Anmerkungen eines Fernreisenden – Fernreisen: Horizonterweiterung oder Klimakiller? – pro

von Ralf Rogge

 

Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, liest nur eine Seite davon.“ (Augustinus)

Die Großmutter meiner Frau ist in ihrem fast neunzigjährigen Leben nur einmal verreist, von Siegen nach St. Augustin. Sie hat – um das Bild von Augustinus aufzugreifen – also nicht viel mehr als eine Seite gelesen. Und sie hat ein ausgefülltes Leben gelebt.

Das ist die eine – sedentäre – Stimme, die sich bei mir Gehör verschafft, wenn es um das Thema Reisen geht. Neben der Stimme, die zum Bleiben auffordert, vernehme ich auch eine andere, die zum Aufbruch, zum Umherziehen, zur Migration drängt und die Friedrich Nietzsche in Aufnahme eines Herder-Wortes in den Ruf zusammenfasst: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“

Ich reise gern. Ich liebe es, bei der Ankunft, beim Anlegen des Schiffes, beim Verlassen des Zuges oder Flugzeuges in den ersten Atemzügen, Blicken und Geräuschen die neue Atmosphäre in mich aufzunehmen, darin Vertrautes, Irritierendes, Verlockendes zu entdecken. Mich faszinieren fremde Landschaften, Begegnungen mit Menschen anderer Kultur und Religion. Bilder haben sich mir von diesen Reisen eingeprägt, die zu inneren Bildern geworden sind:

Die endlos scheinenden Salzwiesen nördlich des Kakadu – Nationalparks mit den wild lebenden Pferden und Wasserbüffeln; das Krachen der Schädel zweier kämpfender Büffel im staubdurchwirkten Abendlicht; die 20, 30 orange­glühenden Augenpaare im nahen Billabong; das Gespräch mit einem Schamanen des dortigen Clans von Aborigenes über ihren und den christlichen Schöpfungsglauben an einer heiligen Stätte, die die Weißen zum Schlachthof gemacht haben, sein Angebot, mich in Verbindung mit der Regenbogenschlange zu bringen…; das Beben des Urwaldbodens beim Tanz der Dorfgemeinschaft eines Customvillage auf Tanna in Vanuatu; wie uns ein Neffe der Verstorbenen die Bestattungszeremonie der christlichen Toraja auf Sulawesi erläutert, unser Erstaunen, als wir erfahren dass seine Tante vor zwei Jahren gestorben ist und jetzt endlich das Geld für die Herstellung eines Tau-Tau (einer hölzernen Nachbildung der Toten, die auf einer Art Balkon vor der Grabkammer aufgestellt wird) und für die Feier da ist, zu der an die 1.000 Menschen eingeladen sind …

Das ist doch purer Exotismus, werden die einen sagen. Für mich sind es Erlebnisse, in denen ich auch viel über die eigene Kultur und Religion und darin auch über mich gelernt habe. Und das geschieht nicht, wenn ich mich in zu Hochsicherheitstrakten umgebauten Urlaubsresorts befinde. Es geschieht meist, wenn ich die Weiterreise im Land selbst mit örtlichen Anbietern organisiere und Zeit habe, von der Route abzuweichen, Zufallsbekanntschaften zu vertiefen.

„Wie steht es mit Deiner CO2-Bilanz?“ werden andere fragen. Aber hier begeben wir uns schnell in das Reich der „unkrümmbaren Finger“, die nur auf Andere, aber nie auf sich zeigen können, wie es Bischof Huber einmal gesagt hat. Da kann man die CO2-Emissionen von Flugverkehr und Schifffahrt miteinander vergleichen, wobei die Schifffahrtsemissionen mittlerweile deutlich die der Flugreisen übersteigen. Da wird die Vorliebe für Oldtimer zum Problem und gleichzeitig fahren die Kinder zum Schüleraustausch nach Shanghai und in die USA, da muss Vater in Indien Maschinen einrichten und Mutter kann auch mal mit dem Touareg zum Nordic Walking fahren …

Fernreisen sind Bestandteil unseres Lebens. Und mit dem gleichen Recht, mit dem man zum Verzicht auf Fernreisen aufruft, kann man auch zum Verzicht auf das Auto oder auf Waren aus anderen Ländern aufrufen. Ikea – Goodbye!
Also ab und zu mal den Zeigefinger krümmen und auf das hören, was Mark Twain gesagt hat:

„In 20 Jahren werden Sie mehr von den Dingen enttäuscht sein, die Sie nicht getan haben als von denen, die Sie getan haben. Lichten Sie also die Anker und verlassen Sie den sicheren Hafen. Lassen Sie den Passatwind in die Segel schießen. Erkunden Sie. Träumen Sie. Entdecken Sie.“

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2008

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