Heimerziehung in der Nachkriegszeit - ein schwieriges Kapitel kirchlicher Zeitgeschichte

von Kerstin Gäfgen-Track

 

Nachdem im Jahr 2006 das Buch von Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herren“1 erschienen war, das zum Teil auf dramatische Weise die auch grausamen Erfahrungen von Heimkindern in der Nachkriegszeit dokumentiert, hat die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers bereits im selben Jahr gemeinsam mit dem Diakonischen Werk der Landeskirche eine Studie in Auftrag gegeben, um zu klären, unter welchen Bedingungen damals in kirchlichen Heimen untergebrachte Kinder und Jugendliche gelebt und gearbeitet haben. Mittlerweile wurden im gesamten Bereich der EKD weitere solcher Studien in Auftrag gegeben und erste Ergebnisse sind veröffentlicht. Mit Beginn des Jahres 2009 haben sowohl der Bundestag als auch die niedersächsische Landesregierung einen Runden Tisch zur Aufarbeitung des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in deutschen Heimen eingesetzt. Es soll dabei sowohl um Aufklärung als auch um konkrete Hilfe für die Betroffenen gehen. Die Kirchen, Diakonie und Caritas beteiligen sich selbstverständlich an diesen Runden Tischen.

Ein Grund dafür, dass das Leiden vieler Heimkinder so lange nicht öffentlich wurde, liegt in der Scham vieler Opfer begründet und auch ihrem Versuch, durch Verdrängung mit den leidvollen Erfahrungen leben zu können. Nachdem einige Betroffene ihre Erfahrungen und ihr Leid öffentlich gemacht haben, haben nun immer mehr Opfer den Mut, ihre Geschichte zu erzählen und nach Hilfe zu suchen. Das Diakonische Werk Hannover hat deshalb eine Hotline geschaltet, die stark genutzt wird. Hier wird neben einer Beratung auch konkrete Hilfe, z.B. durch Therapien angeboten.

Die bereits vorliegenden Ergebnisse belegen unzweifelhaft: Es wurde auch mit körperlicher und seelischer Gewalt in kirchlichen Heimen erzogen. Es kam dabei vermutlich nur in einzelnen Fällen zu Menschenrechtsverletzungen wie Freiheitsentzug, und auch zu sexuellem Missbrauch. Die Untersuchungen zeigen, dass zwischen den Heimen deutliche Unterschiede im Umgang mit den anvertrauten Kindern und Jugendlichen bestanden. Die Fälle von körperlicher und seelischer Gewalt sind nicht auf kirchliche Heime beschränkt, sondern traten in den Heimen unterschiedlicher Träger auf. Die Kinder und Jugendlichen in den Heimen mussten vielfach arbeiten. Harte Arbeit wurde als pädagogische Maßnahme gewertet, aber auch aus ökonomischen Gründen mussten die Kinder und Jugendlichen arbeiten, da der Pflegesatz extrem niedrig war. Die Kirchen, Diakonie und Caritas unterhielten im Vergleich mit anderen sehr viele dieser Heime2, gerade aufgrund der geringen Sätze, die die Kommunen oder Länder für die Heimunterbringung zahlten. Der Zeitraum, in dem es zu inakzeptablen Zuständen in den kirchlichen Heimen kam, lässt sich klar auf die fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts begrenzen. Konkrete Zahlen von Opfern lassen sich weiterhin nur schwer ermitteln. Aber jeder einzelne Missbrauch, jede einzelne Menschenrechtsverletzung hätte nicht passieren dürfen. Es gilt hier insgesamt nichts zu beschönigen, zu verharmlosen oder zahlenmäßig klein zu reden.

Es gilt nach den Gründen zu fragen, warum in Heimen allgemein mit Gewalt erzogen wurde und warum viele kirchliche Heime hier keine Ausnahme bildeten. Wie in der Gesellschaft insgesamt galt auch in der Kirche die Prügelstrafe oder andere körperliche Züchtigungen als normal. Institutionelle Gewalt wurde als Teil des Erziehungssystems verstanden. Die Soziologie und die Pädagogik haben für diese Form der Erziehung mit Gewalt, körperlicher und seelischer Bestrafung, mit Einschüchterung sowie seelischer Demütigung den Begriff der „Schwarzen Pädagogik“ geprägt.3 Das vielfach gesetzte Ziel war schon in der Antike, im Mittelalter und bis in die 6oer Jahre des vergangenen Jahrhunderts, den Menschen nach einem ganz bestimmten Menschenbild zu formen und zu bilden. Um dieses Menschenbild zu verwirklichen, sahen es viele Pädagogen als notwendig an, den Willen des Kindes zu brechen, seine Eigensinnigkeit und seine Bedürfnisse zu eliminieren sowie seine vermeintlich schädlichen Triebe zu bändigen. Kinder und Jugendliche sollten so zu einem gesellschaftlich legitimierten Handeln und Verhalten erzogen werden. Diese pädagogischen Grundüberzeugungen waren um so mehr bei „auffällig“ gewordenen, nicht angepassten Kindern und Jugendlichen durchzusetzen. Wenn die Eltern nicht der Lage waren, ihr Kind zu diesem Handeln und Verhalten zu erziehen, wurde die Einweisung in ein Heim als ein angemessenes Mittel betrachtet. So waren Diebstahl, Schwangerschaft oder Weglaufen aus dem prügelnden Elternhaus, aber auch Widerworte gegen eine allein erziehende Mutter bzw. „Schwererziehbarkeit“ im weitesten Sinn Gründe für die Einweisung in ein Heim.

Gehorsam gegen Eltern, Lehrer und politische Obrigkeit war Jahrhunderte lang unbestrittenes Ziel von Erziehung. Gerade der Nationalsozialismus hatte diesen Gedanken des Gehorsams extrem verstärkt, so dass er in der Nachkriegszeit unvermindert wirksam war. Auch deshalb war das Schlagen in der Schule erlaubt und gängiges Erziehungsmittel. In der DDR wurde bereits 1949 die körperliche Züchtigung an Schulen verboten, in der Bundesrepublik Deutschland erst 1973 und erst im Jahr 2000 kam es in Deutschland zum Verbot der elterlichen Züchtigung.

Die „Schwarze Pädagogik“, geprägt und verstärkt durch den Zeitgeist, beeinflusste die Pädagogik nicht nur in kirchlichen Heimen, sondern durchaus auch in christlichen Elternhäusern. Sie galt als angemessene Reaktion auf die Sünde bzw. Erbsünde des Menschen. Die theologischen Topoi von Sünde und Erbsünde dienten auch zur theologischen Legitimation einer schwarzen Pädagogik. Von der Schwarzen Pädagogik haben wir uns heute als Kirche klar und deutlich distanziert. Sie war und ist untragbar, ist zutiefst unevangelisch und hatte furchtbare Folgen auch in der Heimerziehung.

Die Rede von der Sünde ist angemessen zu interpretieren: sie trägt die Gesamtheit der Realität in die christliche Anthropologie ein. Menschen werden schuldig gegenüber sich selbst, anderen Menschen und Gott. Das nennt die Bibel Sünde. Der Begriff der Erbsünde, d.h. dass das Sündersein und das dem entsprechende Handeln grundsätzlich vererbt wird, ist theologisch problematisch, denn der Gedanke einer Erbsünde lässt sich weder schöpfungstheologisch noch anthropologisch oder christologisch halten, aber er besitzt ein bleibendes Wahrheitsmoment: Obwohl es nicht zwangsnotwendig oder auch nicht genetisch vererbt ist, zeigt sich doch immer wieder, dass Menschen schuldig werden und auf die Vergebung Gottes angewiesen sind. Das ist eine zutiefst evangelische Erkenntnis. Diese menschliche Wirklichkeit ist in den Blick zu nehmen. Der Begriff der Sünde steht für die dunkle Seite im Leben, für Aggression, das Nichternstnehmen anderer Menschen und für einen verantwortungslosen Umgang mit der Macht. Sündigwerden heißt auch, die Existenz Gottes zu negieren, die eigene Geschöpflichkeit nicht anzuerkennen und das Leben nicht an der Botschaft des Evangeliums zu orientieren.

Mit den Mitteln der Schwarzen Pädagogik wollte man die Sünde unterdrücken und bekämpfen, auch weil diese Ängste auslösen kann. Angst vor dem eigenen Dunkel und dem Dunkel des anderen, der Aggression, aber auch Angst vor einem Gott, der den Sünder in Ewigkeit straft und verdammt. Eine Angst, von der Luther grundsätzlich theologisch befreit hat, die aber damit offensichtlich nicht grundsätzlich verschwunden ist. Die Pädagogik in den kirchlichen Heimen in den 50er und 60er Jahren ging davon aus, dass es gut ist, wenn Gott verzeiht, aber um des menschlichen Zusammenlebens, gerade um seiner Ordnung willen gilt es die Sünde im Leben zu unterdrücken und zu bekämpfen. Begründet wurde diese überwiegende Orientierung in der christlichen Pädagogik an der Sünde auch mit biblischen Zitaten wie „Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er.“ (Heb 12,6) oder „Wer seine Rute schont, der hasst seine Kinder.“ (Spr 13,24). Sünde und Vergebung wurde nicht zusammengedacht. Es war für diese christliche Pädagogik nicht relevant, dass Gott sich für den Weg der Liebe und nicht der Strafe entschieden hat.

Die Auswahl solcher Bibelstellen nimmt das biblische Zeugnis nur eklektisch wahr. Dafür, dass Gott selbst auf Strafe verzichtet und Liebe übt, steht als biblische Schlüsselgeschichte die des Propheten Jona. Hier wird der Abschied von einem Gottesbild genommen, das davon ausgeht, Gott strafe für Sünde und Schuld. Gott straft die böse, korrupte Stadt Ninive aus lauter Liebe und Güte nicht. Noch deutlicher und unhintergehbar wird dieser Abschied von der Strafe durch Gott in Jesus Christus, der sichtbar macht und bis in den Tod hinein lebt, dass Liebe und Versöhnung das Handeln Gottes an den Menschen bestimmen. Liebe und Versöhnung sind zugleich prägend für ein menschliches Leben, das sich am Evangelium Jesu Christi orientiert und gerade darin gelingt. Zugleich gilt es auch hier die Realität der Sünde ernst zu nehmen. Martin Luthers Aufforderung „sündige fröhlich“ oder „sündige kräftig“ nimmt die Realität ernst, dass Menschen offensichtlich immer wieder schuldig werden. Gleichzeitig macht er Ernst damit, dass Gott in Jesus Christus Menschen dennoch immer wieder Schuld vergeben will.

Zugleich gilt es dieser Aufforderung Luthers mit Luther selbst zu widersprechen. Leben gelingt erst, wenn es in Verantwortung und im Gegenüber zu Gott gelebt wird und an der Botschaft des Evangeliums orientiert ist. Es ist eine der wichtigsten Einsichten Martin Luthers, die er aufgrund seiner Paulus- und Augustinus-Studien gewonnen hat, dass der Mensch simul justus et peccator (Sünder und Gerechter zugleich) ist. Jeder Mensch hat auch viele Gaben, Fähigkeiten und Potentiale, die nach christlichem Verständnis von Gott geschenkt sind und die er helfend, heilend, versöhnend im Sinne der Liebe einsetzen kann. Es gibt gelingendes Leben, wenn es gelingende Beziehung gibt. Gott selbst zeigt, dass gelingende menschliche Beziehungen auf einer existentiellen Beziehung zu Gott und auf Liebe, Gottes- und Nächstenliebe beruhen: „Du sollst den Herren, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mt 22, 37; 38) Die Liebe verändert Menschen, nicht die Strafe und nicht die Schläge.

Von daher bestimmt sich gegenwärtig christliche Pädagogik, die vom Menschen als simul justus et peccator ausgeht und deren Ziel es ist, dass Menschen sich bilden, ihre Identität entfalten und Verantwortung übernehmen und deren Grundlage Liebe, Versöhnung und Gerechtigkeit sind. Christliche Pädagogik ist potentialorientiert, will aber darin einüben, mit Schuld und Scheitern konstruktiv umzugehen. Wenn Leben trotz der Realität des menschlichen Sündigens gelingen soll, ist ein Schuldeingeständnis notwendig. Schuld ist beim Namen zu nennen. Sie darf nicht weg argumentiert werden oder weg interpretiert werden. Es kommt darauf an, Schuld einzugestehen, Schuld klar zu benennen und dann konstruktiv nach Wegen der Versöhnung zu suchen. Christliche Pädagogik tritt ein für die Achtung und den Respekt vor der Würde jedes Menschen, will zur Feindesliebe anregen und empfiehlt in letzter Konsequenz, auch die linke Wange hinzuhalten, wenn auf die rechte Wange geschlagen wird. Sie will eine christliche Daseins- und Handlungsorientierung für ein gelingendes Leben vermitteln. Dafür sind auch Geschichten vom gelingenden Leben notwendig, gerade auch für die Eltern, die in Erziehungsfragen unsicher geworden sind. Christliche Pädagogik braucht, um dies leisten zu können, eine hohe Selbstreflexion und muss auch extern immer wieder kritisch geprüft werden.

Eine solche potentialorientierte, nicht die Sünde in den Mittelpunkt stellende Pädagogik bestimmt heute die Erziehung in evangelischen Kindertagesstätten, Schulen, Kirchengemeinden und anderen Einrichtungen. Die misslungene Heimerziehung in evangelischen Einrichtungen in der Nachkriegszeit, die so viel Leid über Heimkinder gebracht hat, beruhte maßgeblich auf einer fragwürdigen Theologie, die mit dem Zeitgeist und der gesellschaftlich vorherrschenden Pädagogik eine unheilvolle Symbiose einging. Sie macht deutlich, dass Kirche immer Kirche in der Zeit ist. Die evangelische Kirche muss sich immer wieder fragen, inwiefern sie ihrer Aufgabe nachkommt, kritisch und wenn nötig sogar widerständig zu sein, z.B. gegenüber pädagogischen Ansätzen und Entwicklungen. Die Situation in den kirchlichen Heimen steht auch deshalb im Mittelpunkt der Medienberichterstattung, weil nicht nur die evangelische Kirche den Anspruch hat, dass ihr Handeln sich am Evangelium Jesu Christi orientiert. Dies ist ein hoher Anspruch, an dem Kirche konkret immer wieder scheitert und an dem sie sich aber bleibend messen lassen muss. Es ist ein Anspruch, der Kirche vorgegeben ist, den sie nicht aufgeben kann, weil es Gott so will. Aber Vertreterinnen und Vertreter von Kirche müssen sich selbst eingestehen, dass sie diesem Anspruch oft nicht gerecht werden in dem Wissen darum, dass gerade dieses Ringen mit dem eigenen kirchlichen Anspruch und dem Scheitern daran evangeliumsgemäß ist. So hat Kirche als lernende Institution Demut zu üben. Die Botschaft der Christinnen und Christen ist diesen selbst weit voraus. Sie gilt es zu vertreten in dem Wissen darum, dass Christinnen und Christen es in Sternstunden unzweifelhaft schaffen, dem Anspruch Gottes gerecht zu werden und in den Schatten der Nacht kläglich daran scheitern.

Deshalb ist das, was damals in den evangelischen Heimen geschehen ist, klar Sünde zu nennen. Als Kirche müssen wir hier bekennen, dass Menschen Unrecht und Gewalt geschehen ist, ihre Würde nicht geachtet und geschützt wurde sowie in manchen Fällen ihre Menschenrechte verletzt oder sie sexuell missbraucht wurden. Wir sind als Institution mit diesem Versagen behaftet, haben als Institution Schuld auf uns geladen und müssen heute versuchen, konstruktiv damit umzugehen. Schuld ist klar beim Namen zu nennen, die Opfer sind anzuhören, wir haben uns dem Leid der Opfer zu stellen und mit ihnen nach Lösungen zu suchen. Auch hier gibt es heute keine „Gnade der späten Geburt“. Wir haben aus dieser leidvollen Geschichte der Opfer gelernt, so dass heute schon bei Verdacht auf Missbrauch die Maxime „zero tolerance“ gilt. Es braucht dieses Schuldeingeständnis, damit Leben der Opfer neu weitergehen kann und das kirchliche Handeln sich bleibend ändert. Nur so kann Neues wachsen, auch neues Vertrauen. Es ist aus dieser leidvollen Geschichte weiter zu lernen, dass wir als Kirche auch Widerstand gegen den Zeitgeist zu leisten haben, wenn es um der Menschen und um Gottes Willen notwendig ist. Das haben wir in der kirchlichen Heimerziehung in der Nachkriegszeit versäumt, deshalb sind wir an vielen Heimkindern schuldig geworden. Dafür entschuldige ich mich auch persönlich als eine Vertreterin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

 

Anmerkungen

  1. Peter Wensierski: Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik, München 2006.
  2. Auch heute unterhalten kirchliche Träger viele Förderschulen, insbesondere für Kinder und Jugendliche mit emotionalem und sozialem Förderbedarf, die sich selbst hohe Qualitätsstandards gegeben haben, regelmäßig evaluiert werden und ihre Arbeit transparent machen.
  3. Grundlegend dafür ist Katharina Rutschky (Hg.): Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Frankfurt a. Main u. a. 1977.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2009

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