Wo Offenbarung fehlt, verdirbt das Volk

von Geiko Müller-Fahrenholz

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren!1

1. Kennen Sie "Matrix"?

"Matrix" ist der 1. Teil einer Trilogie, in der es wieder einmal - um die Errettung der Welt geht. Im Mittelpunkt stehen die Versuchungen und Kämpfe, die ein junger Mann durchstehen muss, um der "Neue", der "Erwählte" zu werden. Das Ganze spielt in einer fernen Zukunft, in der die Welt von einem universellen Computerprogramm, eben "Matrix", beherrscht wird. Wobei sie gar nicht bemerkt, dass sie beherrscht wird. Nur eine kleine Gruppe von wirklichen Menschen überlebt in einer geheimen Stadt, sinnigerweise "Zion" genannt. Für die entscheidende Auseinadersetzung mit "Matrix" suchen zwei gott-artige Wesen, ein Mann, eine Vatergestalt "Morpheus", und eine jugendliche Frau, die "Trinity" heißt, nach dem "Dritten im Bunde", dem "Neuen", dem jugendlichen Erretter. Nachdem sie ihn gefunden haben, führen sie ihn durch schwere Kämpfe und Erprobungen, die zugleich auch Kämpfe um die Frage sind, ob er dieser messianischen Sendung gewachsen ist. Gegen Ende des Filmes wird er von seinen Gegnern, den Herren der Matrix, getötet, aber durch den Kuss der "Trinität" auferweckt. Nach dieser Auferstehung ist er allmächtig. Die Kugeln, die auf ihn abgefeuert werden, wehrt er mit einer hoheitlichen Handbewegung ab. Sie beginnen, ihn zu umtanzen. Die letzte Szene zeigt, wie er, umgeben von einer Menschenmenge, also Matrix-homunculi, in den Himmel auffährt.

Ich wette mit Ihnen, dass Ihre Schülerinnen und Schüler "Matrix" gesehen haben. Und ich möchte auch wetten, dass die meisten von ihnen die religiöse Botschaft dieses Streifens nicht durchschaut haben. Es wird ihnen entgangen sein, dass die "Rettung" der Welt von einer Trinität kommt, wobei "Trinity" die weibliche Figur in dieser Dreifaltigkeit ist und damit an die "Ruach", im Hebräischen das Wort für Gottes "Geist", darstellt, also die Macht des Lebens und der Liebe. Aber Ihre Schülerinnen und Schüler werden mit allen Sinnen darauf gestoßen, dass die Welt von morgen von menschenverachtenden, anonymen und scheinbar allmächtigen Instanzen manipuliert wird, eine düstere Welt amorpher Stadtlandschaften, in der es keine Wälder und offene Ebenen, keine Blumen und Vögel gibt. Und sie werden mit allen Sinnen darauf gestoßen, dass diese Welt erlösungsbedürftig ist und dass diese Erlösung nur von einem Messias kommen kann, der diese finsteren und bedenkenlos gewalttätigen Mächte mit noch größerer Gewalt und noch mehr komputer-schnellem Scharfsinn zu überwinden vermag. Der Erlöser, der in unseren Kinos verkündigt und (an)gepriesen wird, muss unverwundbar, unangreifbar, unverwüstlich, unsterblich sein.

"Matrix" ist nur ein Beispiel. Es gibt andere Filme, in denen das Leitbild des unverwundbaren Helden gefeiert wird. Sie alle kommen aus der Garküche mythischer Figuren und Gestalten, und in vielen von ihnen scheint ein sagenhafter Held, der Siegfried der Nibelungen, seine Auferstehung zu feiern. Aber es ist ein Siegfried, dem auch noch dieser Rest von Verwundbarkeit fehlt, der den Siegfried zu einem Menschen macht, nämlich das Lindenblatt.

 

2. Von der Macht der Bilder

Nun weiß ich wohl, dass Ihre Schülerinnen und Schüler meinen Horror über diesen Film, in dem ein gewaltförmiger Messianismus oder eine messianische Gewaltlust verherrlicht werden, für ein bedauerliches Zeichen zunehmender Altersbesorgnis halten dürften, ein typisches Indiz dafür, dass ich die Welt von heute nicht (mehr) verstehe. Das mag wohl sein.

Altersbedingter Kulturpessimismus hin oder her, dies ist mir klar: Auch die Menschen von heute führen ihr Leben nach den Bildern, die in ihnen liegen oder vor ihr inneres Auge gestellt werden. Der amerikanische Psychologe Robert Jay Lifton stellt kategorisch fest: "We live on images. Wir leben in und nach Bildern. Als Menschen erkennen wir unsere Körper und unsere Gedankenwelt nur durch das, was wir uns einbilden ( "to imagine") können. Um unsere Menschlichkeit erfassen zu können, müssen wir diese Bilder metaphorisch und modellhaft strukturieren. Schriftsteller, Künstler oder Visionäre haben dies immer gewusst.."2

Was wir uns einbilden oder vorstellen, also was wir uns vor Augen führen oder vorführen und vorstellen lassen, das trägt zur Strukturierung unserer Vorstellungen und zur Ausstattung der uns leitenden Bilder bei. Die Zukunft, die wir bekommen, ist die Zukunft, die wir uns vorstellen (lassen). Die in uns liegenden Bilder von Leben und Lebenssinn, von den Kräften, die unser Leben prägen, sind es, die unsere Präferenzen, Entscheidungen und Handlungsmuster leiten. Und je tiefer, gleichsam unbewusster sie in uns liegen, desto nachhaltiger prägen sie uns.

Menschen sind geschichtliche Wesen, auch dort, wo es gleichsam um "natürliche" Reaktionen und Instinkte geht. Sie als Pädagogen wissen genauer als ich, wie sehr archetypische und frühkindliche Prägungen unser Verhalten als Erwachsene beeinflussen. Wer als Kind nur einen prügelnden Vater erfahren hat und eine willfährige Mutter, wird die größten Schwierigkeiten haben, nicht seinerseits wieder eine willfährige Frau zu suchen und seine Kinder zu misshandeln. Erlittene Gewalt wird so zu einem tief verwurzelten Leitbild der Gewaltbereitschaft. Wer immer nur erlebt und vorgeführt bekommen hat, dass Konflikte mit Gewalt "gelöst", d.h. verschoben oder allenfalls ausgesetzt werden, wird seinerseits auf gewaltförmige Lösungen von Konflikten drängen. Nicht weil er es so will, sondern weil ihm einfach nichts anderes einfällt; denn ihm kann nur einfallen, was in ihm liegt.

Es sage mir also niemand, dass die gewalttätigen Bilder und Konfliktszenarios, wie sie Tag für Tag in Film und Fernsehen vorgestellt, wachgerufen und verstärkt werden, harmlos und folgenlos seien. Sie dringen n uns ein, sie lagern sich in uns ab und bilden so die "Matrix" der Vorstellungen und Entwürfe, nach denen wir unser Leben führen.

Die Bilder, die wir in uns tragen, haben ihre Geschichte und sie machen unsere Geschichte. Nicht ohne Grund ist der Begriff der "Bildung" vom "Bild" abgeleitet.

 

3. Im Konflikt der Bilder

"Wo Offenbarung fehlt, verdirbt das Volk", heißt es in der Weisheit Israels. "Offenbarung" oder "Vision", wie es im Englischen heißt, beleuchtet, dass es hier um "Zukunftsentwürfe" geht. Wenn ein Volk keine Vorstellung davon hat, wohin es sich entwickeln will, dann wird es richtungslos und verliert sich. Nur - wenn zutrifft, was ich soeben ausgeführt habe, nämlich dass es den Zustand gar nicht gibt, in denen wir ohne "Offenbarung" sind, dann kann es immer nur darum gehen, welche Arten von "Offenbarung" und Zukunftsentwurf in einem Volk Vorrang haben, gefördert und ausgebildet werden sollen und welche nicht3. Unsere Zeit ist durchaus nicht ohne "Offenbarung". Was heute fehlt, ist ein öffentlicher und engagierter Diskurs über die Frage: Welche "Offenbarungen" sollen uns leiten?

Ich spreche mit Bedacht von "Offenbarungen" im Prural. Nicht weil ich meinte, es gäbe für mich als Christen beliebig viele Offenbarungen, sondern weil ich als Bürger eines pluralistisch-demokratischen Gemeinwesens an dem Existenzrecht pluraler Lebens- und Sinnent

würfe interessiert bin. Wer nur einen Entwurf- und sei er noch so überzeugend! - zuzulassen bereit ist, der ist bereits in der Gefahr fundamentalistischer Vereinfachung, diktatorischer Willkür und totalitaristischen Machtmissbrauchs.

Es ist freilich die Frage, ob alle an unserer demokratischen Gesellschaft beteiligten Mächte auch an der Lebensfähigkeit einer echten Pluralität interessiert sind? Denn zu ihr gehört - jenseits aller sachlichen Meinungsverschiedenheiten - der Konsens über die Bedingungen und Grenzen, die eben diese Pluralität ermöglichen und auf Dauer begründen. Was in unserer Verfassung an Grundrechten und Leitvorstellungen niedergelegt ist und was in der kontinuierlichen Arbeit an den Menschenrechten und -pflichten erarbeitet wird, das sind Errungenschaften, die von möglichst vielen Mitgliedern demokratischer Gesellschaften aktiv gewünscht und gefördert werden müssen. Wir müssen darin übereinstimmen, dass wir unterschiedlicher Meinung sein dürfen. Und wir müssen darin übereinstimmen, dass wir die Bewahrung der Lebensbedingungen pluraler Gesellschaften die ständige Kritik der uns leitenden Vorbilder einschließt. Die fundamentale Frage muss sein: Da wir Menschen sind, müssen unsere pluralen Lebensformen menschlich sein, d.h. menschenfreundlich bleiben. Was aber macht Menschenfreundlichkeit aus? Unter welchen Bedingungen können Menschen Menschen werden, sein und bleiben?

Es ist vielleicht die tiefste Misere unserer Zeit, die durch eine ungeheure Beschleunigung von Globalisierungsprozessen gekennzeichnet ist, dass wir diese Frage nicht für alle Menschen in halbwegs gleicher Weise zu beantworten, geschweige denn zu gestalten in der Lage sind. Wie könnte es sonst geschehen, dass jedes Jahr Millionen Kinder an durchaus vermeidbaren Krankheiten zugrunde gehen? dass für eine "Befriedung" des Kosovo Milliarden ausgegeben werden, während eine ungleich größere Katastrophe im südlichen Sudan unbeachtet vor sich gehen darf? Obwohl wir Heutigen ein genaueres Bild von den Lebensbedingungen der Menschen auf diesem Globus besitzen als je zuvor, scheinen uns die Leitbilder für eine annähernd gerechte und menschenfreundliche Weltgesellschaft abhanden gekommen zu sein.

Mit anderen Worten: Das "wir", das ich verwende, hat verschiedene "Reichweiten". Zum einen ist es ein nationales, es ist das "Wir", dem unsere Verfassung gilt. Darüber hinaus aber haben wir auch an einem menschheitlichen "Wir" Anteil. Wirtschaft und Medien z.B. kümmern sich nicht um nationale Grenzen, sie beteiligen uns, zum mindesten ziehen sie uns in Mitleidenschaft. Daneben finden sich freilich noch andere "Wir", regionale, religiöse oder andere Aspekte, die unser Sein und Handeln bestimmen. Gibt es in all diesen "Wirs" Aspekte eines Menschenbildes, die sich durchhalten und auf all diesen Ebenen ihre orientierende Funktion ausüben können?

 

4. "Ecce Homo - Seht da, ein Mensch!"

Das Unterthema meines Vortrags spricht von biblisch-christlichen Visionen in der Mehrzahl. Ich will aber nur über eine sprechen, über eine, die in unserer Zeit m.E. so wichtig ist wie keine andere. Es gibt das große Leitbild vom Auszug der Kinder Israel aus Ägypten, dem Sklavenhaus. Es spielt in vielen Befreiungstheologen eine Schlüsselrolle. Aber was wird bei diesem Ansatz aus Ägypten? Es gibt das gloriose Hoffnungsbild vom neuen Jerusalem, das am Ende der Tage erscheinen soll. Es hat vielen geholfen, in unerträglichen Verhältnissen auszuharren, aber es hat auch zu enthusiastischen Fluchtbewegungen verleitet4. Es gibt das Hoffnungsbild vom gelobten Land. Es hat die Juden in der Zerstreuung und unter unermesslichen Bedrückungen erhalten und aufgerichtet. aber es dient auch zur Rechtfertigung menschenverachtender Unterdrückung, jetzt, da der Staat Israel das Land reklamiert, das auch den Palästinensern als Heimatland gilt. Die Vision vom gelobten Land, sie hat die Besiedlung Nordamerikas durch europäische Einwanderer beflügelt und die Beseitigung der "heidnischen" Indianer rechtfertigen helfen. Es gibt das Hoffnungsbild vom "schönen Paradies". Und wenn es vielen geholfen hat, in diesem "Jammertal" auszuharren, so hat es doch viele zur Verachtung dieser Güter und der Schönheit dieses irdischen Lebens verleitet.

Von all diesen biblischen Visionen will ich nicht sprechen. So schön sie sind, so verführerisch sind sie auch. Denn sie haben diejenigen, die sich als ihre Adressaten glaubten, fast immer zu grausiger Intoleranz und rücksichtsloser Härte gegenüber den "anderen", den "Ungläubigen", den "Heiden" verführt.

Lassen Sie mich daher ein Bild ins Auge fassen, das immer wieder ärgerlich und anstößig ist, nämlich das Bild und die Geschichte des Gekreuzigten. Es gibt in der Christenheit kein Bild, kein Symbol, kein Zeichen, das größer und gewichtiger sein könnte als dieses, das Kreuz. Hier wird ein Mensch offenbar, der mit Gott im Bunde war wie niemand vor ihm. Der diesen Gott "Abba", "Papa" nennt, der ihn also auf zärtlichste und intimste Weise anruft und sich trotzdem von ihm total verlassen fühlt. Es ist der Mensch, der in der Kraft dieses "Abba" ein Bruder der Ausgestoßenen, ein Freund der Verfemten, ein Inbegriff der Menschenfreundlichkeit ist und offenbar gerade deshalb am Kreuz hängt, entblößt und bloßgestellt. "Ecce homo", heißt es bei Pontius Pilatus mit ungläubiger Verwunderung: Seht, diesen Menschen! Ist dies der Mensch, wie er sein soll? Oder ist dies die Parodie eines Menschen? "Wahrhaftig!", heißt es bei dem Hauptmann des römischen Exekutionskommandos, "dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!" Wie kann es sein, dass jemand in diesem entblößten und wehrlosen Menschen am Kreuz, in diesem Schmerzensmann, den Sohn Gottes erkennt?

Was immer wieder Schrecken und Abscheu, Verwunderung und Glückseligkeit auslöst, ist dies: Hier bleibt ein Mensch seiner Menschenfreundlichkeit treu, gerade in diesem entsetzlichen Tod. Er schwenkt nicht auf Rache um, als es eng um ihn wird. Er ruft keine Legionen von Engel zu Hilfe, als die politischen Mächte seiner Zeit sich verbinden, um ihn auszuschalten. Er lässt nicht andere über die Klinge springen, um die eigenen Haut zu retten, wie es die Mächtigen immer wieder tun. Er lässt sich ans Kreuz drängen.

Es gibt ein Passionslied aus Südafrika, das eigentlich nur eine einzige Frage kennt: "Zinzenina?" Sie wird in einer vielstimmigen Klage immer wieder variiert: "Zinzenina?" Was haben wir getan? Was hat sich da abgespielt? Was bedeutet das für uns, für uns Menschen, dass dieser Eine, dieser Gerechte, am Kreuz verendet?

Es ist die ans Absurde grenzende Zumutung dieses Ereignisses, das die Gemeinden der Jesus-Leute veranlasst hat, in den unterschiedlichsten Überlieferungen und mythischen Bildern nach Entsprechungen zu suchen. So ist denn auch zu verstehen, dass man bald begonnen hat, das Geschick des Gekreuzigten in den Kontext der Traditionen Israels zu stellen und in ihrem Licht zu interpretieren. Und es sind nicht ohne Grund gerade die fremdartigen Worte aus dem Jesajabuch über den "leidenden Gottesknecht", die sich der christlichen Deutung des Kreuzes aufdrängten. Ich zitiere nur wenige Sätze: "Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen... Er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, damit wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind geheilt..." (Jes. 53, 4ff)

Hier wird die Provokation des Kreuzes mehr umschrieben als verstanden. "Wir sahen ihn", heißt es kurz vorher, "aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte". Denn die geläufigen Bilder von den "Lieblingen der Götter" kreisen um die jugendlich-schönen, heldenhaft-unverwundlichen Gestalten; sie spiegeln die Bilder wider, die wir gerne von Gott entwickeln: Gott und Allmacht, Gott und Hoheit, Gott und Unnahbarkeit, das gehört zusammen. Aber wenn dieser Gekreuzigte der Sohn Gottes, also der Liebling Gottes par excellence, sein soll, was für eine Umwälzung im Gottesbegriff wird uns dann zugemutet? Dann ist Gott bei den Leidenden und nicht bei den Erfolgreichen, dann ist Gottes Hoheit in der Schande des Kreuzes verborgen.

Entgegen dieser offensichtlich unausrottbaren Neigung, unsere Erwartungen von Größe, Macht und Erfolg auf Gott zu projizieren und von dort her legitimieren zu lassen, bedeutet das Kreuz das singuläre Gegenbild. "Nur der leidende Gott kann helfen", stellt Bonhoeffer 1944 in der Gefängniszelle fest.

Um es mit dem Titel eines Buches von Henry Nouwen5 zu sagen: Was im Kreuz offenbar wird, ist der "wounded healer", der verwundete Heiler. Im Zentrum des christlichen Glaubens steht der Leidende, der Geschmähte. Ihre Schülerinnen und Schüler würden sagen: Das ist der typische "loser".

 

5. Das Vermächtnis des Losers

Es wäre eine Verkennung der Kirchengeschichte, wenn ich sagen wollte, die Christenheit hätte das umstürzlerische Vermächtnis dieses "Losers" authentisch zu bewahren und glaubwürdig nachzuleben gewusst. Schon sehr bald regte sich die Tendenz, die Schmach des Kreuzes in dem Triumph des Auferstandenen zu verhüllen, aus dem Tiefstpunkt des Kreuzes eine Durchgangsstation auf dem Weg zu Ostern zu machen, den "loser" am Kreuz in den ultimativen "Gewinner" zu verwandeln. Damit wurde aus der angefochtenen und verfolgten Nachfolge-Bewegung des Gekreuzigten die triumphierende Kirche des Pantokrators, die dann auch nicht zögerte, Ungläubige zwangszutaufen und "Häretiker" auszustoßen. So wurde das Menschen- und Gottesbild des Gekreuzigten in das Menschen- und Gottesbild des Allmächtigen hineinverwandelt und in seiner radikalen Gegenläufigkeit entschärft. Das ist die immer wieder auftauchende, die schwerwiegendste Entstellung der Botschaft vom Kreuz. Darum ist es angebracht, an den Heilsruf zu erinnern, der bei den ersten Christen geläufig war: Salve crux, spes unica. Heil dir, Kreuz, einzige Hoffnung. Warum war für sie das Kreuz die einzige Hoffnung und nicht der Ostermorgen? Weil sie ahnten, dass in dem Kreuz die radikale Alternative offenbar geworden ist. Denn wenn wir nicht mehr auf das Kreuz - und alles, was es impliziert - hoffen können, dann steht es um die Zukunft der Menschen schlecht.

Deshalb habe ich mit "Matrix" begonnen. Ich sehe in dem Messianismus der Gewalt, der dort verherrlicht wird, das Schreckensbild einer inhuman gewordenen Menschheit, und ich sehe in dem Gekreuzigten den Messianismus der Verwundbarkeit und darin die Zukunft der Humanität.

Lassen Sie es mich so sagen: Der Siegfried, noch dazu ohne Lindenblatt, ist eine Illusion, welche die allergrößten Opfer erfordert, gerade weil sie in dem unerbittlichen Alltag unserer Endlichkeit nicht zu bestehen vermag. Einmal ist auch der jugendliche Strahlemann und Superheld ein alter Mann mit schütterem Haar und dritten Zähnen. Das ist ja gerade das Wesen der Illusion, dass sie ihre scheinbare Lebendigkeit aus den Opfern bezieht, die ihr entgegengebracht werden. Gerade weil der Wunsch nach Unverwundbarkeit und der Traum von der ewigen Jugend wie Schall und Rauch vergehen müssen, wird, wer ihnen nachjagt, gezwungen sein, einen entscheidenden Teil seiner Existenz, nämlich seine Kraft, zum Opfer zu bringen und einen anderen entscheidenden Teil, nämlich den zerbrechlichen und gebrechlichen, zu verdrängen. Wer dagegen die Verwundbarkeit in sein Bild von sich selbst und vom Menschen hineinnehmen kann, der hat die Chance, sein Leben mit einem größeren Wirklichkeitssinn zu führen. Der muss seine Sterblichkeit nicht immerfort leugnen.

Das ist keineswegs leicht, aber es ist doch so, dass der bewusste Umgang mit unserer Endlichkeit , mit dem Sterben mitten im Leben, eine tiefere Empathie mit anderem Leben, das auch leben will und auch sterben muss, begründet. So entsteht im Umgang mit eigenem Leid die Empfänglichkeit für anderes Leid, aus der Einsicht in die eigene Unvollkommenheit erwächst ein entkrampfteres Verständnis für die Fehler und Schwächen der anderen Menschen. Wer zu bedenken lernt, dass er sterben muss, wird lebensklug.

Täusche ich mich, wenn ich behaupte, dass wir in einer Zeit leben, die noch unerbittlicher als frühere Epochen auf die Verherrlichung des Gewinners und die Verachtung des Losers ausgerichtet ist? Geht der Kult der Jugendlichkeit nicht mit einer Verunglimpfung des Alters Hand in Hand? Erfordert die Jagd nach Erfolg nicht die hemmungloseste Opferbereitschaft? Und schafft der Kampf um die Spitze nicht die Gewalttätigkeit massiver Verdrängung? Wie viele bleiben auf der Strecke, damit einer "Number One" werden kann?

"The winner takes it all", heißt es, und wer verliert, hat selber schuld.

Wenn aber der Gewinner das Leitbild ist, wie werden Menschen damit fertig, dass sie Loser sind? Wer kann denn damit leben, dass er ein loser ist? Wird er dann nicht versuchen, Schwächere zu finden, gegenüber denen er sich als "winner" aufspielen kann? Wer im Betrieb ein "loser" ist, kann zuhause gegenüber Frau und Kind als der große Boss auftrumpfen. Wer sich gesellschaftlich ausgegrenzt und "ausgemustert" fühlt, kann immer noch Außenseiter finden, Schwule oder Ausländer zum Beispiel, auf die er seinen ganzen amorphen Selbsthaß richten kann. Was ich das "Gewinner-Verlierer-Syndrom" nenne, ist zu einem gesellschaftlichen "Spiel" geworden, das immer größere Kreise zieht. Am Ende steht eine gnadenlose Gesellschaft.

Salve crux, spes unica. Wenn wir in einer solchen Gesellschaft das Bild des Gekreuzigten aufzurichten versuchen, treten wir für mehr Wirklichkeitssinn und weniger Illusionen ein. Wir wehren uns dagegen, dass das Gewinnen und Verlieren, das in jedem Leben vorkommt, als ein ontologisches ( das Sein bestimmendes) Urteil missbraucht wird. Wir treten dafür ein, dass Verletzlichkeit und Verwundbarkeit, Gebrechlichkeit und Sterben zum Wesen des Menschen gehören. Darum treten wir auch dafür ein, dass Empathie und Einsicht, Empfänglichkeit und Rücksichtnahme, Geduld und Humor Raum gewinnen. In der Betrachtung des Kreuzes ergibt sich ein Menschenbild, das mit der eigenen Verwundbarkeit umzugehen lernt und darum auch den Nächsten in seiner Verwundbarkeit ernst- und anzunehmen bereit ist.

 

6. Leben in einer verwundbaren Welt

Ich habe bisher eher persönlich argumentiert. Es ist darum nötig, einen anderen Zugang zu nennen. Ich möchte ihn den kosmischen nennen.

Es gehört zu den tiefsten, wenn auch weithin noch unverstandenen Umwälzungen unserer Epoche, dass wir unsere Erde von außen betrachten können. Die Fotografien, die aus dem Weltraum aufgenommen worden sind, zeigen uns diese Erde als den "blauen Planeten", von einer relativ dünnen Luftschicht eingehüllt, allein und wie verloren in den eisigen und unermesslichen Unendlichkeiten des Universums. Kostbar wie ein Edelstein, verletzlich wie eine schimmernde Luftblase, auf eine Umlaufbahn um die Sonne gesetzt, die nicht einen Deut kleiner oder größer sein dürfte, prekär, gefährdet, und doch gehalten. die Astronauten, die unsere Erde umkreist haben und sie von außen zu Gesicht bekamen, sind mit einer geradezu ehrfürchtigen Zärtlichkeit für dieses gebrechliche Gebilde zurückgekehrt. Sie haben eine Art kosmischer Empathie entdeckt, wie sie vor ihnen nur bei mystischen Visionären wie zum Beisp0iel Teilhard de Chardin vorhanden gewesen war.

Unsere Erde ist keineswegs unendlich, keineswegs unverwüstlich. Was die Astronauten von außen wahrnehmen, bestätigt die ökologische Forschung. Sie verweist auf die delikaten Interdependenzen, die zwischen den Ökosystemen der Erde obwalten, sie beobachtet die Entsprechungsverhältnisse zwischen den Tropen und den Polarkappen, zwischen den Meeresströmungen und den klimatischen Verhältnissen auf den Kontinenten, um nur diese großräumigen Aspekte zu nennen. Und je mehr sie erforscht, desto größer wird ihr Erstaunen über alles, was wir noch nicht wissen, und um so tiefer wird das Erschrecken über die Spezies "homo sapiens", welche unter völligem Verzicht auf "sapientia" in diesem äußerst delikaten Gefüge herumwirtschaftet wie der buchstäbliche Elefant im Porzellanladen.

Die Bewahrung der Schöpfung ist ohne Achtung vor ihrer Gebrechlichkeit nicht zu haben. Das Wissen um die Verwundbarkeit unseres Kosmos wird mithin zu einem fundamentalen Aspekt ihrer Zukunft. Wer also Leben bewahren will, muss seine Verletzlichkeit achten.

Was ich vorhin das "Gewinner-Verlierer-Syndrom" genannt habe, kehrt hier als Paradigma der schrankenlosen Beherrschung der Erde und ihrer Güter wieder. Die instrumentale Vernunft sieht die Ressourcen der Erde lediglich unter dem Gesichtspunkt ihrer unmittelbaren Verwertbarkeit für bestimmte Interessen und beschädigt damit ihre langfristigen Funktionen im interdependenten Haushalt des Lebens. Es kommt also darauf an, das Kreuz als ein kosmisches Lebenszeichen zu verstehen. Wir werden lernen müssen, die einseitige und destruktive instrumentelle Vernunft mit einer empathischen Intelligenz sozusagen zu "ummanteln". Wirtschaft und Politik setzen noch viel zu einseitig auf das Modell der Beherrschung und Benutzung. Es gehört zu den epochalen Zumutungen unserer Epoche, dieses Paradigma durch das Grundmodell der Einwohnung zu ersetzen. Wenn wir Menschen es nicht lernen, bewusst, einfühlsam und besonnen zusammen mit den anderen Lebewesen in den unterschiedlichen Ökoregionen dieser Erde zu leben, dann wird die Welt, wie wir sie kennen, untergehen müssen. Wir müssen das Einwohnen und Bewohnen lernen.

Fragen Sie Ihre Schülerinnen und Schüler, wie viele von ihnen "Star Wars" kennen. Ich meine diese verräterischen Träume aus Hollywoods Illusionsfabriken, die von einem Leben auf anderen Planeten handeln, nachdem diese Erde unbewohnbar geworden ist, wüst und leer. Eine apokalyptische Ahnung liegt diesen Träumen zugrunde. Ein fatales kosmisches Gesetz treibt die "Jedi-Ritter" und "Super-Männer" zu immer gewalttätigeren Expeditionen. Das Gesetz von absoluter Beherrschung, Rache und Vergeltung, das diese Erde zerstört hat und dem sie auf ihren galaktischen Fluchten zu entkommen versuchen, holt sie immer wieder ein. Auch zwischen den Sternen gibt es nichts als Krieg.

Gegen diese Alpträume unendlicher Gewalt und gegen die destruktiven Phantasien unausgesetzter Annihilationen steht das Kreuz. "Liebet eure Feinde!", sagt es. Unterbrecht den fatalen Wiederholungszwang der Gewalt und erkennt: Eure Feinde sind nicht anders als ihr. "Tut Gutes denen, die euch hassen", sagt es. Also durchbrecht die Koalitionen derer, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen und andere bluten lassen. "Bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen", heißt es. Mit anderen Worten: Die Teufelskreise von Beleidigung, Kränkung und Vergeltung lassen sich nur überwinden, wenn ihr bereit seid, Böses mit gutem zu vergelten.

Es wird oft so getan, als sei diese Logik des Kreuzes eine unzumutbare Vision, ein irrealer Traum. Gleichwohl besteht, der am Kreuz gestorben ist, darauf, dass es gut sei, sein Kreuz aufzunehmen und von ihm, dem Gekreuzigten, zu lernen. "Ich bin sanftmütig", sagt er, "ich bin von Herzen demütig. Mein Kreuz ist sanft, und meine Last ist leicht."

Sanftmut und Demut haben weiß Gott einen schweren Stand. Sie gelten als Schwächlichkeit und Feigheit. Aber der Gekreuzigte spricht von Gestalten von Mut, denen die öffentliche Propaganda wenig zutraut und die doch das Gewebe des Lebens tragen. Sanftmut, das ist Lebenskraft, gepaart mit Zärtlichkeit. Demut, das ist Mut, der sich an die Erde bindet, also nicht der hochfliegende Ehrgeiz, sondern geerdete Energie.

Wenn der Menschheit auch in dem kommenden Jahrhundert nichts anderes einfällt als Krieg, als Verödung und Verwüstung, dann wird das Leben schwer. Ich habe die Armutsregionen der Erde gesehen, die Unmenschlichkeit der riesenhaften Elendsstädte, die Versteppung ganzer Regionen durch Überweidung und Raubbau, und ich weiß, wie schwer es ist, unter solchen Bedingungen zu überleben. Für die Mehrzahl der Menschen ist diese Erde bereits zur Hölle geworden.

"Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen." Diese Seligpreisung bekommt für mich eine unerwartete Aktualität. Die Ellenbogen-Typen, die Machtmenschen und knallharten Interessenvertreter können die Erde nur besitzen, indem sie sie zerstören. die Vision von dem Sanftmütigen, der immerhin mutig genug ist, das Kreuz auf sich zu nehmen! ist die Alternative.

Salve crux, spes unica.

 

7. Das Kreuz ist vor missbrauch nicht gefeit

Nun weiß ich wohl, dass auch das Kreuz oft missbraucht worden ist. Es wird billig gemacht, wenn es die Brust kirchlicher Würdenträger ziert oder in dem Ausschnitt schöner Mädchen baumelt. Es ist auf nachhaltige Weise missbraucht worden, als es von Konstantin als Siegeszeichen in die Schlacht getragen wurde. ( "Mit diesem Zeichen wirst du siegen") Mit der Wirkungsgeschichte dieser Perversion haben wir noch heute zu tun.

Gleichwohl, wenn wir uns auf die ursprüngliche Botschaft des Kreuzes besinnen, bekommen wir einen Eindruck von seiner selbstkritischen Kraft. Es hält fest: Wenn in dieser Welt gelitten werden muss - und es wird gelitten! - dann kann es nur dadurch weniger werden, dass es getragen wird. Wer Leid von sich auf andere abwälzt, macht es größer und schwerer. Heil und Heilung der Verhältnisse kann nur kommen, wenn einer des anderen Last trägt, anders ausgedrückt, wenn Menschen in ihrer Verwundbarkeit geachtet und geliebt werden.

Das Kreuz hält das Mysterium der Menschlichkeit wach. Wo es verachtet wird, verdirbt das Volk.

  1. Vortrag bei der Loccumer Berufsschuldirektorenkonferenz am 23.11.99
  2. R. J. Lifton: the Broken Connection. On Death and the Continuity of Life, Basic Books, New York, 1983, 3.
  3. In seinem monumentalen Werk "Die Judenfrage" hat Alex Bein ( DVA 1980 ) nachgewiesen, wie aus den mörderischen Bildern des Antisemitismus die mörderische Wirklichkeit der Nazis geworden ist. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hieß es, die Juden seien wie Bazillen und Trichinen. Und mit Trichinen wird nicht verhandelt, sondern sie werden beseitigt. Im Verlauf der antisemitischen Propaganda wurde aus dem vergleichenden "wie" ein identifizierendes "als". Die Juden Europas wurden als Trichinen und Bazillen "behandelt", will sagen auf moderne, gleichsam "wissenschaftliche" Weise beseitigt, d.h. vergast.
  4. Das bekannte Lied von Meyfart "Jerusalem,. die hochgebaute Stadt, wollt' Gott, ich wär in dir.." spiegelt beides wider. auch bei P. Gerhardt ist diese Ambivalenz deutlich zu vernehmen, wenn er z.B. dichtet: "Ich bin ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand. Der Himmel soll mir werden, dort ist mein Vaterland..."
  5. H. Nouwen ist ein katholischer theologe aus Holland, der in den USA und Canada gearbeitet hat und dort vor wenigen Jahren gestorben ist.

Text erschienen im Loccumer Pelikan 2/2000

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