zu gestalten, an der Gemeinschaft teilzuhaben und einen Beitrag leisten zu können: Schöpferische Macht ist „… keine Macht, die wir in Isolation oder getrennt voneinander und von der Welt erreichen. Sie ist vielmehr eine Energie unter uns, die uns dazu fähig macht und zwingt, uns an dem fortwährenden Kampf für das Wohlergehen der Menschen zu beteiligen. Sie gibt uns die Kraft, für unser eigenes Wohl und für das Wohl anderer Menschen zu kämpfen.“ (Heyward 1986, 30) Das Empowerment anderer ist eine zentrale Tugend, wenn Inklusion gelingen soll und ist elementarer Bestand inklusiver Pädagogik. Denn das gemeinsame Lernen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne Behinderung kann nur dann umgesetzt werden, wenn alle Schüler ebenso wie die Lehrkräfte bereit sind, den anderen an den jeweils spezifisch eigenen Kompetenzen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen teilhaben zu lassen.

 

Grenzen der Inklusion

Die Entwicklung der Schule zur inklusiven Schule ist eine viel größere Herausforderungen als alle Veränderungen der letzten Jahre, insbesondere als Reaktion auf „Pisa Schocks“ oder hin auf eine „eigenverantwortliche Schule“. Die Frage nach der Inklusion stellt sich dabei für Schule schon seit Jahren und wird jetzt noch einmal zugespitzt auf die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf. Dabei wird deutlich, dass die Inklusion auch zukünftig eine große Herausforderung ist im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund.5 Es wird in der gegenwärtigen schulischen Diskussion deutlich, dass der Gedanke einer umfassenden Inklusion ohne jegliche Ausnahme als große, vielleicht zu große Herausforderung begriffen wird, die auch Ängste und Befürchtungen auslöst, die sich im Ruf nach Unterstützung durch sonderpädagogische Fachkräfte, eigener (Weiter-) Qualifikation der Lehrkräfte, kleineren Klassen oder veränderten baulichen Gegebenheiten artikulieren. Wenn Inklusion im umfassenden Sinne sowohl schulisch wie auch gesamtgesellschaftlich gelingen soll, dann müssen auch deutlich die mit ihr verbundenen Probleme und Grenzen bedacht werden. Inklusion darf nicht zur Überforderung von Schule, von Lehrkräften, Mitarbeitenden und Schülerinnen und Schülern werden. Maßnahmen zur Umsetzung von Inklusion brauchen materielle und personelle Ressourcen, gerade auch für kleinere Klassen, eine zumindest zeitweilige Doppelbesetzung oder die Ganztagsbeschulung; sie brauchen die fachliche Qualifikation der Lehrkräfte und pädagogischen Mitarbeitenden.

Inklusion, Differenz und Heterogenität inklusiv gedacht kann die gesamte Spannbreite von Hochbegabten bis hin zu Schülerinnen und Schülern mit dem Förderbedarf geistige Entwicklung an einer Schule bedeuten. Ob dies immer in einer Klasse, den gesamten Unterrichtstag, die ganze Woche, das ganze Schuljahr und Schulzeit lang zu denken ist, muss zumindest neu gefragt werden. Leistungsdifferenzierung nur als Binnendifferenzierung in einer Klasse zu begreifen, droht nicht nur zur Überforderung der Lehrkräfte zu werden, sondern auch die Begabungsgerechtigkeit infrage zu stellen und zudem auch Schülerinnen und Schüler zu überfordern.6

Es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass Inklusion in sich selbst die Gefahr von Abgrenzungen und Benachteiligungen birgt. „Das institutionelle ethische Dilemma besteht in einer möglichen Ausgrenzung durch die Hintertür“. (Nipkow 2011, 96) Schülerinnen und Schüler mit einem besonderen Förderbedarf werden in der inklusiven Schule nicht länger im Klassenverband ausgegrenzt werden, könnten aber unter Umständen erhebliche Abstriche bei einer speziellen Förderung und gezielten Hilfe machen müssen. Die „Schule für alle“ ist letztlich immer noch eine Vision und diejenigen, die diese Schule beim besten Willen nicht besuchen können, werden dann noch deutlicher ausgegrenzt. An Runden Tischen zur Inklusion gewinnt der Gedanke an Bedeutung, dass in bestimmten Fällen das Bemühen, kein Kind verloren gehen zu lassen, genau die Folge eines zu we­­nig differenzierenden Inklusionsbestrebens sein könnte.

 

Von der Hoffnung auf eine inklusive Schule, Kirche und Gesellschaft

Inklusion bleibt ein eschatologisches Ziel, vielleicht ist es Aufgabe der christlichen Kirchen, dies in der gegenwärtigen Diskussion einzubringen. Christliche Hoffnung lebt davon, dass sie in der Gegenwart ihre Kraft und Wirkung entfalten will. Inklusion braucht eine solche Hoffnung, dass sie in Gegenwart und Zukunft gelingen kann, auch wenn sie letztlich immer unabgeschlossen bleiben wird. Erst in Gottes Reich werden alle Behinderungen, Aus- und Begrenzungen, wird die Endlichkeit menschlichen Lebens erst aufgehoben sein; dann nämlich „wenn Gott alles in allem ist“ (1Kor 15, 28). Es ist jetzt und in Zukunft eine bleibende Aufgabe, mit Ausgrenzungen, Unvollkommenheiten, Behinderungen und Endlichkeit zu leben. Christinnen und Christen haben dabei den Auftrag, mit Differenzen, Heterogenität und Komplexität gut umzugehen, im Sinne von Empowerment zu handeln und Verhältnisse zu ändern, wo immer sie änderbar sind. Sie engagieren sich deshalb auch für die inklusive Schule.

 

Anmerkungen

  1. Richter des Bundesverfassungsgerichts a. D. Helmut Simon tritt sein Leben lang dafür ein, dass alle Menschen ihr Recht bekommen als unverzichtbare Grundlage für das Gelingen von Leben.
  2. „Neue Theorien können eigene Gewalttätigkeit entwickeln; Gleichheitstheorien sind historisch besonders anfällig.“ K.E. Nipkow, Menschen mit Behinderungen nicht ausgrenzen! Zur theologischen Begründung und pädagogischen Verwirklichung einer „inklusiven Pädagogik“. In: Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion. Ein Lesebuch, hg. von A. Pithan, W. Schweiker, Münster 2011, S. 95.
  3. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers versucht gegenwärtig, flächendeckend eine inklusive Konfirmandenarbeit zu etablieren; vgl. dazu Sönke v. Stemm (Hg.), Inklusive Konfirmandenarbeit, Loccumer Impulse 2, Loccum 2011.
  4. Hier fehlt bisher ein breites Unterstützungsangebot für alle Lehrkräfte in allen Schulformen, wie es zunächst durch flächendeckende Fortbildungsangebote erreicht werden könnte. Angehende Lehrkräfte müssen die für eine inklusive Pädagogik erforderlichen Kompetenzen im jeweiligen Fach, in Diagnostik, Didaktik, im Klassenmanagement sowie in der Beratung erwerben können. Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer hat entsprechend die Auseinandersetzung mit Heterogenität in pädagogischen Prozessen stärker in den Blick zu nehmen. Zurzeit gehen weder die erste noch die zweite Phase der Ausbildung ausreichend auf den Umgang mit Heterogenität in Lerngruppen ein. Entsprechend sind Module sonderpädagogischer Unterstützung und zieldifferenten Unterrichtens zeitnah in die Ausbildung zu implementieren. Gleichzeitig muss die Ausbildung der Sonderschulpädagoginnen und -pädagogen gestärkt werden, damit eine professionelle Begleitung gewährleistet werden kann.
  5. Exemplarisch für die Herausforderung, Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Religionszugehörigkeit gemeinsam in einer Schule zu unterrichten, ist das Urteil des Leipziger Bundesverwaltungsgerichts vom 30. November 2011, das in einem konkreten Fall dem Schüler das Recht auf Religionsausübung in der Schule versagte, weil dadurch der Schulfrieden gestört werde.
  6. Es gibt in der gegenwärtigen Situation zahlreiche Angebote zur Qualifikation von Lehrkräften, es wird aber kaum darüber nachgedacht, wie die Schülerinnen und Schüler – mit und ohne Behinderung – für die inklusive Schule „qualifiziert“ werden können.

 

Literatur

  • Bildung schafft Anschluss – Evangelische Wege zur Bildungsgerechtigkeit, hg. im Auftrag der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, Hannover 2010
  • Grewel, Hans: Zerbrechliches Leben. In: GlLern 6,1991.
  • Heyward, Cathrin: Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 1986.
  • Nipkow, Karl Ernst: Menschen mit Behinderungen nicht ausgrenzen! Zur theologischen Begründung und pädagogischen Verwirklichung einer „inklusiven Pädagogik“. In: Evangelische Bildungsverantwortung: Inklusion. Ein Lesebuch, hg. von A. Pithan, W. Schweiker, Münster 2011

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2012

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