Clemens August von Galens Widerstand gegen die “Aktion Gnadentod” – Ein Praxisbeispiel biografischen Lernens im Religionsunterricht

von Konstantin Lindner

 

Biografisches Lernen stellt ein wichtiges religionsdidaktisches Prinzip dar, welches im Rahmen der Thematisierung verschiedenster Inhalte den Religionsunterricht in stimmiger Weise an geeigneten Stellen immer wieder zur Geltung kommen sollte. Es intendiert, den Lernenden individuelle, biografisch-verortende Lernprozesse zu ermöglichen, ja fordert diese geradezu ein. Der im Folgenden präsentierte Unterrichtsvorschlag zum Thema “Vorgehen gegen ein menschenverachtendes System: Clemens August von Galens Widerstand gegen die sog. ‚Aktion Gnadentod‘” zeigt Perspektiven auf, wie biografisches Lernen im Kontext eines Lernens an der Kirchengeschichte realisiert werden kann. Biografische Versatz­stücke aus der Vergangenheit fordern dabei die Schülerinnen und Schüler heraus, den Lerninhalt zu dem ihren zu machen, insofern selbstreflexive Momente – ob innerhalb des unterrichtlichen Lerngeschehens aktiv eingefordert oder nicht – einen Beitrag zum Bedenken und zur Bewältigung der “Aufgabe Biografie” leisten; einer Aufgabe, die jede und jeder Lernende in den Schulalltag mitbringt.

 

Vorüberlegungen:
Zur Bedeutung des Themas für die Lernenden

Zunächst scheint Kirchengeschichte der 1930/40er Jahre von den Lernenden und deren Lebenswelten weit weg zu liegen. Ihr Aufwachsen in einer stabilen Demokratie ohne staatliche Repressionen macht es für sie schwer, Handlungsweisen und Ereignisse aus dem Zeitalter des nationalsozialistisch geprägten Deutschland in ihrer Tragweite und Konsequenz nachzuvollziehen. Gleichwohl versetzt die Skrupellosigkeit und menschenverachtende Grundhaltung des NS-Regimes Schülerinnen und Schüler immer wieder in Betroffenheit und motiviert zum Fragen, warum die Menschen “damals” nichts dagegen un­ternommen haben bzw. aus welcher Motivation heraus sie doch dagegen angegangen sind: Zu diesen unbegreiflichen Tatsachen zählt auch die so genannte “Aktion Gnadentod” – ein pervertierender Titel für die Ermordung tausender Menschen mit Behinderungen durch die nationalsozialistische Maschinerie. Eine Beschäf­tigung mit diesen Verbre­chen kann Schülerinnen und Schüler motivieren, ihre ge­wohnten Denkweisen zu überprüfen und nachzuvollziehen, was die Gesellschaft – auch die Christen darunter – im so genannten “Dritten Reich” dermaßen hinsichtlich der politisch-öffentlichen Einforderung einer ethisch-humanen Grundhaltung gelähmt hat. Im Interesse eines biografischen Lernens ist der nachfolgend dargelegte Unterrichtsvorschlag sowohl ausgehend von biografischen Zeugnissen (vgl. M 5 bis M 7) angelegt als auch auf den eigenen Lebensentwurf der Lernenden ausgerichtet.

 

Möglicher Unterrichtsverlauf:
Methoden, Sozialformen und Medien

Der im Folgenden entfaltete Unterrichtsvorschlag ist auf zwei bis drei Stunden Religionsunterricht ausgerichtet und wird in sechs Unterrichtsschritten dargestellt. Erprobt und durchgeführt wurde dieser in 9. und 10. Klassen an Gymnasien.
 

1. Unterrichtsschritt
Eröffnet wird die erste Unterrichtsstunde durch eine sukzessiv erfolgende Konfrontation mit einem NS-Propaganda-Schaubild (vgl. M 1), das Ausgaben für Menschen mit Be­hinderungen – für so genannte “Erbkranke” – einer dadurch weniger leistbaren Unterstützung “gesunder” Menschen gegenüberstellt. Im Unterrichtverlauf werden dabei nacheinander Bildebene (1), Überschrift (2) und Unterschrift (3) aufgedeckt und im Unterrichtsgespräch jeweils analysiert und gedeutet: Dieser Lernschritt intendiert, bei den Schülerinnen und Schülern Wahrnehmungsbrüche hervorzurufen, insofern ein ledigliches Betrachten der Bildebene zunächst einen harmlosen oder gar ansprechenden Impuls erzeugt. Das schrittweise Aufdecken trägt dazu bei, dass die Bildebene in einem je anderen Interpretationskontext deutlich wird, und kann vermitteln, wie subtil und zugleich offenkundig die Nationalsozialisten ihre menschenverachtende Ideologie in der Bevölkerung verbreiteten. Im Unterrichtsgespräch wird das an diesem Schaubild ableitbare Menschenbild reflektiert und kritisch hinterfragt.

 

2. Unterrichtsschritt
Eine kurze Geschichtserzählung durch die Lehrerin bzw. den Lehrer (Erarbeitung aus M 2), in welcher die Schülerin­nen und Schüler Hintergründe der so genannten “Aktion Gnadentod” erfahren, schließt sich an: z. B. über das 1933 erlassene “Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses”, mit welchem die Zwangssterilisation von Menschen mit angeborenen geistigen oder körperlichen Behinderungen legitimiert wurde; u. a. auch über die 1939 gestartete “Kinderaktion”, der tausende Kinder – auch Neugeborene – zum Opfer fielen. Im Verlauf dieser Geschichtserzählung wird an passender Stelle Hitlers schriftlicher Erlass zum “Gnadentod” auf OH-Folie (M 3) präsentiert und von einer Schülerin bzw. von einem Schüler vorgelesen. Eine weitere Folie visualisiert die so genannten “grauen Busse” (M4), mit welchen die “Insassen” der Pflegeheime “abtransportiert” wurden. Über die Geschichtserzählung wird das Problembewusstsein der Lernenden dahingehend geschärft, dass die “Aktion Gnadentod” auf eine systematische Vernichtung der Bewohner von Heil- und Pflegeanstalten zielte und dass es zunächst keine öffentlichen Proteste gegen dieses Verbrechen gab.

 

3. Unterrichtsschritt
Im nächsten Unterrichtsschritt – biografisches Lernen im Sinne einer herausgeforderten Positionierung – steht die Reflexion der Frage an, wie man sich selbst wohl verhalten hätte, wenn man von der “Aktion Gnadentod” erfahren hätte. Dies geschieht über eine Positionierungsübung zu einer Dilemmasituation (M 5). Nach dem Vortragen der Dilemmageschichte durch die Lehrerin bzw. den Lehrer stellen sich die Schülerinnen und Schüler im Kreis um den auf Papier präsentierten Begriff “Handeln” auf und markieren durch individuelle Gegenstände (Schlüssel; Stift; Uhr; …), ob sie öffentlich aktiv geworden wären: Positionierungen des jeweiligen Gegenstandes nahe am Begriff “Handeln” bedeuten sehr aktives Engagement, Positionierungen näher am eigenen Standort bedeuten weniger großes Engagement. Zum einen ist es über diese Methode möglich, das sich in der Klassengemeinschaft abzeichnende Meinungsbild zu visualisieren. Zum anderen können die Lernenden durch Aufrufen einzelner Gegenstände den Grund für die jeweilige Positionierung erfragen. Insgesamt wird durch diesen Lernschritt ein biografisches Sich-hinein-Versetzen ermöglicht, welches die Schülerinnen und Schüler für das geschichtlich Vorausliegende zu emotionalisieren vermag sowie den individuellen biografischen Vergewisserungskontext erweitert. Zugleich wird für die folgende Quellenarbeit das nötige Problembewusstsein vorbereitet.

 

4. Unterrichtsschritt
Der anschließende Lernschritt stellt markante Auszüge einer Predigt in das Zentrum des Lerngeschehens, die Clemens August von Galen (1878-1946, ab 1933 Bischof von Münster) am 3. August 1941 gehalten hat. Daraus lässt sich erschließen, mit welchen Argumenten öffentlich christlich-kirchlicher Widerstand gegen die “Aktion Gnadentod” geleistet wurde. Bewusst wird auf authentische biografische Dokumente, auf Quellen, zurückgegriffen, um den Schülerinnen und Schülern eine direkte Begegnung mit überlieferter Vergangenheit zu ermöglichen. Jeweils die Hälfte der Schülerinnen und Schüler widmet sich einem Quellentext (M 6 und M 7). Die Auswertungs- und Sicherungsphase erfolgt im anschließenden Unterrichtsgespräch. Parallel zum schrittweisen Vortragen der Ergebnisse der Quellenarbeit werden diese in einer Tafelanschrift (vgl. M8) gesichert. Dadurch wird visualisiert und zugleich übersichtlich nachvollziehbar, mit welchen Argumenten die Protestpredigt Hörer und Leser (zusätzliche Verbreitung der Predigt über Flugblätter) zum Widerstand motivierte.

 

5. Unterrichtsschritt
Ein Unterrichtsgespräch vertieft das Erarbeitete, indem es einen Rückbezug zur Positionierungsübung herstellt. Die Schülerinnen und Schüler werden erneut von der kognitiven zur affektiven Lernebene gelenkt: Sie sehen sich aufgefordert, einzuschätzen, ob und inwiefern sie durch das Hören derartiger Argumente zu öffentlichem Protest motiviert würden. Ganz den Zielen biografischen Lernens entsprechend, wird hier die individuelle Bedeutungszuschreibung ermöglicht: Eröffnen sich am Gelernten Orientierungsoptionen, verändern sich Handlungsperspektiven? In Partnerarbeit, deren Ergebnisse in Auswahl in die Gesamtgruppe eingespeist werden, reflektieren die Schülerinnen und Schüler sodann, ob es einen Unterschied macht, wenn gegen menschenverachtende Systeme aus christlicher Überzeugung heraus vorgegangen wird oder nicht – biografisches Lernen im Sinne einer Erweiterung der Möglichkeitsräume.

 

6. Unterrichtsschritt
Der aufgetane Fragehorizont wird am Ende der Unterrichtssequenz intensiviert, indem die Lernenden in Einzelarbeit Folgendes klären: Wo bleiben für mich Fragen (nicht nur historisch) offen? Was ist mir für mich und meine Lebensgestaltung bedeutsam geworden? Ihre Reflexionen notieren die Schülerinnen und Schüler auf Papierstreifen (nur ein Aspekt pro Blatt!), die auf einer Seitenwand gesammelt und inhaltsähnlich sortiert werden. Abschließend reflektiert die gesamte Klasse im Unterrichtsgespräch ausgewählte genannte Aspekte und diskutiert handlungsleitende Impulse, die daraus hervorgehen können. Im Idealfall ergeben sich hieraus Themen für Anschlussstunden.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2011

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