Wir ziehen in die Fremde* - Ein kleines Kapitel Religionspädagogik

von Dietrich Zilleßen

 

Religionspädagogische Höhen und Tiefen

Wir ziehen in die Fremde. Geht es dabei um Reisegeschichten oder um erotische Erfahrungen? Ich meine, um beides, weil ohne die Anziehung der Fremde keiner reist und keiner liebt. Fremdgehen ist eine Bewegung des Eros, die gefährliche Grenze des Eigenen zu überschreiten. Ohne diese Überschreitung würde das Leben seine Faszination einbüßen. Niemand könnte das Eigene lieben.

Ich erlaube mir deshalb, religionspädagogisch auszuschweifen, unterwegs zu sein im profanen Leben, symbolisch gesprochen. Religionspädagogik muss in die Fremde gehen, um dem Leben nahe, um lebendig zu sein. Mit dieser elementaren These will ich im weiteren auf die theologische Orientierung der Religionspädagogik verweisen.

Nicht nur eine Religionspädagogik der Jahreszeiten hätte im Sommer mit dem Reisen zu tun. Reisen ist zugleich Metapher des ganzen Lebens. Lebenslauf ist Lebensreise. Das Leben verläuft im wahrsten Sinn des Wortes; es läuft in die Irre und es verfließt. Darum bedarf es der Rituale, die das Leben stabilisieren. Reisen ist essentiell provisorisch und unsicher. Gewohnheiten versichern das Reisen gegen sich selbst, gegen seine Haltlosigkeit, gegen die Unwägbarkeiten des Lebens, gegen die tiefe Fremdheit der Existenz. Gewohnheiten: das Wort ist bezeichnend. Wohin anders als nach Hause soll es denn gehen, wenn wir in die Fremde ziehen. Im Sommer reisen alle, damit sie das Zuhause bewahren. Wir ziehen in die Fremde, um zu Hause bleiben zu können, um Heimat zu sichern. Die Fremde ist der Grund der Heimat, weil sie die Heimat bestätigt. In der Fremde, in die wir ziehen, spiegelt sich die Heimat, an der wir hängen.

Dieser symbolische Tausch kennzeichnet die menschliche Existenz: Das Andere, das wir suchen, begründet das Eigene, das wir haben. Die Grenzüberschreitung beinhaltet eine fundamentale Symbolik. Das Bedürfnis, die Grenze zu übertreten, entspricht dem Bedürfnis, sie zu achten, nämlich das Eigene zu definieren, abzugrenzen. Die fremde Welt und die eigene Wohnung liegen "gar nicht so weit auseinander" (Hans-Jürgen Heinrichs 1997, 223).

Sehnsucht zieht uns in die Fremde, um mehr zu sehen, als es zu sehen gibt. Die Welt möge anders sein, als sie ist. Aber was Menschen suchen, stammt aus Bildern, von denen keiner genug kriegen kann, aus den Sehnsuchtswelten des Alltags. Was macht das schon, wenn sie im virtuellen Zimmer von VIVA oder Pro Sieben vorgeführt werden? Wir reisen in Orte, die wir schon kennen, und kommen an, wo wir schon gewesen sind. Wir suchen, wovon wir schon Bilder haben. Die religiöse Suche nach dem Anderen kennt beide Aspekte der Faszination: Fremdes zieht an und schreckt ab. Reisen verspricht, aus Banalitäten Verheißungen und aus Bescheidenheit Unersättlichkeit zu machen. Aber das Versprechen ist auch eine Drohung. In dieser Dialektik liegt seine faszinierende Macht. Kommt das Reisen religionspädagogisch zur Zeit zu kurz?

Reisen, Pilgerreisen, Wallfahrten, Prozessionen, Initiationsreisen, Totenreisen: Reisen war von Anfang an ein religiöses Ritual, nicht nur, weil sich darin Glaubenswege und ihre transzendenten Ziele darstellten. Reisen verweist auch auf anthropologische Grundsätzlichkeit, auf Grundgesten des Lebens: loslassen und sich binden, weggehen und zurückkehren.

Wir ziehen in die Fremde. Aber wir kommen nirgends anders als bei uns selbst an. Sollte es beim Reisen doch um ein Warten ohne Ende gehen? "Ich setze mich an die Tür und tränke meine Augen und Ohren mit den Farben und Tönen der Landschaft und singe langsam, für mich allein, undeutliche Lieder, die ich während des Wartens komponiere" (Fernando Pessoa, Buch der Unruhe, 18). Pessoa ist in Lissabon geblieben und war doch unentwegt unterwegs. "Das Einzige, was man vom Reisen existentiell lernen kann, das wäre die Kunst des Nichtankommens" (Burghart Schmidt 1997, 240). Religion beruhigt sich nicht in den Erfahrungen des Daseins, weil sie auch die Unruhe des Herzens in sich hat. Schöpfung und Exodus sind Momente der Religion, die uns immer wieder in die Fremde zieht. Darum enthält Reisen unheimliche Momente des Umherirrens, auch wenn es anscheinend nach Plan verläuft. Reisegeschichten sind immer schon als Bildungsgeschichten geschrieben worden, nicht erst seit Goethes Wilhelm Meister. Ihre Bilder sind Wege in die Unendlichkeit, in endlose Weiten, Blicke aus unermesslichen Höhen. Maßlos sind die Träume, die von diesen Höhepunkten erzählen. Aber die Höhe ist zweigesichtig, wie Helga Peskoller formuliert (BergDenken, 1997, 1998, 211), weil sie zugleich auch die Tiefe ist. In jeder Sehnsucht nach Höhe spiegelt sich (als Ausdruck existentieller Symbolik) das Kleben am Grund, an der Tiefe.

Was Reinhold Messner noch kürzlich (im Mai 2003) als seinen Traum beschrieb, erzählt unversehens und unbewusst von Abgründen sowohl der Höhe als auch der Weite, der Wüste: "Als ich 1980 nach einem anstrengenden Alleingang auf dem Gipfel des Mount Everest saß, war ich weiter weg von der Erde denn je. Hineingeworfen in eine kalte, stürmische Welt. Ich konnte nicht denken. Das Zurückkommen war wie eine Wiedergeburt. Erstmals im Leben begann ich von der Weite zu träumen, nicht mehr von den großen Höhen. Ich wollte mich verlieren können und jene Winkel meiner Seele kennen lernen, die mir im Alltag oder bei der Konzentration des Kletterns verborgen geblieben waren. So reifte der Traum, die Antarktis zu durchqueren. Oder Grönland der Länge nach. Oder die Takla-Makan-Wüste" (ZEIT, Nr. 23/28.5.2003, S. 64). Ganz beiläufig spricht Messner dabei die widersprüchlichen Grundbedürfnisse aus: sich verlieren und sich finden. Er will sich in Unendlichkeit auflösen und durch Selbsterkenntnis bewahren. Todessehnsucht und Todesverdrängung sind hier aufeinander bezogen. Selten wird diese grundlegende Korrelation so manifest wie bei den Versuchen, sich äußersten Grenzen anzunähern, beim Klettern in extremen Höhen und beim Gehen in extremen Wüsten.

Kann dabei überhaupt erreicht werden, was Messner will: Überwindung der Alltagsgrenzen durch Erfahrung von Unendlichkeit, spirituelle Selbstvergewisserung durch Selbstverlust? Vielleicht kommt kein Bergsteiger auf dem Gipfel an, dem Gipfel seiner Wünsche. Vielleicht durchquert keiner wirklich die unendliche Weite seiner Träume. Der Bergsteiger kommt wieder dort an, wo er aufgebrochen ist, im abgründigen Grund, auf dem Boden, auf der Erde. Beinhaltet Bergsteigen den symbolischen Verweis auf eine elementare Vergeblichkeit? Vielleicht ist Bergsteigen immer mit Selbstverlust verbunden.

Die Erfahrung der Tiefe wird zur Sehnsucht nach Höhe. Haltlosigkeit sucht den Halt, Enge die Freiheit, Erde den Himmel. Aus der Tiefe rufen Menschen nach Gott. In der Wüste dürsten sie nach ihm, während sie ihn auf den Bergen verraten. Auf den Gipfeln sind sie in den eigenen Träumen zur Ruhe gekommen. Sie machen sich auf, ihm stumme Gebete auf dem Berg darzubringen. Aber oben haben sie (im doppelten Sinn) den Grund vergessen. Gott lässt sich nicht sehen, weder in der Wüste, noch auf dem Berg. Bergsteigen erhebt sich über den Grund und kann ihn doch nie verlassen, so sehr es auch vom Grund absieht. Bergsteigen ist Abstraktion.

Mir scheint, dass Bergsteigen ein grundlegendes, elementares Exempel der Religionspädagogik sein kann. Bernhard Dressler ermunterte mich, mitzukommen auf eine Tour. Die Bergvision gefällt mir. Ich bin noch unsicher. Aber ich versuche schon mal eine religionspädagogische Annäherung.

 

Bergsteigen: der Traum der Höhe

Wahrscheinlich bestieg Francesco Petrarca 1336 den Mont Ventoux in der Provence, was damals noch eine alpinistische Leistung war (mal abgesehen davon, dass ihm diese Bergbesteigung bestritten wird). Petrarca hat jedenfalls einen berühmten Brief, das Sendschreiben von 1353 an den Cardinal Colonna verfasst, das seinen theologischen und philosophischen Ruhm begründete. Daraus wissen wir, dass er auf dem Gipfel des Mont Ventoux Augustins Confessiones las, um sich nicht an dem Überblick über die Welt zu berauschen.

Natürlich darf Petrarcas Bergbesteigung als Pilgerfahrt zu Gott in der Höhe gelesen werden (Peskoller, 226). Aber das war nicht ihr Grundmotiv. Bergsteigen ist immer auch Übersteigen. Was übersteigt Petrarca? Er steigt hinaus über seine Bildung, seine kirchlich-religiöse und auch humanistische Kultur. Sie auferlegen ihm die Pilgerreise. Er übersteigt sein kulturelles, sein religiöses Wissen.

"Petrarca will wissen, was ihm unbekannt ist" (a.a.O.). Er wollte "in erster Linie die Höhe kennenlernen", Reinhold Messner 650 Jahre später am Nanga Parbat "vor allem sich selbst durch die Höhe" (a.a.O., 212). Notwendigerweise, nämlich schuldbewusst liest Petrarca auf der höchsten Höhe die Confessiones und darin die Aussage, die ihn trifft: "Da gehen die Menschen, die Höhe der Berge zu bewundern und die Fluten des Meeres ...., und verlieren dabei sich selber" (a.a.O., 60). Augustinus ist gegen die dunkle Triebnatur des Körpers vorgegangen, die immer mehr will, "als man kann, soll, muss oder darf" (a.a.O., 222). "Der Körper versagt Augustinus die Läuterung, die er ihm aufzwingt" (a.a.O., 221). In dieser Schuld sieht sich auch Petrarca. Erst nach dem Abstieg erreicht dieser, unten angekommen, eine gewisse Erlösung. Der verwirklichte Abstieg wird ihm zum spirituellen Aufstieg. So erfährt seine Bergbesteigung schließlich im Abstieg doch noch ihren Sinn. Petrarca findet wieder zu sich selbst, was heißt, er findet zurück zur religiösen Kultur seiner Zeit.

Die Bewegung "übern Grund" (wie Peskoller sagt) führt zum Grund. Das ist die elementare Performance des Bergsteigens. Die Abstraktion, die im Klettern liegt, abstrahiert vom Grund, von der Welt. Sie ist "eine Absicht wider das Materielle" (a.a.O.), weil sie die Abhängigkeit vom Grund beseitigen will. Aber das gelingt ihr nicht. Bergsteiger hängen am Materiellen, mit Seil und Haken an der Welt und ihrem abgründigen Grund. Die "Geschichte der Höhe", die mit dem Aufstieg ge schrieben wird (a.a.O.), ist in schweigende Geschichten des Abstiegs verwickelt, von denen keiner viel Aufhebens machen will. "Je mehr man sich der Höhe anvertraut, desto weiter zurück bleibt der Grund, d.h. desto fremder wird er einem. Heute steigen viele Menschen in die Berge, das Fliehen des Grundes ist normal" (a.a.O., 212). Aber der "Aufstieg kann den Tal-Grund nicht aufheben. ... Je mehr man den Grund übergeht, desto bedrohlicher liegt er unter einem" (a.a.O., 213). Nichts wird so durch den Grund bedroht wie die Höhe (a.a.O.). Höhe ist keine Enträumlichung, mag sie auch als solche erlebt werden.

Jeder Grund ist ein Abgrund, weil er keinen Halt geben kann. Nur wer den Abstieg vom Gipfel hinter sich hat, weiß das. Unter dem Abgrund ist keine Sicherheit, kein Fundament. Je weniger das bewusst ist, um so plötzlicher und stärker ist der Absturz. Erst mit dem Abstieg, so meint Peskoller, "erinnert sich der Bergsteiger an das, was er verlassen hat" (a.a.O., 187), den Grund. "Es ist, als käme erst im Abstieg die Auswirkung des Aufstiegs zum Vorschein: ... Sich an den Grund anzunähern heißt auch, der eigenen Begrenztheit und Vergänglichkeit gewahr zu werden. Gelingt dies nicht mit Vorsicht und Sorgfalt, wird aus der Annäherung ein gewaltsamer Akt des Abstürzens" (a.a.O.).

Das Leben ist abgründig, weil jede Höhe, jeder Himmel symptomatisch auf den Grund, den Abgrund verweist. Die Höhen sind (wie im Lied) immer schwindelnde, nicht, weil sie so hoch sind, sondern dem Abgrund so nah. Keine Sorgsamkeit, keine bergsteigerische Professionalität kann vermeiden, in die Höhe steigend dem Abgrund näher zu kommen, – kann vermeiden, der Grundlosigkeit des Grundes bewusst zu werden. Diese Inversion ist anthropologisches Geschick. Reinhold Messner geht, wie er sagt, "ins Ungewisse hinein, ins Risiko" (SZ v. 3./4. Mai 2003). Den abgründigen Grund wird er nicht los.

Daran liegt es, dass das Bergsteigen (unberechtigter Weise) als profane Aktion gilt, der Berg aber "seit altersher mit dem Kult und dem Sakralen in Verbindung" steht, "auch wenn das Religiöse und Erhabene einer Bergbesteigung immer wieder beschworen wird" (Peskoller, a.a.O.). Bergsteigen gilt als Weg zum Ziel, Lösung von der Schwere des Grunds, der Ebene, des Tals, des Bodens, – Erlösung. Doch diese religionspädagogische Erleichterung führt nicht zum Ziel, weil der Gipfel nicht dieses Ziel sein kann. Auf dem Gipfel kann man nicht wohnen. Auch nicht im Zelt in der Wand. Überschwang und Erschrecken, stumme Klage und Gebet erfährt der Gipfel. In Abstiegen (wie bei Noah vom Berg Ararat, wie bei Moses vom Berg Sinai, wie bei Jesus vom fiktiven Berg der Seligpreisungen) liegt der Beginn des sozialen Lebens, Heilung des Menschen von seiner Blindheit, Lähmung und Sprachlosigkeit. Gipfelstürmer haben zuviel gesehen, sind zu hoch gestiegen, haben zu große Worte. "Im Absteigen rückt das Leben näher" (a.a.O., 201). Aber ohne die Abstraktion des Aufsteigens verliert das Leben seine Leidenschaft, seine Kreativität und Phantasie. Die Kraft dieser Abstraktion, ihre Begeisterung, ihre Grundlosigkeit, ja Sinnlosigkeit und Todesnähe sind Lebenszeichen. Weil die Abstraktion den Grund vergessen kann, ist das Leben möglich. "Die Höhe charakterisiert das Denken" (a.a.O., 219). Aber es muss absteigen. Insofern ist BergDenken (der Begriff ist der Titel der Dissertation von H. Peskoller) gerade keine bloße Abstraktion, sondern ein anderes Denken, ein Denken des Anderen, das über die Abstraktion hinausdenkt (a.a.O.) und in Verbindung bleibt mit der dunkel-fremden Tiefe, mit dem abgründigen Leben. Es kann sich nicht an die Allgemeinheit von Begriffen binden, sondern muss sich dem abgründigen Grund, dem stummen Stein, dem leeren Boden anvertrauen. Die Dinge müssen erlöst werden vom Bewusstsein des Menschen (Francis Ponge). "Ich musste mich einem Denken anvertrauen, das auch nicht denken kann", sagt Peskoller: "In der Abstraktion steckt die Vernichtung der Materie, also muss über die Abstraktion ... das Vernichtete aufscheinen" (a.a.O.). Dieses Denken, das zugleich abstrahiert wie gebunden bleibt, möchte ich als spirituelle Aktion verstehen. Sie achtet (gegen alle symbolische Inanspruchnahme) den stummen Stein. "Stein des Anstoßes ist das Konkrete dem Abstrakten" (a.a.O., 226), im wahrsten Sinn des Wortes. Poesie verschließt die Welt, indem sie deren endende Schönheit achtet.

Darum ist Bergsteigen von religiöser Grundsätzlichkeit. Religionspädagogik bleibt an die Welt gebunden; ihre Theologie an den abgründigen Grund.

Auch Messner will nicht ohne Grund klettern. Aber er sucht wie Petrarca den Sinngrund seines Tuns, ein vergeblicher Impuls gegen das Abgründige.

Warum kann Messner nicht aus Vergnügen auf den Berg steigen, wie das andere Menschen auch tun? Aus sportlichen Interessen, gesundheitlichen Bedürfnissen oder weil sie Abstand gewinnen wollen. Hier genau setzt die Frage an: Der Berg ist ebenso wenig ein natürlicher Berg, wie Klettern ein bloßer Bewegungsablauf ist. Alles vermittelt Botschaften, verweist auf ein Anderes, in einer Bedeutungskette, die sich ständig, metonymisch, verschiebt. Berg ist selbst eine Botschaft, eine Lehre des Findens (Gott oder sich selbst finden), des Abstands (von den Zwängen der Welt), des Einklangs (mit der Natur oder den Dingen). Aber selbst Peter Handke wusste, wie diese Lehre endet: "Zurück zu den heutigen Menschen; zurück in die Stadt; [...]; zurück zu den Sportplätzen und Nachrichten; zurück zu den Glocken und Geschäften; zurück zu Goldglanz und Faltenwurf" (Die Lehre der Sainte-Victoire, 139). Religion und Kunst verbinden sich. Cézannes Sainte-Victoire ist mehr als die Sainte-Victoire, mehr als der provençalische Berg, in dem die Sonne mit Licht und Schatten die Götter herbeiruft.

Goldglanz und Mode, Glocken und Geschäfte heißt Religion und Ökonomie. Sie verhüllen den letzten Abstieg, den Tod. "Zu Hause das Augenpaar?" fragt Handke zum Schluss (a.a.O.). Die melancholische Reminiszenz verweist nicht nur (wie so oft bei ihm) auf die traurige, verschlossene Schönheit der Dinge. Beim Abstieg von der Sainte-Victoire ging ich, sagt Handke, "bewusst langsam weiter, fast immer mit gesenktem Kopf, jede gesuchte Ferne vermeidend" (70/71). Diese Geste existentieller Grundsätzlichkeit verwandelt den alles überblickenden Blick vom Gipfel. Jede Religion artikuliert sich in dieser Spannung von oben und unten, von zuviel und zuwenig. Aber Gesten sind nicht eindeutig, in der einen kann die andere enthalten sein. Überheblichkeit kann Enttäuschung sein, Melancholie Souveränität beinhalten.

Messner verdrängt die Grundlosigkeit des Grundes, seine Sinnlosigkeit. "Heute träume ich manchmal davon, durch eine hohe überhängende Wand zu stürmen – ohne die geringsten Ängste und Zweifel. Und dann, wenn ich doch den Halt verliere und stürze, kann ich aus der Senkrechten in die Waagerechte hinaustauchen und fliegen!" (a.a.O.). Den Halt verlieren und fliegen. Wie normal ist doch der Traum dessen, der bis an seine Grenzen, an die Grenzen geht. Fliegen ist immer schon der Wunschtraum der Sterblichen, der Haltlosen. Warum also unternimmt er grenzgängerische Aktionen? "Es ist der Versuch, nicht umzukommen" (SZ, Nr. 101, 3./4. 5. 03, S. VIII). Den Tod herauszufordern stärkt den Widerstand gegen ihn; der Tod soll das Leben bestätigen. In ORF 2 wurde Messner 1986 gefragt: "Aber warum begeben Sie sich eigentlich immer freiwillig in Situationen, wo Sie ganz bewusst den Tod in Kauf nehmen?" Er hat auf diese verstörende Frage so geantwortet, wie zu erwarten war: "Ich will nicht sterben. Ich glaube sogar, dass die meisten Alpinisten mehr oder gleichviel am Leben hängen wie alle anderen Leute auch" (Peskoller, 25/26). Nicht, dass Messner gesteht, am Leben (wie am dünnen Seil) zu hängen, ist ungewöhnlich. Auffallend ist, dass er (wie die meisten) die Intensität der Bergerfahrung als Grund gegen den Tod betrachtet. Wir machen das Leben intensiver, um den Tod zu besiegen. Wieso gesteht Messner nicht die Grundlosigkeit, den Abgrund seines Grundes und seines Selbst?

Souveränität verdankt sich nicht dem Überblick von oben, dem alles beherrschenden Blick. Im Gegenteil, in der Nutzlosigkeit des Bergsteigens verausgaben wir uns ohne Grund und ohne Sinn (mit G. Bataille). In welche Fremde zieht uns diese Leidenschaft? Nicht in die wir selbstbewusst und selbstbestimmend ziehen. Im Gegenteil, es drängt uns dahin, wo Selbstbestimmung sabotiert wird. "Von-sich-loskommen-können" beinhaltet "eine zwiespältige Selbstsabotage" (G. Gamm, Nicht nichts, 100). Sie intensiviert das Leben, bringt aber auch den Schrecken vor dem Unverhofften, dem Verschlossenen. "Der Umgang mit dem ‘Widerständigen’ lehrt Sorgfalt und Geduld; jedes Ausweichmanöver ist ein Schwindel" (Peskoller, a.a.O., 164). Vor allem im Berg, am Berg. Hier wird deutlich: Erkennen heißt sich orientieren. Die Erkenntnis "lebt vom Ereignis des Einfalls und beinhaltet Momente des Zufälligen" (a.a.O.). Nicht, dass Fußsteige und Routen willkürlich wären (der Vorwurf der Willkür kommt immer von Außenstehenden). Fußsteigen und Routen nachzugehen muss geplant sein. Bergsteigen ist auch Erinnerungsarbeit. Aber die diskursive Ordnung verlangt zugleich ein Eingehen auf das, was sich im Gehen und Steigen, im Sehen und Wahrnehmen ergibt, was gegebenenfalls von anderswoher zustößt. "Mit dem Trittwechsel verschiebt sich das Gelände" (a.a.O., 274). Demut, von der H. Peskoller sprach, schützt die verschlossenen Dinge davor, übergangen zu werden (im wörtlichen Sinn). Dezentralisierung des Subjekts ist auch eine Erfahrung des Bergsteigens. Langsame Gedankengänge werden in den Körper eingeschrieben. Die Anstrengung des Bergsteigens bringt eine extreme Verlangsamung mit sich (a.a.O., 214), für Körper und Geist. "Die Leidenschaft der Kletterer ist der Obsession der Geschwindigkeit entgegengesetzt", "der eigene Leib (schreibt) die Sicht auf die Welt vor" (a.a.O.). In der Wand ist immer auch der Wand gegenüber. Ihre abgründige Undurchdringlichkeit verkörpert sich in der verlangsamten Bewegung des Subjekts, das Zeit gewinnt, Körperzeit, die das Subjekt mit der Wand teilt. Sie bindet Körper und Geist an die Materie.

"Höhe fördert Fremdheit. Sie verschließt sich dem Verstehen" (a.a.O., 215). Es gibt keine Zeit, nach Sinn zu fragen. "Im alpinen Aufstieg (mehr noch Abstieg, D.Z.) steckt ein viel umfassenderes Thema: der Umgang des Menschen mit dem Fremden und mit sich selbst" (a.a.O., 217).

Es gibt keinen Überblick, mögen wir auch noch so hoch hinausstreben. Universelle Reflexivität untergräbt das Vertrauen in die fremde Welt. Wir ziehen in die Fremde. Die Dinge werden fremd, die Bilder vergehen. Bildverlust ist auch eine Chance. Er eröffnet eine andere Bildung.

 

Die Leere der Symbole

Ich werfe noch mal einen Blick zurück. Wo stehe ich auf meinem Gedankengang?

Bergsteigen eröffnet ein kleines Kapitel Religionspädagogik: Es beschreibt Episoden des Gehens und des Kletterns, vorwiegend aus den Reisezeiten des Sommers, Episoden, die zu elementaren Erfahrungen werden. Sie verweisen auf die grundlegende Dialektik von Abstraktion und Haftung, von Reflexion und Leidenschaft. Die Anstrengung des Körpers, die Auseinandersetzung mit dem Berg, dem Fels, dem Stein wird zum spirituellen Weg. Diese Metamorphose ist von anthropologischer Grundsätzlichkeit, von religiöser Relevanz. Aber es darf nicht vergessen werden: auch die Leidenschaft des Spirituellen ist "Leiden zwischen Größe und Elend" (a.a.O., 222). So sehr sich Religion auch auf die Höhe über der Welt orientiert, sie bleibt ans Abgründige der Welt gebunden. Diese weltlich- menschliche Symbolik ist prinzipiell. Selbst wenn (mit Tillich) von der göttlichen Tiefe gesprochen würde, sie entspräche nichts anderem als den Bedürfnissen, an ihr teilzuhaben. Die Symboldidaktik des Bergsteigens deckt die Täuschungen auf, die in der Höhe erlebt werden. Sie muss ihre Selbstsicherheit aufgeben. Sie kann nicht die Wahrheit des Berges, der Höhe entschlüsseln, nicht das aufdecken, was die Zeichen und Bilder repräsentieren. Es bleibt die Aufgabe, sich angesichts der Gegebenheiten, der Uneindeutigkeiten des Berges und des Grundes durchzufinden.

Symboldidaktik befasst sich (im sinnlichen Sinn des Wortes) nicht mit den Dingen, mit dem Sein, mit der Welt, sondern mit der Welt der Zeichen, mit menschlichen Konstrukten und Bildern, die nicht repräsentieren können, was sie bezeichnen. Die Bezugspunkte der Zeichen bleiben nebulös, fremd, weil es keine Präsenz gibt. Was da ist (das Da-Sein), ist ein Reales, das wir nicht bezeichnen können, fremdes, dekonstruktives Moment der Zeichen. Aber von dem die Zeichen schweigen müssen, sind wir unbewusst bestimmt. Wir kommen nicht auf dem Berg an, auf den wir unsere Bedürfnisse und Erwartungen projizieren. Darum beinhaltet die Praxis der Zeichen wie alles Menschliche auch eine "Logik des Verfehlens oder Scheiterns" (G. Gamm, Nicht nichts, 110), des Verstellens und der Selbstverfangenheit. Teilhabe an der Tiefe des Seins ist nicht erhebend, sondern abgründig. Der abgründige Grund der Zeichendidaktik ist die Begrenztheit und Beschränktheit des Endlichen. Das ist die Fremde, die keiner liebt. Symbole verstellen sie symptomatisch. "Wir gehen immer zu weit, damit wir nicht zu kurz kommen", hat Thomas Bernhard gesagt (Gamm, a.a.O., 111). Der Wirklichkeitsverlust korrespondiert mit der Euphorie des Sprechen, mit dem Goldglanz der Bilder, mit der Erhabenheit der Symbole.

In den Symbolen des Himmels spiegelt sich der Abgrund der Erde. "Denk nicht immer Himmelsvergleiche bei der Schönheit – sondern sieh die Erde" (Handke, Sainte-Victoire, 71). Nicht sich selbst zu finden, ist das Grundproblem menschlicher Existenz, sondern von sich selbst loszukommen.

Es ist die existentielle Symbolik, dass jede Sehnsucht auf Enden und Vergehen verweist. Der Lehre unserer Zeichen, in denen wir die Welt erleben, der Zeichendidaktik mit Bernhard Dressler, mit Michael Meyer-Blanck, ist der Abstieg zum Grund, zum Menschen, zur Welt eingeschrieben. Das ist ein Weg in die Grundlosigkeit, die alle Sinnkonstrukte subvertiert, unterläuft. Zeichendidaktik und Symboldidaktik beinhalten ein "Schweigen über den Abgrund" (Derrida, Politik der Freundschaft, 85), über ihren unsicheren Grund. Aber sie können das wissen. Insofern ist Zeichendidaktik die einzig akzeptable Form der Symboldidaktik.

Ohne Zweifel "reichert sich die Bedeutung des Zeichens im Zuge seiner Interpretation an. Die Bedeutung des Symbols ‘wächst im Gebrauch und mit der Erfahrung’" (M. Vetter zitiert hier Charles S. Peirce, vgl. EvTheol 62/2002, 460). Doch diese Erfahrung verweist symptomatisch auf das, was Menschen entbehren, nämlich Dauer und Präsenz. Wer könnte den fremden Stein kennen, den fremden Berg außerhalb unserer Sprache und Zeichen? Die Wahrheit des Steins ist unzugänglich in ihm selbst verschlossen. Aber was dann? Gibt es kein eindeutiges Bezugsobjekt unserer Zeichen? Peirce hat vom "dynamischen Objekt" gesprochen, das mit M. Vetter "im Zuge gemeinschaftlicher Interpretation zunehmend bestimmbarer wird" (Vetter, a.a.O., 449). Aber die Vergewisserung durch Konvention bleibt uneindeutig, bezweifelbar. Gemeinschaft fungiert gerade als Versicherung gegen den Abgrund. Was aber, wenn die Seilschaft nicht halten kann, was sie verspricht?

Das Bedürfnis nach Eindeutigkeit des Bezugs zwischen Zeichen und Objekt, Signifikant und Signifikat ist nicht harmlos. "Wenn wir noch immer", so Jean Baudrillard, "dem Traum von einer Welt eindeutiger Zeichen, einer ‘starken symbolischen Ordnung’ nachhängen, sollten wir uns keine Illusionen machen: Es hat diese Ordnung gegeben, und zwar in einer unbarmherzigen Hierarchie, denn die Klarheit und die Grausamkeit der Zeichen gehören zusammen" (Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982, 80, vgl. Gamm, a.a.O., 109).

Entgegen allem Aufklärungsoptimismus kann es Selbstvergewisserung nur durch Selbstpreisgabe geben (P. Bürger, 152). Keiner kann sich den Berg aneignen, weder sprachlich noch sinnlich. Der Berg ist kein mathematisches Infinitesimalobjekt. "Pragmatische" Annäherung ans unendlich Ferne ist immer noch Abstraktion oder die katholische Version natürlicher Theologie.

Die Macht der Symbole (H.-M. Gutmann, Symbole zwischen Macht und Spiel, 1996) ist auch die Macht, die in jeder Verführung liegt, im Versprechen von Halt, Lebendigkeit und Gemeinsamkeit. In solchen metaphysischen Versprechungen verspricht sich das Subjekt, denn es redet, wie gesagt, von seinen Bedürfnissen und Enttäuschungen.

Wird dadurch nicht alles willkürlich? Die Frage ist die der Emmausjünger, die erst nachher wissen. In der Leere jeder Lehre ereignet sich ein Unplanbares, ein nicht zu Erwartendes, ein Nichts, das nicht nichts ist. Die BergLehre der Sainte-Victoire hat Cezanne in Bildern, Handke im Erzählen formuliert. Beide Poesien enthalten, was nicht festzustellen, nicht zu identifizieren ist, wunderbare Leeren, in denen sich ereignet, was befremdet, was packt, vielleicht durcheinander bringen oder sogar aus der Bahn werfen kann. In die Leere dieser Poesie kann man abstürzen. Es kommt in Wörtern und Zeichen etwas zu Gehör, ein unhörbares Unerhörtes, störend undefinierbar, ein immer Kommendes (messianisch mit Derrida gesagt). Am Ende werden wir gewusst haben (das ist melancholisches Futurum II), was wir mit unseren Wörtern gesagt haben. Einstweilen ist jedes Signifikat (Bezeichnete) wiederum ein (symbolischer) Verweis. Der Berg bin ich, der Berg ist meine Höhle, mein Freund, mein Tod. Berg ist ein Berg ist ein Berg.

Wer den Berg beschreiben will, tut das, weil er den Berg besteigen, bewältigen und sich orientieren will. Das ist notwendig. Aber er muss wissen, dass er zugleich abstrahiert, d.h. den Berg und sich selbst verfehlt. Besteigen, Parameter der Abstraktion, ist die prototypische Version von Ermächtigung und Entmächtigung, von Lehre und Leere. Wir können nicht so tun, als gründe Religionspädagogik in einem didaktischen Konzept der Selbstermächtigung und Selbstkonstruktion.

Aber Erniedrigung, Entleerung, Kenosis könnten zum Weg werden, in der Leere unserer Lehren, in der Selbstpreisgabe und Verausgabung eine Hoffnungsperspektive zu sehen. Das wäre ein Aspekt kenotischer Christologie.

 

Der Berg, mein liebster Feind

Kann, wer die Berge liebt, realisieren, dass der Berg sein Feind ist? Feind ist ein Name, ein Wort, ein Zeichen, ein bedrohliches. Was wir Freund nennen, definiert zugleich den Feind. Natürlich gibt es dabei feine Unterschiede: Die einen reden noch von Freundschaft, wo die anderen schon Feindschaft sehen. Dennoch, Ordnung regelt das soziale Leben. Die Norm macht alles klar: Freundschaft ist nicht Feindschaft, Feindschaft nicht Freundschaft, Liebe nicht Hass. Stimmt das denn: Freundschaft ist nicht Feindschaft? In allen Zeichen setzen sich unsere Normen durch, setzen wir uns durch. Der Grund der Freundschaft ist nicht Freundschaft, sondern unsere Erfahrung, die Ordnung und Norm unserer Zeichen. Aber dieser Grund ist fragwürdig, abgründig. Er enthält ein Feindliches, ein Reales, das wir verfehlen. Freundschaft, Brüderlichkeit ist unserem Bedürfnis gemäß: "In Wahrheit aber ist Bruder ein schöner Name, voller Innigkeit, und deshalb gründeten wir, er und ich, unseren Bund darauf" (Montaigne, bei Derrida, a.a.O., 389). Diese Ironie weiß, dass Gemeinschaft (also jemanden Bruder nennen zu können) auf das Bedürfnis verweist, nicht einsam, ausgeschlossen und in sich selbst verschlossen zu sein. Das Ja zur Gemeinsamkeit ist das Nein zur Einsamkeit. Bruder ist unser (familiäres) Bild des Bruders. Darum fängt die Achtung des Fremden erst "jenseits des Brüderlichkeitsprinzips" (Derrida, a.a.O.) an, jenseits der Sehnsüchte und Bedürfnisse.

"Ich und Mich", denkt der Einsiedler (so Nietzsche), "sind immer zu eifrig im Gespräche: wie wäre es auszuhalten, wenn es nicht einen Freund gäbe?" (Derrida, a.a.O., 369). Mit einer Reminiszenz ans Bergsteigen interpretiert Derrida: Es zieht den Einsiedler "zu sehr in den Abgrund, in die Tiefe, er sehnt sich nach einem Freund, um Höhe zu gewinnen. [...] was verrät sich in der Sehnsucht nach einem Freund? Wir wollen an den anderen glauben, weil wir verzweifelt an uns selbst glauben wollen" (a.a.O., 376). Aber vom Freund hat der Einsame nichts, weil Freund die Projektion seiner Bedürfnisse ist. Wir müssen "uns einen Feind machen" (a.a.O.). Das Feindliche im Zeichen, im Namen fordert heraus. Ohne feindliche Welt würden wir in uns selbst verfangen bleiben. Ohne feindliche Welt gäbe es keine Kreativität. Was hätten wir von all dem, was unseren Bedürfnissen entgegenkommt? Das macht weder Kreativität frei noch die Hoffnung auf ein Anderes, das kommt. "Wenn einer zu seinem Feind spricht, genauer: den anderen bittet, er möge sein Feind sein, so liegt darin mehr Freundschaft, und eine sehnsuchtsvollere, als in der Rede dessen, der, ohne sich an ihn zu richten, vom Freunde spricht. [...] Will man einen Freund haben, ... muss man Feind sein können, muss man zum ‘besten Feind’ fähig sein" (a.a.O.), sonst ist der Andere nur Objekt meiner Bedürfnisse. Der Berg, mein Feind, Feind meines Bedürfnisses nach Höhe, nach Abstraktion, nach Selbsterforschung und Selbsterprobung. Wir eignen uns den Berg an. Oft genug führt gerade diese gefährliche Einverleibung (wir kommen über den Berg) zum Absturz (er kommt über uns). Über den Berg reden ist eine Weise, ihn zu ignorieren. Könnte er sich doch anreden lassen.

Der Weg zum fernen Fremden ist ein beschwerlicher Weg, der in die Höhe nach unten geht. In die Fremde gehen, wer könnte das forsch und sicher? Theologisch geht es immer in die Fremde, in die absolute, die keiner kennt. Das ist die religionspädagogische Devise, eine entschiedene.

Die Poesie des Bergsteigens ist eine Art religionspädagogischer Theologie. Sie entwickelt eine eigene Ästhetik, die Genuss daran hat, sich ins Fremde zu verlieren, in das, was wir am Gesehenen nie gesehen haben, am Gespürten nie gespürt, am Gerochenen nie gerochen haben. Das sind nicht die wunderbaren Bilder, die schönen Berührungen, die Höhenerlebnisse der Fremde. Im Gegenteil, es hat immer mit Enden und Verenden zu tun. Diese Jouissance, wie Lacan sagt, ist Mehr-Genuss, ist Lust an der Freude, weil sie noch das genießt, was von Vergehen, Hinfälligkeit und Abstieg gezeichnet ist. Das ist kein masochistischer Zynismus, keine Ästhetik des Verfalls, keine Poesie des schönen Scheins, sondern eine Poesie, die weder verdrängen muss, noch sich entmutigen lässt. "Poesie, das poetische Genießen, erscheint, wenn die symbolische Artikulation dieses Verlustes eine eigene Lust hervorbringt" (Zizek 1997, 11). Mehr-Genuss heißt im Verlieren gewinnen. Dieser Genuss des Genusses ist Vorschein von Ostern, eine unerhörte Lust im Schmerz. Unverfügbar ist das Unerhörte, Ostern ein Wort, eine unmögliche Hoffnung. Eine kleine Tröstung. Sie zieht uns in die Fremde. Unterwegs kommt uns unmerklich "etwas" (jenseits von Gut und Böse) in die Quere, vielleicht ein Segen, auch wenn wir ihn Schmerz nennen.

Aufsteigen, um nicht anzukommen, ist ein ironischer Gestus. Wie wird die Sehnsucht des Bergsteigens mit dieser Ausweglosigkeit fertig? Wie die Zeichendidaktik mit den befremdlich-fremden Verweisungen? Religionspädagogische Didaktik bedarf der theologischen Orientierung, die anhält, den namenlosen Fremden zu achten, obwohl wir ihn mit vertraulichen Namen anrufen. Religionsunterricht übt das Profane – in der Hoffnung, ein Anderes, ein Vielversprechendes könnte sich ereignen, jedenfalls sich zeigen. Humanität muss von Menschen benannt, bezeichnet werden. Aber der namenlose Fremde ist ihr Grund.

 

Literatur

  • Derrida, Jacques: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2002 (stw 1608).
  • Peskoller, Helga: BergDenken. Eine Kulturgeschichte der Höhe, 2 Studien, Wien 1997.
  • Gutmann, Hans-Martin: Symbole zwischen Macht und Spiel. Religionspädagogische und liturgische Untersuchungen zum "Opfer", Göttingen 1996.
  • Heinrichs, Hans Jürgen: Landkarten des Ethnopoetischen, in: Paolo Bianchi, Hg., Ästhetik des Reisens. Kunstforum international, Bd. 136, Ruppichteroth 1997, 214-223.
  • Pessoa, Fernando: Das Buch der Unruhe. Sonderausgabe, Frankfurt a.M. 1992 (Fischer Taschenbuch 11212).
  • Schmidt, Burghart: Reisen bis ans Ende des Ankommens. Utopie als Reisegebot oder die Frage nach dem Reisemotiv von der Philosophie aus, in: Bianchi 1997, 240-251.
  • Handke, Peter: Die Lehre der Sainte-Victoire, Frankfurt a.M. 1980.
  • Gamm, Gerhard: Nicht nichts. Studien zu einer Sermantik des Unbestimmten, Frankfurt a.M. 2000 (stw 1457).
  • Vetter, Martin: Verständigung über Zeichen. Charles S. Peirce und die Praktische Theologie, in: EvTheol 62(2002)446-463.
  • Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982.
  • Bürger, Peter: Ursprung des postmodernen Denkens, Weilerswist 2000.
  • Zizek, Slavoj: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, Wien 1997.
     

*Vortrag bei der Verabschiedung von Prof. Dr. Bernhard Dressler in Loccum

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2004

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